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Im Buckeln und Treten geeint

Buchautor_innen
Daniel Cohn-Bendit / Guy Verhofstadt
Buchtitel
Für Europa!
Buchuntertitel
Ein Manifest
Die Autoren führen unfreiwillig vor, warum der europäische Integrationsprozess in einer Sackgasse gelandet ist

Der frühere grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit und der frühere belgische Premierminister Guy Verhofstadt, heute Fraktionsvorsitzender der liberalen Fraktion im Europaparlament, gehen mit ihrem 2012 veröffentlichten „Für Europa!“ in die Vollen. Mitten in der schwierigsten politischen und wirtschaftlichen Krise der Europäischen Union fordern sie einen europäischen Föderalstaat – und damit die Übertragung der nationalen und völkerrechtlichen Souveränität aller EU-Mitgliedstaaten auf die Europäische Union.

Ihren Text nennen sie nicht einfach „Programmschrift“, sondern „Manifest“ – und beanspruchen damit längerfristige Gültigkeit. Es soll ja Manifeste geben, die noch mehr als 150 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung mit Gewinn gelesen werden können. Cohn-Bendits und Verhofstadts Werk wird dieses historische Glück nicht beschieden sein. Dazu ist dessen Argumentation zu simpel, die intellektuelle Erkenntnis nach dessen Lektüre selbst für Befürworter einer stärkeren Integration zu begrenzt.

Gut gegen Böse?

Im Kern sind es zwei Aussagen, die die beiden treffen. Ihr „Manifest“ besteht aus einer Art Dauerschleife, aus beständigen Wiederholungen dieser Aussagen in teils identischen, teils wechselnden Worten: Erstens, die Europäische Union müsse zu einem Bundesstaat weiterentwickelt werden. Europa könne nur in dieser Form der Globalisierung und der Konkurrenz durch andere Großstaaten (wie zum Beispiel USA, Russland, China, Indien, Brasilien) erfolgreich begegnen. Zweitens, dieser notwendige politische Schritt unterbleibe, weil Nationalisten aller politischen Couleur ihn verhinderten. Bürgerinnen und Bürger müssten endlich verstehen, dass Nationalismus nicht weiterführe. Auch in einem längeren Interview, das im Buch auf das eigentliche „Manifest“ folgt, findet sich diese Argumentation wieder.

Das damit gezeichnete Bild folgt einer simplen Schwarz-Weiß-Logik: Vernünftige Föderalisten versus irre Nationalisten, Befürworterinnen eines europäischen Bundesstaats versus dessen Gegnerinnen. Hier die Seite der „Guten“:

„Die Europäische Union ist ein großes Projekt, das sich Nationalismus und Konservatismus entgegenstellt, ein stolzer Erbe der besten europäischen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte: die Aufklärung, der Rechtsstaat, die Menschenrechte, die freie Wirtschaft, die politische Demokratie, die soziale Sicherheit“ (S. 34).

Dort die Seite der „Bösen“: Sowohl „rechts“ als auch „links“ ist es in Mode gekommen, die Souveränität des Nationalstaats anzubeten (S. 18).

Die große Gruppe der nationalistischen Bremser und Blockiererinnen differenzieren Cohn-Bendit und Verhofstadt nur unwesentlich aus. Sie zählen dazu Linke und gemäßigt Rechte genauso wie extrem Rechte – einschließlich aller Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Nationalistische Politik reicht in ihren Augen von vorsichtigen nationalstaatlichen Markt-Regulierungsversuchen über außenhandelspolitischen Protektionismus bis hin zu offenem Rassismus und Forderungen nach geschlossenen Grenzen. Und alldem stellen sie die Europäische Union als leuchtendes Gegenmodell gegenüber.

Alles Nationalismus?

Nun wird man ihrer Nationalismus-Kritik dort folgen können, wo sie Rassismus und Rechtspopulismus, Vorstellungen nationaler Abschottung und die Ablehnung von Einwanderung aufs Korn nimmt. Cohn-Bendit und Verhofstadt haben hierzu zwar nichts Neues zu sagen, aber eben auch nichts Falsches. Den Nationalismus-Begriff aber in einer Weise auszudehnen, dass er jeden Versuch selbst sinnvoller Politik als nationalistisch brandmarkt, sofern dieser im einzelstaatlichen Rahmen geschieht, ist naiv und politisch fatal.

Dies ist es nun allerdings nicht, weil europäische Nationalstaaten alleine heute tatsächlich noch nennenswerte Gegengewichte zur Macht des Kapitals sein könnten. Das können sie nicht, wie unter anderem das Scheitern von SYRIZA in Griechenland verdeutlicht haben mag. Naiv und politisch fatal ist er, weil in ihm eine hochgradig ideologische Vorstellung vom europäischen Integrationsprozess zum Ausdruck kommt: Europa ist hier nicht der Versuch, ein grundlegendes Gegenmodell zu Konkurrenz und Abschottung schlechthin zu bilden. Europa ist hier vielmehr der Versuch, Konkurrenz und Abschottung im Inneren als „bösen Nationalismus“ zu überwinden, um sie nach außen umso mehr zum Inhalt der eigenen „guten“ Politik zu machen.

Es ist dies eine letztlich neoliberale und apolitische Vorstellung von Europa. Neoliberal ist sie, weil sie nicht darauf zielt, Märkte umfassend zu regulieren, soziale Höchststandards für alle weltweit durchzusetzen und die schädliche Konkurrenz zwischen Wirtschaftsstandorten im globalen Maßstab durch wirtschaftspolitische Kooperation zu ersetzen. Apolitisch ist sie, weil sie die Augen verschließt vor Interessengegensätzen: Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit interessiert sie nicht, umso mehr aber der angebliche Konflikt zwischen EU-Europa und dem Rest der Welt. Ein Europa, das Kapital und Arbeit vereint ins Feld führt gegen die Unbill von außerhalb des Kontinents.

Feindbilder im Rest der Welt, denen sich ein geeintes Europa entgegenstellen müsse, beschreiben Cohn-Bendit und Verhofstadt folgerichtig gleich mehrfach. Nur drei Beispiele

„Mehr Europa ist […] notwendig, […] um, koste es, was es wolle, unsere Position in der Welt sicherzustellen“ (S. 18).

„während wir unsere Interessen gleichzeitig mit immer mehr Nachdruck gegen wirtschaftliche und politische Großmächte vom Kaliber Chinas, Indiens, Brasiliens, Russlands oder der Vereinigten Staaten verteidigen müssen“ (S. 9).

„Innerhalb von nur fünfundzwanzig Jahren wird kein einziges europäisches Land mehr zu den Mächten zählen, die das Weltgeschehen bestimmen. Der Klub der reichsten Länder, die sogenannten G 8, wird dann aus den Vereinigten Staaten, China, Indien, Japan, Brasilien, Russland, Mexiko und Indonesien bestehen. Nicht ein europäisches Land, inklusive Deutschland, wird daran teilnehmen. Allerdings ist sowohl heute als auch morgen ein starkes und vereinigtes Europa der mächtigste und wohlhabendste Kontinent der Welt; reicher als Amerika, mächtiger als alle neuen Imperien zusammen“ (S. 14).

Weiter so?

Europa als einiges Bollwerk in globalisierter Konkurrenz – diese Vorstellung ist mehr als kompatibel mit dem europäischen Integrationsprozess, wie er sich seit Jahrzehnten vollzieht. So sehr Cohn-Bendit und Verhofstadt auch über die nationalen Regierungen schimpfen: Letztlich folgen sie alle der gleichen Vorstellung von Europa. Mit dem einzigen Unterschied vielleicht, dass es einfacher ist, ein neoliberales und apolitisches Europa in einem „Manifest“ einzufordern, als es in praktische Politik umzusetzen.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten folgen einer solchen Vorstellung von Europa, wenn sie TTIP und andere Freihandelsverträge durchsetzen wollen – unter anderem mit dem Argument, man müsse sich so gegen die drohende ökonomische Macht aus China wappnen. Sie folgen einer solchen Vorstellung von Europa, wenn der Kontinent sich an seinen Grenzen gegen Geflüchtete abzuschotten versucht. Sie folgen einer solchen Vorstellung von Europa, wenn eine striktere Regulierung von Finanz- und anderen Märkten wieder und wieder am Widerstand des europäischen Kapitals scheitert, dem man keine „Wettbewerbsnachteile“ gegenüber asiatischem oder amerikanischem Kapital zumuten mag. Sie folgen einer solchen Vorstellung von Europa, wenn in Südeuropa Lohnsenkungen und Sozialabbau als „Strukturreformen“ durchgesetzt werden, um diese Länder wieder global „wettbewerbsfähig“ zu machen. Sie folgen einer solchen Vorstellung, wenn europäische Vereinbarungen immer mehr Mechanismen vorsehen, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ der EU-Staaten zu „stärken“. Sie folgen einer solchen Vorstellung von Europa, wenn der deutsche Exportwahn zum Vorbild für die gesamte Eurozone wird.

Und so überrascht es nicht, dass auch Cohn-Bendit und Verhofstadt mehrfach „Reformen“ und Haushalts-„Disziplin“ einfordern. Sie ergänzen dies zwar um die Forderung nach ergänzender Wachstumsförderung und um eine vorsichtige Kritik an übermäßigen Ausgabenkürzungen. Aber ähnlich wie entsprechende Forderungen der europäischen Sozialdemokratie bleiben diese schmückendes Beiwerk, nette Rhetorik am Rande einer ansonsten auf neoliberale Austerität und globale Konkurrenz zielenden Politik.

Der europäische Integrationsprozess ist in einer Sackgasse, weil sein neoliberaler und apolitischer Charakter zunehmend die Integration selbst untergräbt. Vermeintliche Alternativlosigkeit dieser Politik, politisches Versagen und Blindheit gegenüber konkreten Interessen konkreter Menschen führen zu inneren Verwerfungen – zu sozialer Verelendung, politischer Uneinigkeit, nationalen Egoismen, einem politischen Rechtsruck und wachsender Europaskepsis. Cohn-Bendit und Verhofstadt haben dem nichts anderes entgegenzusetzen als ein radikales „Weiter so“. Wenn das die Eliten sind, die diesen Kontinent aus der Misere herausführen sollen – dann Gute Nacht!

Daniel Cohn-Bendit / Guy Verhofstadt 2012:
Für Europa! Ein Manifest.
Carl Hanser Verlag, München.
ISBN: 9783446241879.
140 Seiten. 8,00 Euro.
Zitathinweis: Patrick Schreiner: Im Buckeln und Treten geeint. Erschienen in: Linke EU- und Europakritik. 39/ 2016. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1323. Abgerufen am: 28. 03. 2024 15:13.

Zum Buch
Daniel Cohn-Bendit / Guy Verhofstadt 2012:
Für Europa! Ein Manifest.
Carl Hanser Verlag, München.
ISBN: 9783446241879.
140 Seiten. 8,00 Euro.