Hauptsache Holzzahnbürste
- Buchautor_innen
- Andreas Reckwitz
- Buchtitel
- Die Gesellschaft der Singularitäten
- Buchuntertitel
- Zum Strukturwandel der Moderne
Warum die Befindlichkeiten der akademischen Mittelschicht von gesellschaftlichen Übeln ablenken.
Andreas Reckwitz’ „Die Gesellschaft der Singularitäten” erhielt 2017 den bayerischen Buchpreis und war 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Reckwitz, so scheint es, hat sich nicht recht entscheiden können, ob er ein wissenschaftliches Buch schreiben oder ein populärwissenschaftliches Werk zur Debatte um die neue Klassengesellschaft und -politik beitragen soll. Herausgekommen ist ein Buch, das eine ambivalente Faszination ausstrahlt.
Auf insgesamt 480 Seiten geht Reckwitz der Frage nach, ob sich in der Spätmoderne eine neue Klassengesellschaft herausgebildet hat, die sich nicht nur im materiellen Sinne konstituiert, sondern auch im kulturellen. In Abgrenzung zum industriellen Kapitalismus der Moderne interessiert sich Reckwitz für die Frage nach der Klassengesellschaft im „Kulturkapitalismus“. So sind es laut Reckwitz kulturelle Klassen, die sich über die Praktiken der Singularisierung und Kulturalisierung herausgebildet haben. Die Singularisierung, so Reckwitz, sei im Kern nichts Geringeres als „das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit“ (S. 9). Ein Streben, das nicht nur ein „subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“ (ebd.). Essen, Wohnen, Reisen, Körper und Beziehungen, die Lebensführung per se wird am Maßstab des Besonderen, des Singulären ausgerichtet und kuratiert, für die_den Eine_n erreichbar und unerreichbar zugleich. Gesellschaftliche Probleme und Ausschlüsse werden nicht aufgelöst, sondern, wie Reckwitz’ wiederkehrende Metapher des Paternosters aufzeigt, in einem Kreislauf verstärkt, transformiert und verstetigt.
Mit dem Bild des Paternosters nimmt Reckwitz die parallele Entwicklung eines „kulturellen Auftstiegs und eines kulturellen Abstiegs der jeweiligen sozialen Gruppen“ (S. 283) in den Blick. Eben dieser Paternoster-Effekt führe zur Herausbildung einer neuen akademischen Mittelklasse, die ihren Wert nicht mehr nur an ihrer materiellen Ausstattung bemisst, sondern vielmehr über die Ästhetisierung und Ethisierung ihres Lebens. Die gezielt ethisch ausgerichteten Praktiken der neuen akademischen Mittelklasse sind durchaus an materielle Bedingungen geknüpft, schließlich hat auch der Alles-Bio-Regional-Glutenfrei-Raw-No-Carb-Vegan-Lifestyle der neuen akademischen Mittelklasse seinen Preis. Das eigentliche Ziel der neuen akademischen Mittelklasse besteht jedoch darin, das Besondere, das Singuläre zu erreichen und sich dabei selbst zu verwirklichen. Daraus entsteht das Ideal des gesundheitsorientierten und achtsamen Selbstverwirklungssubjekts der Spätmoderne, das – wieder ganz im Sinne des Paternoster-Effekts – die Unterklasse als ethisch wertlose Subjekte aus der Teilnahme an der Gesellschaft der Singularitäten ausschließt. Ein Ausschluss, den die „Abgehängten“ laut Reckwitz in einem politischen, religiösen oder kulturellen Fundamentalismus hoffen umkehren, wenn nicht gar auflösen zu können.
„Wir gewinnen erst jetzt allmählich ein Gespür dafür, dass die Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen in der Spätmoderne nicht das Ende, sondern den Anfang einer neuen Klassengesellschaft markieren.“ (S. 276)
So weit so gut, könnte man meinen. Vieles von dem, was Reckwitz schreibt, trägt jedoch einen unangenehm selbstreferentiellen Impetus in sich. Die „Gesellschaft der Singularitäten“ setzt hier fort, was Reckwitz’ frühere Monographie „Die Erfindung der Kreativität“ (kritisch-lesen.de #42) bereits 2012 begann. Antworten auf die Fragen, die er schon damals nicht beantworten konnte, bleibt Reckwitz auch diesmal schuldig. Allen voran: Worin besteht eigentlich die materielle Kehrseite der Praktiken der „Singularisierung“ und „Kulturalisierung“? Ohne substantielle Antworten auf diese Fragen bleibt Reckwitz’ Buch leider hochgradig selbstreferentiell. Dies zeigt sich vor allem in seiner übermäßigen Bezugnahme auf und Rezeption von mehrheitlich weißen und patriarchalen Theorien der französischen, deutschen, amerikanischen und britischen Wissenschaft. Ein Vorgehen mit Folgen: Herausgekommen ist eine problematische politische Analyse der Gegenwart.
Von der Rationalisierung zur Kulturalisierung
Die grundsätzliche Entwicklung, die Reckwitz in den ersten zwei Dritteln seiner Monographie nachzeichnet, ist die einer Transformation von der Logik des „Allgemeinen“ zu einer Logik der „Singularitäten“. Es ist eine Transformation des kapitalistischen Systems, in dem das Kapital nicht mehr ausschließlich zweckorientiert und funktional, sondern zusätzlich ethisierend, moralisierend und ästhetisierend ausgerichtet ist. Dies zeigt Reckwitz vor allem anhand des Funktionierens der Kreativwirtschaft. Reckwitz zufolge wird diese im Zusammenspiel mit der Digitalisierung zur Produzent_in der Gesellschaft der Singularitäten. Eine Wandlung, die er entlang verschiedener sozialer und kultureller Praktiken deutlich macht. Ein Beispiel, das häufig angeführt wird, ist das Kuratieren des Besonderen selbst über Plattformen wie Facebook oder Instragram – laut Reckwitz eine der zentralen Praktiken der Gesellschaft der Singularitäten. Die Transformation von einem industriellen zu einem kulturellen Kapitalismus scheint perfekt.
Die Auseinandersetzung mit der Logik des Allgemeinen beginnt Reckwitz mit der Einführung des Konzepts des „doing generality“. Die Praxis der Generalisierung der Welt hat ihren Kern in der klassischen Moderne und drängt auf einer umfassenden Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung „sämtlicher Einheiten des Sozialen“ (S. 28). Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Stadtplanungspolitik des 20. Jahrhunderts, die darauf basierte, dass Arbeits- und Wohn- und Freizeitorte planerisch einerseits voneinander getrennt und andererseits infrastrukturell effizient, rational und pragmatisch miteinander verbunden wurden. Ein schneller Austausch von Waren und Menschen wurde forciert und umgesetzt. In diesem Punkt geht Reckwitz noch mit Marx, Luhmann und Weber mit, grenzt sich dann aber dahingehend von ihnen ab, dass die Moderne nicht nur als Rationalisierungsprozess der Arbeitswelt und des Industriellen zu verstehen sei, sondern vielmehr als eine formalistische Rationalisierung und Verallgemeinerung von Objekten, Subjekten, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektiven. Die Praktiken des Bewertens, Hervorbringens, Beobachtens und Aneignens ebendieser Objekte folgten im industriellen Kapitalismus der Moderne rationalistischen und vornehmlich zweckgeleiteten Mustern. Dagegen sind diese Praktiken in der Spätmoderne vornehmlich an der neuen akademischen Mittelschicht und der Kreativökonomie, an Kultur und Sinn ausgerichtet. Oder anders ausgedrückt: Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive haben nicht mehr ausschließlich einen funktionalistischen Zweck und Wert, sondern bekommen über die Praktiken der Singularisierung und Kulturalisierung einen sinnlichen, ästhetischen und ethischen Wert zugeschrieben. Plakativ gesprochen: Eine Plastikzahnbürste von Oral-B hat in erster Linie einen funktionalistischen Zweck und Wert, wohingegen eine Holzzahnbürste aus Bambus einen ästhetischen, ethischen Zweck und Wert hat. Sprich: Konsumenten von beispielsweise bio-regionalem Essen, Fairtrade-Kleidung oder Holzzahnbürsten können sich einbilden, ihr Konsum habe nicht mehr nur einen Zweck, sondern auch einen Sinn. Was sich hier abzeichnet, ist eine konsumkritische Kapitalismuskritik, die die kapitalistische Produktion eher vermag zu potenzieren und weiter auszudifferenzieren als sie aufzulösen.
Reckwitz leistet mit dem minutiösen Herausarbeiten und Darstellen von komplex miteinander verwobenen strukturellen Transformationsprozessen von Ökonomie und Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Debatte um gegenwärtige gesellschaftliche und ökonomische Schieflagen. Entwicklungen, die sich im radikalen Widerspruch zueinander befinden und in den vergangenen zehn Jahren etliche „Krisen“ – wie zum Beispiel der Finanzkrise von 2008 – hervorgerufen haben. Indem er einen kulturtheoretischen Wertbegriff anlegt und diesen damit praxeologisiert, plädiert er zugleich für eine Ergänzung der Gebrauchs- und Tauschwertanalyse um die der kulturellen/ästhetischen Wertanalyse. Damit wird ein Fokus auf die Praktiken des Bewertens von beispielsweise Objekten und ihren Zirkulationssphären gelegt. Objekte, Dinge, Menschen, Orte, Ereignisse und Kollektive bekommen in dieser Logik einen Wert zugeschrieben, der – wie oben im Zahnbürstenbeispiel – weder von Marx’ Gebrauchs- noch vom Tauschwert abgeleitet wird. In der Gesellschaft der Singularitäten erhalten zum Beispiel Objekte ihren Eigenwert über die Ethisierung und Ästhetisierung. In dieser Logik wird Gesellschaft und ihre Hervorbringung als ein sich stetig im konflikthaften Spannungsverhältnis von Rationalisierung und Kulturalisierung befindendes Konstrukt gedacht, das seinen Wert aus komplexen und vielfältigen Austauschdynamiken erhält. Während die Herleitung dieser These analytisch versiert formuliert ist und in der Tat hilfreiche Punkte aufmacht, ist die These in politischer Hinsicht fatal. Dies ist der Punkt, an dem die anfangs erwähnte, radikale Ablehnung dem Buch gegenüber einsetzt.
Doch nur eine Scheinlösung?
Das abschließende Kapitel des Buches bietet ein mögliches Lösungsszenario für die politischen und soziologischen Herausforderungen und die Krise des Allgemeinen, die die Gesellschaft der Singularitäten hervorgerufen hat. Dabei setzt sich die Krise des Allgemeinen aus einem Dreigespann von Krisen zusammen: erstens eine Krise der Anerkennung, die vor allem die „Abgehängten“ durch den Wertverlust ihrer Arbeitskraft betrifft, da ihnen durch die Ausrichtung der Bewertung entlang des besonderen der Sinn ihrer Arbeit abgesprochen wird; zweitens die Krise der Selbstverwirklichung, unter der vor allem die neue akademische Mittelklasse zu leiden scheint; schließlich drittens eine Krise des Politischen, die „die politische Öffentlichkeit und ihre kulturellen Grundlagen als auch den Staat betrifft“ (S. 434).
Dieser Beobachtung schiebt Reckwitz die Frage „nach der Rekonstruktion des Allgemeinen“ (S. 441) hinterher und schlägt als Lösung ein „politisches doing universality“ (S. 441) vor, das er sich als einen regulativen Liberalismus vorstellt: ein regulativer Liberalismus, der die stetige Arbeit an der Universalität reguliert und kontrolliert, indem er „das Soziale mit Blick auf die Fragen sozialer Ungleichheit sowie des Arbeitsmarktes und das Kulturelle mit Blick auf die Sicherung allgemeiner kultureller Güter und Normen“ (S. 441) reguliert. Es bedarf zur Lösung der von Reckwitz diagnostizierten Krisen allgemein gültige Normen und kulturelle Güter. Was aber der konkrete Inhalt dieser allgemein gültigen Normen und kulturellen Güter sein soll, findet auf 480 Seiten keinen Platz. Einer der Brennpunkte der politischen Debatte um die Umsetzung eines regulativen Liberalismus scheint Reckwitz in den kulturessenzialistischen Tendenzen der Debatten rund um „ethnische“, religiöse „Parallelkulturen“ oder der Arbeiter_innenklasse (ebd.) zu finden. Diese Gruppen richten sich gegen „das Zentrum, das heißt gegen jene ökonomischen, technologischen, sozialstrukturellen und kulturellen Strukturen, die Thema dieses Buches“ sind (S. 419). Sprich: Sie richten sich in der Reckwitz’schen Logik gegen die „westlichen“ und „modernen Errungenschaften“ der Allgemeinheit, auf die sich „der Westen“ im Zuge des Kolonialismus, der Herausbildung des modernen Nationalstaates und der Universalisierung des Kapitals geeinigt hat.
Während diese Bewegungen trotz ihrer vorhandenen problematischen Tendenzen aus dekolonialer Perspektive bejaht werden, verneint Reckwitz sie und ordnet sie prinzipiell als die Problemquellen ein. Leider schert er damit emanzipatorische und progressive Angriffe auf veraltete repressive Strukturen über einen Kamm mit regressiven, rechtsradikalen und konservativen Angriffen auf die marginalen „Erfolge“ von vergangenen und gegenwärtigen emanzipatorischen und progressiven Projekten.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
In der Einleitung zum Buch kündigt Reckwitz an, es sich nicht „auf dem Hochsitz des distanzierten Beobachters“ (S. 23) bequem machen zu wollen. Vielmehr will er eine kritische Analytik der Gegenwart entwerfen.
„Kritische Analytik heißt jedoch für mich nicht normative Theorie. Es bedeutet vielmehr, eine Sensibilität für die Konfiguration des Sozialen und ihre Geschichtlichkeit zu entwickeln, dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen, die den Teilnehmern möglicherweise nur schemenhaft bewusst sind“ (S. 23).
Ein löblicher Anspruch, den er nur in geringen Teilen einzuhalten vermag.
Eine kritische Analytik der Gegenwart ohne normative Theorie beginnt schon bei der Rezeption von Theorie und die ist bei Reckwitz hochgradig selbstreferentiell in dem Sinne, dass wichtige post-, dekoloniale und feministische Denker_innen, die sich kritisch und differenziert mit den Fragen von Kulturessentialismus, Identitätspolitik, Kapitalismus und Klassenpolitik auseinandergesetzt haben, in seinen Herleitungen ignoriert werden. Ja, Kulturessentialismen und Kulturnationalismen und die darauf aufbauende Identitätspolitik einer linken und linksradikalen Politik muss aus einer kapitalismus- und ideologiekritischen Perspektive herausgefordert und auf ihren neoliberalen Inhalt, Argumentation und Umsetzung hin überprüft werden. Dies darf aber in keinem Fall in einer Analyse enden, die die Pathologie des 21. Jahrhunderts als reinen „Kulturkampf“ inszeniert, der im Kern aus Bewertungskämpfen besteht, die mit ihrem materiellen Unterbau nicht mehr viel zu tun haben wollen. Reckwitz reproduziert genau das, was er eigentlich problematisieren und kritisch beleuchten will: eine essentialistische Perspektive auf Universalitäten. In dieser Hinsicht reiht sich Reckwitz theoretisch und politisch, trotz seiner rudimentären und subtilen Kritik an dem Kulturbegriff eines Samuel P. Huntington, in eben diese Theorieproduktion ein. Dies ist insofern problematisch, als dass Kulturtheorien, die sich in diese Theorieproduktion einordnen lassen, essentialistisch und rassistisch von homogenen, geschlossenen, stabilen und sich per se konflikthaft gegenüberstehenden „Kulturen“ ausgehen. Hierbei wird die westliche, aufgeklärte, moderne „Kultur“ tendenziell als die höherwertige betrachtet, die es gilt anzustreben. Nicht-westliche Kulturen – was auch immer das sein soll – werden als eine Bedrohung für eben die „Errungenschaften“ der kolonialen „Zivilisationsprojekte“ beziehungsweise dem Projekt der Moderne verhandelt.
Eine Auseinandersetzung mit kritischen feministischen, queer-feministischen und postkolonialen Perspektiven hätte nicht nur zu einer analytisch differenzierteren Perspektive auf die Gesellschaft der Singularitäten geführt, die etwa die notwendige Politik eines strategischen Essentialismus (Spivak 1988) mitdenkt. Ebenso hätte eine solche Auseinandersetzung durchaus das Potenzial gehabt, zu den Debatten um eine neue Klassengesellschaft und Klassenpolitik beizutragen. Eine Analyse, die die Ursache der Konflikte der Gegenwart darin sieht, dass die „Abgehängten“ der neuen akademischen Mittelklasse aufbegehren, ist dahingehend falsch, als dass es eben nicht in erster Linie Bewertungs- und Kulturkämpfe sind, die in der Gegenwart stattfinden, sondern Verteilungskämpfe. Verteilungskämpfe, die innerhalb der Differenzmaschine Kapitalismus (kritisch-lesen.de #46) oftmals zu reinen „Kulturkämpfen“ umgedeutet werden – eine schon lange in Betrieb genommene „Überlebensstrategie“ des Kapitalismus. Dies gilt es auf der Suche nach Lösungen für den Paternoster-Effekt mitzudenken! Es reicht schlichtweg nicht, den sichtbar gewordenen und massiven Rechtsradikalismus Deutschlands und Europas als Problem der Unterklasse zu betrachten, das durch einen regulativen Liberalismus korrigiert werden könnte.
Zusätzlich verwendete Literatur
Spivak, Gayatri (1988): Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson und Lawrence Grossberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture. University of Illinois Press, Chicago.
Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 3518754289.
480 Seiten. 28,00 Euro.