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„In Deutschland läuft etwas schief“

Buchautor_innen
Björn Menzel, Jens Kiffmeier
Buchtitel
OhneMacht
Buchuntertitel
Zerfall der Gesellschaft – Kampf gegen Rechts

Jens Kiffmeier und Björn Menzel haben ein eindringliches Buch über Rechtsextremismus in Ostdeutschland und die blinden Flecken der demokratischen Öffentlichkeit geschrieben.

Mit knapp 50 Einwohner_innen ist Jamel ein kleiner, nachgerade winziger Ort in Nordwestmecklenburg. Dennoch sorgt das unscheinbare Dorf in der Gemeinde Gägelow seit 1992 regelmäßig für Aufsehen in den Medien. Damals hissten über einhundert Neonazis hier die Reichskriegsflagge, um gemeinsam den Geburtstag Adolf Hitlers zu feiern. Geändert hat sich seitdem wenig. Bei der Landtagswahl 2011 wählten in Gägelow 11,7 Prozent die NPD, und im braunen Jargon firmiert Jamel mittlerweile als ‚national befreite Zone‘. Damit ist ein Ort gemeint, der strukturell fast vollständig in der Hand Rechtsextremer ist, denen knapp zwei Drittel der örtlichen Immobilien gehören.

Über die Hälfte der Jamelner sind „entweder offen bekennende Rechtsextreme oder sympathisieren mit den Rechten“ (S. 7), schätzen Jens Kiffmeier und Björn Menzel. Die beiden Journalisten beschäftigen sich seit mehreren Jahren intensiv mit Rechtsextremismus in Deutschland. Einige ihrer Beobachtungen haben sie jetzt für eine Publikation im Schkeuditzer Verlag zusammengetragen: „OhneMacht. Zerfall der Gesellschaft. Kampf gegen Rechts“ lautet der Titel ihres Buches, und Jamel ist nur einer von vielen Orten, die die beiden studierten Politikwissenschaftler dafür besucht und anschaulich beschrieben haben: als eine verstörende Parallelwelt, die mitten in Deutschland Realität geworden ist, wo Zielscheiben für Schießübungen neben dem Spielplatz hängen und nachts Sieg-Heil-Rufe durch die Straßen schallen, während das Dorf tagsüber „einem Geisterort, voller Unrat, Müll und nationaler Symbole“ (S. 8) gleicht.

Ihr Buch wollen Kiffmeier und Menzel explizit nicht als „Sachbuch, das die Strategien der Neonazis untersucht und beleuchtet“ verstanden wissen, sondern als „ein Reportagenbuch, das den Blick für ein drängendes Problem schärfen und zum Nachdenken anregen will“ (S. 12). Dass das bitter nötig ist und „Rechtsextremismus auf der Einstellungsebene kein Randproblem, sondern eines der Mitte der Gesellschaft ist“ (Decker u.a. 2012, S. 8), zeigen immer wieder einschlägige Untersuchungen, etwa die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die belegen, dass „ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild bei jedem und jeder zehnten Deutschen“ (ebd., S. 15) vorliegt und der „manifeste und organisierte Rechtsextremismus eingebunden […] in ein breites Feld von latentem Rechtsextremismus“ (ebd.) ist.

Ortsbesichtigungen

Wie die Welt hinter diesen Zahlen aussieht, legen Kiffmeier und Menzel auf eindringliche Weise in drei Kapiteln dar, die sich gezielt den Schwerpunkten Gesellschaft, Politik und Medien widmen; ein Interview mit dem engagierten Jenaer Jugendpfarrer Lothar König bildet den Schlussteil des Buches. Neben Jamel tauchen in „OhneMacht“ weitere Ortschaften auf, die ebenfalls alle klein bis dörflich sind und ebenfalls allesamt im Osten Deutschlands liegen. Da ist zum Beispiel Koblentz, östlich von Neubrandenburg, wo die NPD bei der Landtagswahl 2011 Spitzenwerte erreichte; da ist Zahren in Mecklenburg-Vorpommern, wo Familienväter und Hausfrauen zusammen mit Rechtsextremen auf die Straße gehen, um gegen Sexualstraftäter zu demonstrieren. Oder da ist das sachsen-anhaltinische Stresow, wo jeder vierte der 139 Dorfbewohner rechts wählt und die NPD mittlerweile nicht einmal mehr Wahlplakate aufhängen muss.

„In Deutschland läuft etwas schief“ (S. 8), lautet der Befund der Autoren, die ebenso mit Anwohner_innen und Lokalpolitiker_innen vor Ort gesprochen als auch Landtags- und Bundestagsabgeordnete besucht haben. Sie zeigen die Hilflosigkeit von Ehrenamtlichen und Bürgermeister_innen, die resigniert haben und sich aus den Dörfern zurückziehen, aber auch engagierte Menschen wie das Ehepaar Lohmeyer, das trotz toter Ratten im Briefkasten alljährlich ein Musikfestival für mehr Toleranz in der „national befreiten Zone“ veranstaltet. Auch mit „Martin“, der jahrelang Dönerbuden abgefackelt und Menschen brutal zusammengeschlagen hat, haben sie gesprochen: „Wenn Sie einmal gehört haben, wie ein Genick bricht, dann werden Sie das nicht mehr los“ (S. 41).

Strategiewechsel in der rechten Szene

Heute leidet „Martin“ nach eigenen Angaben unter Depressionen und lebt selbst gefährlich, denn die Szene, aus der er kommt, gilt als besonders „heftig“ und „sehr elitär“ (S. 41). Nach 16 Jahren Neonazismus und rechter Gewalt ist er ausgestiegen. Nur deshalb kommt auch in „OhneMacht“ zu Wort, denn Kiffmeier und Menzel lassen in ihrem Buch ganz bewusst keine Rechtsextremen selbst Position beziehen – eine Entscheidung, die an die Grundfesten der demokratischen Meinungsfreiheit und des journalistischen Arbeitsethos rührt und in deutschen Redaktionen immer wieder kontrovers diskutiert wird. Man kann das gut finden oder nicht, nachvollziehbar ist es auf jeden Fall, denn die Gefahr, als Forum für geschulte rechtsextreme Rhetorik und Propaganda missbraucht zu werden, ist groß.

Rechtsextremismus heute – auch das macht „OhneMacht“ immer wieder deutlich – bewegt sich in durchorganisierten Strukturen, manipuliert strategisch die öffentliche Meinung und unterwandert so systematisch die Gesellschaft. Das Bild vom dauerbesoffenen und pöbelnden neonazistischen Hohlkopf muss man als Klischee zu den Akten legen. Stattdessen treten laut Kiffmeier und Menzel gerade auf dem „platte[n] Land“ (S. 38), wo sich die großen Parteien fast völlig zurückgezogen haben, die „netten Neonazis von nebenan“ (ebd.) in Erscheinung. Dass Rechtsextreme ihren Einfluss in den vergangenen Jahren steigern konnten, sei dabei einem „Strategiewechsel der rechten Szene“ (S. 44) geschuldet, der sich „leise, quasi durch die Hintertür“ (ebd.) vollzogen habe: durch die Organisation von Fahrdiensten für Senioren, von Hausaufgabenbetreuungen für Kinder und Jugendliche, von Ortsfesten und Disko-Abenden sowie durch die gezielte Unterwanderung von Fußballvereinen und Feuerwehr.

Die Rolle der Medien

Das alles ist erschreckend, doch fast genauso erschreckend ist, dass es sich hierbei keineswegs um Ausnahmen, sondern gesellschaftliche Realitäten handelt, die trotz der großen Skandal-Debatten um NSU und Zwickauer Terrorzelle öffentlich kaum wahrgenommen oder diskutiert werden. Das ist der erste Grund, warum ein Buch wie „OhneMacht“ heute so wichtig ist. Der zweite ist, dass Kiffmeier und Menzel nicht dabei stehenbleiben, gesellschaftliche Missstände zu dokumentieren, sondern auch deren mediale und politische Bedingtheiten ausloten, so dass der Blick aufs Kleine stets mit der Perspektive aufs große Ganze verbunden wird. Das gelingt zugegebenermaßen nicht immer ganz stolperfrei: Bei der Auswahl und Zusammenstellung der einzelnen Reportagen konnten Redundanzen nicht durchgängig vermieden werden. Auch ist man leicht irritiert, wenn man sich mitten in der Lektüre eines Buchs über Rechtsradikalismus plötzlich über den Wolken mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff wiederfindet, der nach einem Staatsbesuch in Prag während des Landeanflugs auf Berlin noch schnell bei den mitreisenden Journalisten vorbeischaut. Im Gesamtkonzept des Bandes ergeben solche Exkurse aber durchaus Sinn. Denn, und das ist der dritte und letzte Grund, der „OhneMacht“ so lesenswert macht, Kiffmeier und Menzel haben nicht nur ein gesellschaftskritisches, sondern auch ein medienkritisches Anliegen – zwei Aspekte, die für die Autoren unmittelbar zusammenhängen und argumentativ immer wieder enggeführt werden. Den Balanceakt von Nähe und Distanz zwischen Politikern und Journalisten stellen sie dabei ebenso kritisch zur Disposition wie die oftmals prekären Arbeitsbedingungen in heutigen Redaktionen, in denen die Ressourcen für tiefergehende Recherche und unabhängige Berichterstattung allzu oft fehlen, so dass sich die vorgebliche ‚vierte Macht‘ de facto zunehmend auf „die Rolle eines Hofberichterstatters“ (S. 130) beschränkt.

Mit knapp 150 Seiten mag „OhneMacht“ ein vergleichsweise schmales Buch sein. Dem hohen Informationswert, aus dem ein beachtlicher Rechercheaufwand spricht, steht das jedoch keineswegs entgegen. Kiffmeier und Menzel bemühen weder ein übertriebenes Pathos noch heben sie oberlehrerhaft den Zeigefinger. Stattdessen nehmen sie die Textsorte ‚Reportage‘ – mithin die „Königsdisziplin des Journalismus“ (Neuberger; Kapern, 2013 S. 50) – ernst und bereiten Daten und Fakten spannend, unprätentiös und prägnant auf. Man kann, und das ist alles andere als negativ gemeint, „OhneMacht“ an einem Nachmittag „einfach so herunter lesen“. Die große Stärke des kleinen Buches liegt aber darin, dass man es nach der Lektüre keineswegs „einfach so“ zur Seite legt. Denn was in „OhneMacht“ letztlich auf dem Prüfstand steht, ist die Demokratie selbst bzw. ihrer Tragfähigkeit als System – „ein System, das wir für das beste der Welt halten“ (S. 12), wie die Autoren klarstellen, auch wenn es ihnen mittlerweile so erscheint, „dass man das noch einmal extra betonen muss“ (ebd.).

Zusätzlich verwendete Literatur

Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Ralf Melzer. Dietz Verlag, Bonn. Online abrufbar als pdf hier. Neuberger, Christoph, Kapern, Peter (2013): Die Grundlagen des Journalismus. Springer VS, Wiesbaden.

Björn Menzel, Jens Kiffmeier 2013:
OhneMacht. Zerfall der Gesellschaft – Kampf gegen Rechts.
Schkeuditzer Buchverlag, Leipzig.
ISBN: 978-3-943931-02-0.
148 Seiten. 12,90 Euro.
Zitathinweis: Stephanie Bremerich: „In Deutschland läuft etwas schief“. Erschienen in: Radikale Soziale Arbeit? 33/ 2014, Antifa anders machen! 37/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/s/2TmKs. Abgerufen am: 30. 10. 2024 22:23.

Zum Buch
Björn Menzel, Jens Kiffmeier 2013:
OhneMacht. Zerfall der Gesellschaft – Kampf gegen Rechts.
Schkeuditzer Buchverlag, Leipzig.
ISBN: 978-3-943931-02-0.
148 Seiten. 12,90 Euro.