Fragen über Fragen
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- Die Finkler-Frage
Howard Jacobson liefert mit seinem Roman eine erstaunliche Reflexion über jüdischen Antizionismus und israelbezogenen Antisemitismus – vielleicht einer der kunstvollsten zeitgenössischen jüdischen Beiträge zum „Nahostkonflikt“.
Der Roman erzählt einen Ausschnitt aus der langjährigen Freundschaft dreier Männer im heutigen London. Julian Treslove verlor seine Stelle als Redakteur bei der BBC und verdient sich nun einen knapp ausreichenden Lohn als Prominentendouble. Seine Idealvorstellung einer Liebesbeziehung beschreibt er wie folgt: „Sie ließ ihn nicht wegen einem anderen sitzen, sagte auch nicht, sie könne ihn oder ihr gemeinsames Leben nicht mehr ertragen, sie schied dahin in einem perfektionierten Traum tragischer Liebe.“ (S. 10) Die Realität sieht jedoch deutlich anders aus: Seine beiden Ehefrauen und ebenso alle anderen Partnerinnen ließen ihn sitzen, da sie ihn nicht mehr ertrugen und dazu ist er noch Vater zweier Kinder, die er kaum kennt. Samuel Finkler ist ein verheirateter und überaus erfolgreicher Moderator einer Fernsehphilosophiesendung. Libor Sevcik ist leidenschaftlicher Witwer und verfasst Bücher über die ihm bekannte Hollywoodprominenz.
Der absolute Unterschied zwischen den ohnehin sehr verschiedenen Freunden ist die Tatsache, dass sowohl Finkler und Sevcik Juden sind. Treslove hingegen „war, wer er war. Julian Treslove. Junggeselle seiner Gemeinde. Goi. Genug. Längst genug.“ (S. 211)
Ein Überfall führt Tresloves krampfhafte Identitätssuche schließlich zu einem vorläufigen Ende. Eine Frau nimmt ihm seine Wertsachen ab und raunt ihm ein Wort ins Ohr, dessen Bedeutung er sich in der folgenden Zeit zu erschließen versucht. Jules, jewel, you, your, your jewels, you´re, you´re Jules, Jew, you Jew oder you´re Jew sind dabei mögliche Varianten. Seine eigene Erwartungshaltung erfüllend kommt er schließlich zu dem Schluss: „Nein zu Juwelen, nein zu Jules, nein zu Jule und ja zu Jud. Du Jud.“ (S. 84) An dieser Stelle wird deutlich, wie viel von dem ausgefeilten Wortwitz des Romans in der deutschen Übersetzung leider verloren geht.
Nicht-jüdische Aneignung des Leidens
Parallel zu Tresloves Entdeckung „seines Jüdischseins“ wird Finkler Mitbegründer der ASCHandjiddn – im englischen Original ASHamed Jews. Die ASCHandjiddn sind eine Gruppe antizionistischer, intellektueller Juden und Jüdinnen, die versuchen Öffentlichkeitsarbeit gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete, rassistische Politik und schließlich gegen den Staat Israel selbst zu machen.
Jacobson überzeichnet seine Charaktere ganz bewusst. Finkler ist über weite Teile des Romans als eine überspitzte Persiflage Noam Chomskys zu lesen. Treslove hingegen versucht jüdischer zu werden als seine gesamte jüdische Umgebung und überlegt sogar Rabbi zu werden, „falls er es je bis zum Juden schaffte.“ (S. 283)
Eben jenes Bestreben seiner eigenen identitären Judaisierung äußert sich in überaus anekdotischen Bemerkungen: „Ein Stück die Straße hinunter spielt im Jüdischen Kulturzentrum eine kleine Klezmerband zu einem jüdischen Tanzabend auf. Wollen wir da hin?“ (S. 234) Tresloves Verhalten und Überfixierung auf alles Jüdische wird von seinen Mitmenschen meist mit Desinteresse oder freundschaftlichem Spott aufgenommen. Seine spätere jüdische Partnerin stellt indes fest:
„War das im Grunde alles, worum es ihm bei seiner Faszination fürs Jüdische letzlich ging, fragte sie sich, diese Suche nach einer Identität, die über mehr tief sitzenden Trübsinn verfügte, als er mit seinem Genpool aufzubringen vermochte? Wollte er die ganze verdammte jüdische Katastrophe? Er wäre natürlich nicht der Erste. Man konnte die Welt einteilen in solche, die Juden töten, und in solche, die Juden sein wollen. Die schlimmen Zeiten waren die, in denen die Ersteren die Letzteren überwogen. Aber irgendwie war das auch ganz schön frech. Richtige Juden mussten leiden für ihr Leid.“ (S. 320; Hervorhebung P.G.)
Die Aneignung jüdischer Identität durch Treslove wird durchgehend stark sarkastisch dargestellt. Selbst die ihn umgebenen Juden und Jüdinnen sind ihm nie jüdisch genug und ernten dafür scharfe Kritik von ihm. Treslove wird somit zur Symbolfigur eines Philosemitismus, der ausschließlich dem Wunsch nach Identitätsfindung geschuldet ist. Dies ist die eine Seite der Projektion auf Juden und Jüdinnen, die sich vor allem kulturell und viel weniger politisch oder aktivistisch darstellt. Diese kulturelle Aneignung durch einen weißen, männlichen Goi wird im Roman auf äußerst ironische Art und Weise als Suche eines privilegierten Subjektes nach einer diskriminierten Identität entlarvt. Tresloves Verlangen nach strukturellem Leiden zeigt deutlich eine mögliche Ursache des Philosemitismus auf.
Fiktionale Streitkultur
„Die Finkler-Frage“ lebt eindeutig von den Dia- beziehungsweise Monologen der Charaktere. Die Handlung des Romans rahmt diese auf eindrucksvolle Weise, steht jedoch selbst nicht im Fokus. Es handelt sich um ein elementar politisches Werk. Gerade in den Gesprächen der Charaktere werden unterschiedlichste Positionen zur Existenz Israels, Zionismus, Anti- und Philosemitismus, Jüdisch-, Weiß- und/oder Männlichsein verhandelt. Die Rahmenhandlung dieser Reflexionen und Diskussionen stellt vor allem die gewalttätige Realität des Antisemitismus für die jüdischen und die als jüdisch markierten Charaktere des Romans dar. Immer wieder fließen Schilderungen von psychischen und physischen Übergriffen sowie Hakenkreuzschmierereien in die Geschichte ein. Daneben beschreibt sie – oft durch die ironisch überspitzte Darstellung von klaren Stereotypen – wichtige oder zumindest interessante Aspekte jüdischen Lebens in London, wie beispielsweise die Bedeutung von Amy Winehouse für die Popmusik und die jüdische Community.
„Die Finkler-Frage“ ist der jüngste Roman Howard Jacobsons und zudem der einzige ins Deutsche übersetzte. Im Jahre 2010 wurde er dafür mit dem Booker-Prize ausgezeichnet. Jacobson stammt aus einer jüdisch-britischen Familie und wurde 1942 geboren. Er selbst bezeichnet sich als kultureller Jude und bevorzugt die Benennung als „jüdische Jane Austen“ anstatt als „englischen Philip Roth“. Innerhalb der letzten 20 Jahre verfasste er elf Romane.
Israelbezogener Antisemitismus, jüdischer Selbsthass und Aneignung
„Kann keine Schlechtigkeit mehr gegen irgendeinen Juden irgendwo begangen werden, die sich nicht mit Gaza rechtfertigen ließe?“ (S. 223)
Der Antisemitismus und die Auseinandersetzung mit diesem ist im Roman voranging auf den Staat Israel, beziehungsweise dessen Existenzrecht, bezogenen. Es gibt kritische Ausführungen zu „kapitalismuskritischem“, strukturellem Antisemitismus, jedoch liegt der Fokus ganz deutlich auf jüdischem Antizionismus und den Reaktionen auf diesen.
Finkler wird an dieser Stelle zum Stellvertreter des sogenannten akademischen – also nicht des ultraorthodox-religiösen – „jüdischen Selbsthasses“ erkoren. Er und “[s]eine jüdischen Antisemitenfreunde“ (S. 255) der ASCHandjiddn erklären die Schande zum Leitmotiv ihrer Arbeit und der eigenen Identität. Aus ihrer Kritik an der Politik des israelischen Staates – meist benannt als „Apartheid“ – ziehen sie einen Hass auf alles Jüdische, weil es sich ihrer Meinung niemals von Israel trennen ließe. Immer wieder muss sich dieses Kollektiv jedoch selbst mit den Grundannahmen der Gruppe auseinandersetzen: „Würden wir uns ASCHandjiddn nennen, wenn sich unsere Kritik gegen Burma oder Usbekistan richtete?“ (S. 209) Jacobson spielt in der Darstellung Finklers mit dem einseitigen Fokus der „Kritik“ auf Israel, der gerade in der deutschen Linken so unglaublich symptomatisch ist. Diese einseitige (akademisch-)aktivistische Kritik an Israel wird hierbei vor allem durch Finklers Frau hinterfragt: Der israelische Staat „sei durch einen Akt brutaler Landnahme begründet worden. Für welchen Staat aber gilt das nicht, fragte Tyler und erwähnte die I[.] Nordamerikas sowie die australischen Ureinwohner.“ (S. 389) Sie ist es schließlich auch, die Finklers Antizionismus als die erwähnte andere Seite der Projektion auf Juden und Jüdinnen beschreibt:
„Wohin er auch schaut, ob nach Jerusalem, Stamford Hill oder Elstree, sieht er Juden, die nicht besser oder schlechter als andere Menschen leben. Und da sie nicht über alle Maßen gut sind, folgt daraus – nach seiner extremen jüdischen Logik –, dass sie über alle Maßen schlecht sind! So […] klammert er sich mit aller Arroganz an das Prinzip, dass Juden da sind ‚zum Lichte der Heiden‘ (Jesaja 42:6), oder aber sie verdienen es nicht zu existieren.“ (S. 385; Hervorhebung P.G.)
Die daraus erwachsene Vorstellung, Israel müsste aufgrund der ewig langen Verfolgungsgeschichte der Juden und Jüdinnen einen besseren, vollkommenen Staat darstellen, findet sich in unzähligen Bewertungen. Doppelte Maßstäbe werden hierbei auf eine künstlich überhöhte Projektionsfläche angesetzt, um daraus eine Dämonisierung abzuleiten, die allzu oft in eine Delegitimierung dieses einen Staates münden. Der jüdische Antizionismus wird im Roman ausführlich dargestellt und von vielen – nicht nur von jüdischen – Charakteren in Frage gestellt, jedoch weder komplett abgelehnt noch ausnahmslos befürwortet. Sehr deutlich stellt das Werk aber in der Person Finklers eine Absage an die Aneignung des Antizionismus durch weiße, europäische Nichtjuden und -jüdinnen dar:
„Ja, wie können Sie auch nur denken, Sie dürften den Juden sagen, in was für einer Art Land sie leben sollen, da es doch europäische Nicht-Juden wie Sie waren, die ein separates Land für Juden erst notwendig gemacht haben? Was also gestattet es Leuten, die selbst Rassisten sind, mit dem Finger auf den Rassismus anderer Leute zu zeigen? Nur von einer Welt, von der Juden glauben, sie hätten vor ihr nichts zu befürchten, werden Juden willens sein, Lektionen in Sachen Menschlichkeit zu lernen. Bis dahin kann man das Angebot des jüdischen Staates, allen Juden der Welt Sicherheit zu gewähren – ja, in erster Linie den Juden – vernünftigerweise wohl kaum als rassistisch bezeichnen, mag es auch parteilich sein. Ich kann verstehen, wenn ein Palästinenser sagt, ihm käme das rassistisch vor, aber auch er ist Erbe einer Geschichte, randvoll mit Verachtung für Menschen, die anderen Glaubens sind. Sie aber, meine Dame, kann ich nicht verstehen, denn Sie stehen hier als mitfühlende Seele, als von Gewissensbissen geplagte Vertreterin eben jener Welt der Nicht-Juden, aus der Juden ohne ihr eigenes Verschulden seit Jahrhunderten fliehen mussten.“ (S. 337 Hervorhebung P.G.)
Jacobson führt hier literarisch das Phänomen des Schuldabwehrantisemitismus beziehungsweise sekundären Antisemitismus ein. Unter dem Motto „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals vergessen“ oder aber „Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ versteckt sich in eben diesem nicht-jüdischen „Antizionismus“ eine Judenfeindschaft, die Juden und Jüdinnen unausgesprochen vorwirft, die Shoa überlebt zu haben und dadurch auf dieses ungeheure Verbrechen aufmerksam zu machen oder gar bis heute daraus zu profitieren. Jacobson stellt diese Form des modernen Antisemitismus in einen größeren Kontext der jahrhundertealten Verfolgung von Juden und Jüdinnen in Europa. Die Ablehnung dieser Aneignung einer, für Teile der jüdischen Charaktere des Romans legitimen, (nicht israelischen) jüdischen Einmischung in die Gestaltung des israelischen Staates durch nicht-jüdische weiße Europäer_innen wird verbunden mit einem „kritischen Verständnis“ für palästinensische Befreiungsbewegungen. Sehr deutlich kommt dies wiederholt bei der – gerade für weiße, vielleicht vor allem deutsche Linke bedeutsamen, Bewertung der Kūfiya, also des sogenannten „Palästinensertuches“, zum Ausdruck:
„Es machte ihm Angst. [...] Wer das Tuch trug, gab ein aggressives Statement ab, von Recht oder Unrecht zunächst einmal ganz abgesehen. Für einen Palästinenser war es in Ordnung das Tuch zu tragen, sagte Libor, ein Palästinenser hatte nach dem Gesetz des Leidens ein Recht auf seine Aggression. Ein Engländer symbolisierte damit lediglich das Verlangen, sich eine fremde Problematik anzueignen, gepaart mit einer Simplizität, die es so nie gegeben hatte.“ (S. 276)
Jacobson zeigt damit aus britischer Perspektive vieles von dem auf, was der linkszionistische israelische Autor Amos Oz den deutschen Leser_innen in seinem Essay „Israel und Deutschland“ präsentierte.
Der im Roman oft untergehende „alte, tschechische Reaktionär“ (S. 234) Libor Sevcik avanciert in den dargestellten Auseinandersetzungen zur personifizierten Moral Jacobsons. Er steht somit für ein jüdisches Selbstbewusstsein, das sich der eigenen Position bewusst ist, jedoch auch darüber hinaus eine Identität entwickelt. So findet sich das Motiv des Leidens im Falle Sevciks vor allem in der Trauer um seine verstorbene Ehefrau.
Nicht „nur“ Antisemitismus: Weißsein und Männlichkeit
Anzumerken ist, dass es in dem Roman keine palästinensischen Positionen zum „Nahostkonflikt“ gibt, sondern ausschließlich Bemerkungen über jene. In dieser Einseitigkeit ist, trotz möglicher gegensätzlicher Lesart, vielleicht eine der Stärken des Werkes zu sehen. Jacobson setzt seine inhaltliche Kritik gestalterisch in die Tat um, indem er explizit darauf verzichtet, die Lage in der Region durch scheinbar reelle, fiktive Positionen zu bewerten und dadurch Stimmen und Positionen anzueignen, die er nicht teilt oder teilen kann. Im Gegenzug gibt es auch keine israelischen Charaktere in dem Roman. Israel und der „Nahostkonflikt“ werden als reine Projektionsfläche der jüdischen und nicht-jüdischen europäischen Charaktere gezeichnet, auf der sich diese diskussionsartig austoben. Dabei stoßen eben jene wiederholt auf die Tatsache, dass sie, ihre Positionen, ihre Umgebung und ihre Sozialisation rassistisch sind. Es entsteht im Laufe des Romans eine Tendenz, die eine gewisse Solidarität gegen weiße, nicht-jüdische Europäer_innen konstruiert. Die Stoßrichtung der Kritik ist sehr deutlich und wundervoll umgesetzt. Jacobson rückt statt dem ewigen Dichotom Antisemitismus gegen Rassismus das äußere, sonst meist unbenannte Dritte in den Fokus der Bewertung und eröffnet somit eine kaum beachtete Betrachtungsweise des Konfliktes.
Alle drei Hauptcharaktere des Romans sind Cis*Männer. Frauen treten als Ehefrauen und Geliebte auf. Trotz allem wird Männlichkeit im Werk beständig reflektiert und versuchsweise dekonstruiert. Sehr deutlich und literarisch brillant vermittelt tritt dies in Tresloves Auseinandersetzung mit der religiösen Beschneidung zu Tage. Sein unbeschnittener Penis ruft in ihm eine Art männlichen Penisneid hervor. Weite Teile seiner Sehnsucht nach Jüdischsein sind ungemein sexualisiert. Der beschnittene Penis wird so zu Tresloves Ideal einer besseren, erfolgreicheren Männlichkeit – zumindest für eine Weile.
Fazit
„Ein großartiger Roman, den nur ein Jude schreiben konnte,“ verkündete die „Literaturzeit“ des Radio Bremen anlässlich ihrer Besprechung des Werkes. Herausheben soll diese Aussage die markante Leichtigkeit mit der sich Jacobson der äußerst gewichtigen Thematik zu nähern scheint. Wie erwähnt, zeichnet sich der Roman vor allem durch inhaltlich tiefe und stilistisch grandios ausgearbeitete Dialoge aus. Auch wenn eine fesselnde Rahmenhandlung manchen Leser_innen fehlen könnte, überzeugt das Werk durch Authentizität und Glaubwürdigkeit. Kleine sprachliche Feinheiten runden die Erscheinung ab, auch wenn Teile davon in der Übersetzung verloren gingen. Ein Hauptmotiv des Romans ist das Leiden in seinen verschiedenen abstrakten Formen. Die inhaltliche pessimistische Tristesse wird durch die wortwitzigen Dialoge beständig konterkariert und aufgelöst. Nebenbei handelt es sich bei „Die Finkler-Frage“ um ein ausgesprochen kluges Buch, das gerade für die deutsche Linke von großer Bedeutung sein könnte oder vielmehr sollte. Mit außerordentlich viel Ironie und Sarkasmus schreibt Jacobson gegen auf Juden und Jüdinnen projizierte Bilder an und vermittelt damit auf angenehm unakademische Weise eine tiefgehende Reflexion um jüdisches Leben in der Postmoderne.
Die Finkler-Frage.
Deutsche Verlags-Anstalt, München.
ISBN: 978-3421045232.
448 Seiten. 22,99 Euro.