Freiheit gibt es nicht nur in Träumen!
- Buchautor_innen
- Toni Morrison, Slade Morrison
- Buchtitel
- Die Kinderkiste
„Die Kinderkiste“: Ein Buch für alle Menschen über das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen und über Vorstellungen von Freiheit und Erziehung.
Slade und Toni Morrison schufen mit dem Buch „Die Kinderkiste“ eine Geschichte in Form eines Gedichts. Illustriert und unterstrichen von Giselle Potters. Durch die Reim- und Strophenform, den Rhythmus, die sich wiederholenden Sätze, Struktur und Motive und die Illustrationen ist „Die Kinderkiste“ sehr eindrücklich. Das Buch wirkt durch das Format und die farbigen Illustrationen auf den ersten Blick wie ein Bilderbuch für Kinder. Wir denken, es ist ein Buch für Menschen jeden Alters, nicht ausschließlich für Kinder.
„Sonst bist Du nicht zu ertragen!“ (S. 13, 23, 34)
In ihrem Buch nehmen Slade und Toni Morrison Erziehungsvorstellungen im europäischen/US-amerikanischen Raum unserer Zeit ins Visier. Sie versinnbildlichen diese in Form der Kiste, in die unangepasste Kinder eingesperrt werden. Für die Vorstellung von Erwachsenen, wie Kinder zu sein haben, was sich gehört und dass Kinder sich dem anpassen sollen, finden sie klangvolle Verse und plastische Bilder, ebenso für die Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse von Kindern. Das Buch bietet viel Anlass zum Fühlen und Nachdenken.
„Das Zaumzeug nahm sie dem Pferd.“ (S. 33)
Wir begegnen in dem Buch drei Kindern. Liza Sue kommt vom Land. Mickey aus dem 17. Stock eines Hochhauses. Patty lebt in einem Haus, in dem die Tür nie versperrt ist. Es sind drei Kinder voller Lust am Leben. Sie lachen und kichern, rennen und singen, sind fröhlich und von Lärm entzückt, spielen und toben. Sie denken und handeln selbstständig und lassen sich nicht immer und überall von den Konventionen der Erwachsenen einschränken. Damit ecken sie in der Welt der Erwachsenen an, sie fallen auf, machen „die Erwachsenen verrückt“ (S. 11, 21, 33). Weil die Erwachsenen „nur ihr Bestes wollen“ und „nicht ein und nicht aus“ wussten (S. 13, 23, 34) werden Patty, Mickey und Liza Sue in die Kiste gesperrt.
„Saß still und senkte den Blick, um den Blicken zu entgehen.“ (S. 15, 26, 36)
Die Worte und Blicke der Erwachsenen machen aus fröhlichen, aktiven Kindern Kinder, die traurig, gelangweilt und zur Passivität verurteilt sind. Die Illustrationen bringen dies deutlich zum Ausdruck. Während die Erwachsenen in bester Absicht behaupten, dass die Kinder ihre Grenzen nicht kennen würden, sich nicht an Regeln halten könnten und letztlich mit der Freiheit nicht klar kämen und deshalb weggesperrt werden müssten, wird deutlich, dass die Kinder verantwortungsbewusst sind und sich bemühen, in mancher Hinsicht die Erwartungen der Erwachsenen zu erfüllen. Sie benennen klar, was sie bewegt und was sie hinterfragen: „Warum kann ich Kind nicht tun, was ich will, warum darf ich Freiheit nur träumen?“ (S. 26) Sie stellen klar, was die Erwachsen tun: sie fortpacken, einsperren und die Freiheit aus ihren Träumen stehlen (S. 36) Sie sagen alle drei: „Doch leben wir Freiheit nur so wie ihr, ist sie nicht Freiheit, nicht frei, finde ich.“ (S. 15, 26, 36)
Doch ihre Argumente werden von den Erwachsenen mit verständnisvoller Umarmung, weisem Lächeln und Tätscheln der Wange beantwortet oder vielmehr abgetan. Ihre Entscheidung, die Kinder in die Kiste zu sperren, überdenken die Erwachsenen nicht.
„Stattdessen werden Geschenke gebracht“ (S. 17)
Die drei Kinder werden in eine Kiste gesperrt, deren Tür nur von außen zu öffnen ist. Auch der Blick nach draußen ist den dreien verwehrt. Die Kiste ist mit materiellen Gütern gut ausgestattet, „es gibt (…) jeden Komfort“, und „Spielzeug zuhauf“ (S. 5, 18, 27, 38).
Besuch durch die Eltern findet mittwochs in einem begrenzten Zeitrahmen statt, so wie er in die Routinen der Eltern passt (nach der Lieblingsfernsehsendung, nach der Bingo-Partie, niemals spät). Bei den Besuchen bringen die Eltern den Kindern Spielsachen, Elektronik-Artikel, Kleidung, Süßigkeiten, Fast-food. Ansonsten sind die Kinder alleine.
„Gibt es Freiheit nicht nur in Träumen!“ (S. 42)
Patty, Mickey und Liza Sue sehnen sich danach, frei zu sein, frei wie die Möwen, Papageien, Seehunde, Hasen und Biber und tun zu können, was ihren Bedürfnissen entspricht.
Eine Schallplatte mit Möwengeschrei, ein Film von Bächen, ein Bild vom Himmel, Erde im Glas oder Plastikfischen und Schmetterlinge unter Glas reichen den Kindern nicht. Sie halten an ihren eigenen Vorstellungen von Freiheit fest. Sie wollen selbst entscheiden wann, wo und was sie tun. Am Ende finden sie ihren Weg aus der Kiste in die Freiheit, von der sie nicht nur träumen wollen.
„Ihr glaubt gewiss, was ihr tut, wär das Beste für mich“ (S. 15, 26, 36)
„Die Kinderkiste ist ein poetisches, kritisches Buch über das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern, über das Leben von Kindern in Wohlstandsgesellschaften, mit vielen Waren und zu wenig Zeit, zu wenig Zuwendung und das Funktionieren- Müssen. Die Kinder wissen, dass die Erwachsenen glauben, dass sie das Richtige tun. Die Kinder wissen auch, wann sie sich gemäß der Normen der Erwachsenen verhalten und welche Verantwortung sie selbst übernehmen. Dennoch vertreten sie ihre eigenen Bedürfnisse und hinterfragen die Vorstellungen der Erwachsenen von Freiheit und ihre Erziehungsmethoden.
„Zu der man den Schlüssel vermisste“ (S. 5, 18, 27, 38)
„Die Kinderkiste (…), das ist der goldene Käfig, voll gestopft mit all den Waren und Medien, welche die Gesellschaft im Namen der Kinder produziert. Damit aber ist sie zugleich Metapher für den Verlust an Zuwendung und Liebe und für die Ersatzhandlungen der Erwachsenen gegenüber Kindern.“ (Jens Thiele 2001)
Wir denken auch, dass die Kiste für Maßnahmen und Erziehungsvorstellungen steht, mit denen Erwachsene – in gut gemeinter Absicht – Kinder versuchen, in ihre Spur zu bringen: durch Liebesentzug, Hausarrest, Abschottung von angeblich schädlichen Einflüssen, Medikamente, geschlossene Heime, Psychiatrie. Sie steht auch für die Schubladen, in die Erwachsene Kinder stecken und damit die Kinder wie sich selbst einschränken.
„Der Biber nagt gerne an Bäumen“ (S. 8, 14, 18, 24, 30, 42)
Freiheit wird in dem Buch mit Natur gleichgesetzt, das Verhalten von frei lebenden Tieren ist das Sinnbild für die Freiheit, von der die Kinder nicht nur träumen wollen. Bereits zwischen den Strophen wird der Traum der Kinder gezeigt, sich frei und ungebunden mit den Tieren in der Natur bewegen zu können. Folglich endet das Buch mit dem Schritt der Kinder in eine intakte, unberührte Natur, umgeben von den frei lebenden Tieren, von denen die Kinder vorher sprechen. Aus unserer Sicht ist dieses Bild, in dem Freiheit mit Natur und Ursprünglichkeit und die Bedürfnisse der Kinder ebenfalls mit Natur und Ursprünglichkeit gleichgesetzt werden, eine Idealisierung von Natur und eine Reduktion von Kind-Sein (bzw. Erwachsen-Sein). Das Ende des Buches wäre für uns überzeugender, wenn Freiheit in ihrer Komplexität und Vielfalt dargestellt würde. Allerdings spricht für das Bild, dass es vermutlich Emotionen vieler Leser*innen / Betrachter*innen, alt und jung, anspricht.
„Sie dachten und sprachen und dachten noch mehr“ (S. 13, 23, 34)
Für Erwachsene ist das Buch eine Einladung, ihre Erziehungsvorstellungen unter die Lupe zu nehmen und ihr Verhältnis zu und ihr Verhalten gegenüber Kindern zu überdenken. Es zeigt, dass Erwachsene gute Absichten haben und sich Gedanken machen, aber dies nicht automatisch dazu führt, dass sie Kindern respektvoll begegnen.
Durch die Antibias-Lupe betrachtet
Anhand der Kriterienliste für vorurteilsbewusste Kinderbücher des Projektes Kinderwelten zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen (Lindemann/Wagner 2003, S. 5) möchten wir darstellen, warum wir dieses Buch empfehlen. Antibias ist ein Ansatz gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung, unter anderem mittels Bewusstsein über Vorurteile.
Kinderwelten führt als erstes Kriterium an, dass das Buch Identifikationspotential für Kinder mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und Familienkulturen bieten soll und die Möglichkeit, etwas über die Vielfalt von Lebensgewohnheiten zu erfahren. In „Die Kinderkiste“ werden Kinder ernst genommen und können sich mit ihren Erfahrungen in einer Wohlstandgesellschaft wiederfinden: Viele Erwachsene haben keine Zeit oder kein Verständnis für sie und glauben, mit Geschenken und Konsummöglichkeiten den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Für die Geschichte wurden drei Kinder aus unterschiedlichen Kontexten ausgewählt: aus dem Hochhaus, in einer Schule, vom Land. Die Eltern der Kinder werden nicht gezeigt, sie sind abwesend. Dass sie da waren, zeigt sich nur in den hinterlassenen Konsumgütern und darin, dass sie die Entscheidung der Lehrer*innen, Mieter*innen und Nachbar*innen mittragen. Die Kinder und Erwachsenen im Buch sind of Color, weiß und Schwarz, männlich und weiblich. Die Hauptfiguren sind zwei Mädchen und ein Junge.
Vorurteilsbewusste Kinderbücher sollen gemäß der Kriterien von Kinderwelten dazu anregen, den Horizont zu erweitern. Kinder erleben in diesem Buch einen Blickwinkel, den nicht viele Kinderbücher bieten. Die Kinder im Buch lassen sich nicht passiv von Erwachsenen reglementieren, sondern sind als verantwortlich Handelnde dargestellt, die sich in einem Zwiespalt befinden: Wie gehen sie um mit Freiheit und Zwängen? Und wie mit Eltern und anderen Erwachsenen, die ihre Bedürfnisse nicht sehen? Hierdurch wird Kindern ein anderer Blick auf Kinder, auf Erwachsene und auf sich selbst angeboten.
Ein weiteres Kriterium ist, dass Bücher Kindern helfen sollen, ihren Gefühlswortschatz zu erweitern. Mit dem Buch wird ein Raum geschaffen, Konflikte zwischen Anpassung und eigenen Lebensentwürfen zum Thema zu machen. Die Gefühle der Kinder werden deutlich und es wird gezeigt, wann sie glücklich sind, wann sie sich stark eingeengt fühlen, wann sie traurig sind und wann sie merken, dass sie von den Erwachsenen nicht wahrgenommen werden. Zwei Themen spielen in „Die Kinderkiste“ eine große Rolle: die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung zum einen und zum anderen die Botschaft „So wie du bist, bist du falsch“. Welches Kind kennt nicht Zurechtweisungen wie „du störst die Erwachsenen“, „dein Verhalten ist nicht angemessen“, „ich bin gezwungen, dich zu bestrafen“. Im Buch wird benannt, wie sich Kinder in solch schwierigen Situation fühlen. Die Realität aus Kinderperspektive wird hier deutlich nachvollziehbar beschrieben. Kinder können sich mit ihren Gefühlen wiederfinden.
Vorurteilsbewusste Kinderbücher sollen des Weiteren keine stereotypen und diskriminierenden Abbildungen oder Inhalte enthalten. Kinderbücher, in denen Schwarze Kinder und Kinder of Color vorkommen, verstärken oft Vorurteile, indem sie stereotype Bilder von Menschen zeigen und durch klischeehafte Rollenzuschreibungen vorurteilsbelastete Botschaften enthalten. Das ist hier nicht der Fall: die drei Kinder erleben Vergleichbares, Bekanntes und sie sind of Color, weiß und Schwarz, doch das wird nicht benannt und schon gar nicht problematisiert. Im Buch wird mit den drei Kindern und ihren Lebenssituationen Vielfalt sichtbar. Dadurch können sich Kinder unterschiedlicher Erfahrungen im Buch wiederfinden und ihr Selbstwertgefühl unterstützt.
Ein weiteres Kriterium lautet: „Die Bücher sollen anregen, kritisch über Vorurteile und Diskriminierungen nachzudenken“. (Lindemann/Wagner 2003, S. 5) In der Geschichte ist Adultismus das Thema, die diskriminierende Machtausübung von Erwachsenen gegenüber Kindern. Und der ist da besonders schwierig zu durchschauen, wo er gut gemeint ist und scheinbar vernünftig und gut begründet. Die Kinder in dem Buch benennen dies und kritisieren gleichzeitig die Entscheidungen der Erwachsenen, lassen sich ihren Wunsch nach Freiheit nicht nehmen und finden letztlich ihren Weg, ihre Art der Freiheit zu leben. Das bietet Kindern einen Anlass und die Ermutigung, selbst die Argumente und Entscheidungen von Erwachsenen zu hinterfragen.
Schließlich sollen vorurteilsbewusste Kinderbücher „Beispiele enthalten, die Mut machen, sich gegen Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten zu wehren“ (Lindemann/Wagner 2003, S. 5). Mickey, Liza und Patty können Spiegelbilder und Vorbilder für Gefühle und Handeln der Kinder sein. Am Ende lohnt es sich, dass die Kinder sich ihre eigene Perspektive nicht haben nehmen lassen, weil sie aus eigener Kraft aus der Kinderkiste steigen und ihren Vorstellung von Freiheit leben.
Insgesamt ist „Die Kinderkiste“ nicht nur durch die „Antibias-Brille“ betrachtet ein sehr empfehlenswertes und bereicherndes Buch!
Zusätzlich verwendete Literatur
Lindemann, Ulla / Wagner, Ilka 2003: Vorurteilsbewusste Kinderbücher. Empfehlungsliste 2008. Online hier. Thiele, Jens 2001: Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 21.05.2001. Online hier.
Die Kinderkiste.
Rowohlt, Reinbek.
ISBN: 3499211327.
48 Seiten. 10,90 Euro.