Gebaute Dystopie
- Buchautor_innen
- Bettina Greiner / Alan Kramer (Hg.)
- Buchtitel
- Welt der Lager
- Buchuntertitel
- Zur „Erfolgsgeschichte" einer Institution
Das Lager als Ort erlaubt uns tiefe Einblicke in Gesellschaftsbilder, in die sozialen Beziehungen aber auch in Formen von Widerstand.
Architektur entwirft nicht nur Utopien einer besseren Gesellschaft. Auch Orte von Gewalt, Zwang und Repression entspringen der Feder von Architekt*Innen. Sinnbild einer baulichen Dystopie ist das Lager. Aber warum gibt es Lager überhaupt? Wie kann es sein, dass diese Orte weltweit entstanden und immer noch entstehen?
Das Buch „Welt der Lager. Zur ‚Erfolgsgeschichte‘ einer Institution“ greift diese Fragen auf. Herausgegeben von Bettina Greiner und Alan Kramer fasst der Sammelband die Ergebnisse einer Tagung von 2011 in Berlin zusammen. Wie im Titel bereits anklingt, nutzen die Autor*Innen eine historische Perspektive auf Lager, sprechen gar von einer „Erfolgsgeschichte“. Der Begriff soll dem Argument dienen, dass Lager über Jahrzehnte hinweg immer wieder gebaut wurden und auf allen Teilen der Welt aufkommen.
Schlägt man das Buch auf, so sieht man erst einmal Bilder von unterschiedlichen Lagern: Kriegsgefangenenlager in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Lager im ersten Weltkrieg, Konzentrationslager der NS-Zeit, dem Gulag in der Sowjetunion bis hin zu dem US-Gefangenenlager Guantanamo. Dieser Einstieg in das Buch verdeutlicht das zentrale Argument einer globalen Lagergeschichte. Die Beiträge greifen dann diese und weitere historische Fallbeispiele auf. Allerdings sind die Kapitel mitunter sehr akademisch geprägt und gehen öfters auf Debatten in der Geschichtswissenschaft ein, die wohl nur die Kenner*Innen begeistern können. So blickt ein Kapitel auf den kubanischen Unabhängigkeitskrieg im späten 19. Jahrhundert. Die Analyse von Zwangsumsiedlungen und Lager wird dabei vor allem dafür genutzt, bestehende Forschungen zu Kuba zu kritisieren und alternative Sichtweisen aufzuzeigen. Daher empfiehlt sich das Buch vor allem einem historisch-interessierten, akademischen Publikum.
Lager als Ausnahme in Demokratien?
Durch die Beispiele wird die Breite und Unterschiedlichkeit der „Welt der Lager“ erkundet. Schaut man sich jedoch die Auswahl der Beispiele an, wird ein Schwerpunkt auf Kriegsgefangenen- sowie Konzentrationslager sichtbar. Auch wenn das Buch in einem Kapitel auf das US-Lager in Guantanamo eingeht, bleibt der Fokus vor allem auf faschistische Regime in Italien und Spanien, auf das nationalsozialistische Deutschland, auf die Sowjetunion und auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gerichtet. Dadurch stößt das Buch leider an Grenzen und bleibt hinter dem eigenen Anspruch zurück: Obwohl anfangs argumentiert wird, dass sich Lager durch Zeit und Raum ziehen und dass Lager in allen politischen Systemen vorkommen, schließt die Einleitung mit dem Fazit: Lager sind „feste Bestandteile“ von Diktaturen, wohingegen Lager in demokratischen Staaten „kontingente Ausnahmeerscheinungen“ sind (S. 42).
Ist das wirklich so? Überraschenderweise findet sich kein Beitrag, der tiefer auf Migration eingeht – wo es doch an aktuellen Bezügen nicht fehlt und auch in der Migrationsforschung Lager immer wieder diskutiert werden. Dieser Blick wäre wünschenswert gewesen. Denn würde man sich etwa die Politik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten in Bezug auf Geflüchtete anschauen, scheint die Aussage zweifelhaft, dass Lager in demokratischen Staaten nur „Ausnahmeerscheinungen“ seien. Ein Fokus auf Migration und Lager könnte daher Lücken füllen, die im Buch bislang offen bleiben.
Orte der Macht. Aber wo ist der Kapitalismus?
Warum tauchen Lager weltweit immer wieder auf? Das Buch würde antworten: Lager sind politische Instrumente, die in der Geschichte immer wieder eingesetzt wurden. Sie sind Orte von staatlicher Macht, Zwang und Ausschluss. Das Buch versucht also zu zeigen, dass es eine gemeinsame Klammer gibt, eine Gemeinsamkeit zwischen unterschiedlichen Lagern. Aber ist das alles? Fasst dieser Fokus die gesamte historische und globale Breite von Lagern? Gibt es vielleicht noch weitere Klammern? Was ist mit Kapitalismus? Auf diese Frage liefert das Buch leider keine tiefergehende Antwort. An einigen Stellen wird zwar auf Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft eingegangen, allerdings meist in Bezug auf Repression. Ein Beitrag diskutiert, ob Zwangsarbeit im Gulag auch als ökonomische Ressource diente, etwa zum Aufbau von Infrastruktur. Jedoch liegt der Schwerpunkt des Kapitels auf der Frage, inwieweit der Gulag Teil sowjetischer Herrschaft und mit dem politischen System verwoben war. Nicht nur in diesem Beispiel, sondern auch insgesamt liegt der Fokus des Buchs auf der politischen Macht.
Um den Blick zu weiten, lohnt sich erneut ein Blick auf Migration: In Beiträgen zu Migration und Lager wird der Bezug zum Kapitalismus immer wieder herausgestellt, vor allem mit einem Blick auf Arbeitskraft. Etwa wurden Lager in Westdeutschland genutzt, um Arbeitsmigration in den 60er Jahren zu regulieren. Darüber hinaus gibt es Studien, die zeigen, dass Lager nicht nur Orte von Ausschluss sind, sondern Lager Migrant*innen auch in bestimmten Weisen filtern. So geht es darum, Menschen für den Kapitalismus verwertbar zu machen und sie zu Arbeiter*Innen zu disziplinieren. Dieses Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion, von staatlicher Macht und Kapitalismus zu beleuchten, ist wichtig. Wie ist eine globale Lagergeschichte also mit dem Kapitalismus verwoben? Im Buch bleibt diese Frage leider offen.
Und was ist mit Widerstand?
Das Buch kann daher nur ein Anfang sein, die Komplexität und Breite der „Welt der Lager“ zu verstehen. Zu dieser Breite gehört ebenfalls eine Auseinandersetzung mit den Menschen, die in Lagern leben. Auch hier zeigt sich eine Lücke im Sammelband: Als Orte von Ausschluss und Macht werden Bewohner*Innen der Lager meist als reine Empfänger*Innen von Repression und Zwang dargestellt. Beiträge aus der Migrationsforschung haben jedoch gezeigt, dass Menschen innerhalb von Lagerstrukturen in der Lage sind, bestimmte Strukturen auch anzuzweifeln und herauszufordern – sei es im Alltag aber auch durch organisierten Protest. Und eben dieser Zusatz ist wichtig, damit wir Lager nicht als totale politische Institutionen verstehen. Vielmehr müssen wir den historischen Blick auch nutzen, um Momente von Widerstand und Handlungsmacht auszuloten. Ansonsten läuft man Gefahr, dass Menschen als Objekte, als passive Opfer, dargestellt werden. Dies würde ein Bild von Lagern verstärken, das die Erbauer*innen von Lagern eben genauso schaffen wollten – ein Bild totaler Kontrolle, ohne Widerstand und Gegenmacht.
Ein Austausch mit aktuellen Debatten und Entwicklungen, etwa in Bezug auf Migration, wäre für das Buch von großem Wert gewesen. Denn die gebaute Dystopie des Lagers ist mehr als ein Ort von Repression und Ausschluss: Lager erlauben uns tiefe Einblicke in Gesellschaftsbilder, in die sozialen Beziehungen im Kapitalismus aber auch in Formen von Politik und Widerstand in diesem System. Das Buch öffnet diesen Einblick nur begrenzt. Es bleibt insgesamt hinter dem eigenen Anspruch zurück, Lager in ihrer tatsächlichen Breite zu fassen.
Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschichte" einer Institution.
Verlag Hamburger Edition, Hamburg.
ISBN: 978-3-86854-267-7.
359 Seiten. 32,00 Euro.