Europa – ein rassistischer Kontinent?
- Buchautor_innen
- Fatima El-Tayeb
- Buchtitel
- Anders Europäisch
- Buchuntertitel
- Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa
Das Buch kritisiert mit Bezug auf Kämpfe migrantisierter Gruppen und Queer-of-Color-Gemeinschaften die Vorstellung eines demokratischen und aufgeklärten Europas.
Gerade die Austeritätspolitik in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern hat in den letzten Jahren von linker Seite die Kritik an der demokratischen Orientierung der EU verstärkt: Sie setze nur mehr neoliberale Sachzwangpolitik, das heißt die Kürzung von Löhnen und Renten, und eine zunehmende Verlagerung von demokratischen Entscheidungsprozessen auf nicht demokratisch legitimierte Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) um. Gleichzeitig schotte sie ihre Außengrenzen militärisch ab, um unerwünschte Zuwanderung einzudämmen.
Wenig Beachtung findet in diesen Diskussionen die Sicht von Migrant_innen und Communities of Color auf das Projekt Europa. Gibt es vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung überhaupt die Möglichkeit, das europäische Projekt als demokratisch beziehungsweise aufgeklärt zu verstehen? Und auch: Wie wird, spezifisch in Europa, in den Alltagspraktiken Rassismus erfahren? Diese Fragen sind die Grundlage von Fatima El-Tayebs Buch, das 2011 im englischen Original erschien.
Das Wechselspiel von Erinnerung und Amnesie
El-Tayeb, Historikerin und aktuell Professorin an der University of California, arbeitet bei ihren Analysen mit dem Begriff der Rassifizierung. Dieser bezeichnet Zuschreibungen und Ausschlusspraktiken, die Bevölkerungsgruppen als nicht zu Europa zugehörig stigmatisieren. Sie spricht auch von einem „System vor allem visueller Markierungen, die nicht-weiße und nicht-christlich sozialisierte Menschen als notwendigerweise nicht-europäisch festschreiben“ (S. 7). Anders gesagt: Die Bildung einer europäischen Identität geht zugleich mit dem Ausschluss von nicht-weißen und queeren Lebensformen einher.
In der vorliegenden Studie geht es nun um die „Ausgrenzung rassifizierter Bevölkerungsgruppen“ wie etwa „Communities of Color“ (S. 7). El-Tayeb möchte dabei aus der Sicht der betroffenen Gruppen und Menschen den Prozess der Rassifizierung beschreiben. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass damit zugleich „die Werkzeuge zu dessen Dekonstruktion [ge]schaffen“ (S. 8) werden. Es geht also zunächst einmal darum, etwas hörbar zu machen, was nicht gehört wird. Hier liegt der Einwand nahe, ob das Werkzeug des Sichtbarmachens zur Dekonstruktion der rassifizierenden Positionszuweisung ausreichen kann, da Rassismus als Strukturelement sehr wirkmächtig ist. El-Tayeb versucht hier, nicht nur die subjektiven Geschichten der Communities of Color nachzuerzählen, sondern auch den gesellschaftlichen Rahmen einzubeziehen.
El-Tayebs Rassismusbegriff bezieht sich auf die Art und Weise, wie minoritäre Europäer_innen durch „neue Formen räumlicher Ordnung“ (S. 48) regiert und damit aus der vorherrschenden europäischen Ordnung ausgeschlossen werden. An dieser Stelle verweist El-Tayeb auf Prozesse des städtischen Ausschlusses, der vor allem migrantisierte Bevölkerungsgruppen „in segregierte Nachbarschaften“ (ebd.) wie beispielsweise die französischen Banlieues zwingt. Damit einher gehen „Diskurse der 'Rasselosigkeit'“, die ein vermeintlich homogenes „Weißsein Europas“ (ebd.) erzeugen, das zu einer Unsichtbarmachung von Communities of Color, aber auch einer „Farbenblindheit [colorblindness]“ (S. 36) beziehungsweise einer Verleugnung von Rassismus führt. Ausgrenzung funktioniert, so El-Tayeb, durch einen Prozess, den sie als „Dialektik von Erinnerung und Amnesie“ (S. 37) bezeichnet. Dahinter steht die Vorstellung, dass Rasse das zentrale Merkmal „einer Markierung des Nicht-Dazugehörens“ (S. 39) ist, um so Menschen sozial und ökonomisch auszuschließen. Gegen diese Ausgrenzung setzt El-Tayeb eine auf die Alltagskultur abzielende Erzählung widerständiger Praktiken in ethnisierten queeren Zusammenhängen. Der Ausschluss migrantisierter Gruppen in Europa wird in vier Kapiteln beleuchtet.
Ausschluss und Widerstand
Im ersten Kapitel wird der Vorstellung eines gemeinsamen europäischen öffentlichen Raums nachgegangen. Es wird danach gefragt, unter welchen Bedingungen migrantisierte Bevölkerungen eigene Erfahrungen artikulieren können, welche Öffentlichkeit ihnen also möglich ist. Die Musik des Rappers Axiom First der Gruppe 'La Rumeur' dient dabei als Beispiel widerständiger Praktiken, welche die Aufstände in französischen Banlieues 2005 begleiteten. Dieser stellt, entgegen der hegemonialen Deutung der Ereignisse, eigene Bezüge „im Kontext der Geschichte von Kolonialismus und Arbeitsmigration“ (S. 96) her. Der Hip-Hop wird hier von El-Tayeb als eine sprachliche (und körperliche) Form für Migrant_innen dargestellt, ihre Erfahrungen von Gewalt, Ausschluss, Rassismus und Diskriminierung zu artikulieren.
Die Rassifizierung, das heißt die ethnische Stigmatisierung des vermeintlich Fremden, von Diaspora-Gemeinschaften wird im zweiten Kapitel thematisiert. Dies geschieht mit Blick auf heteronormative Geschlechterrollen, Feminismus von Frauen of Color und queere Erinnerungsdiskurse. Ein Beispiel, welches El-Tayeb hierfür wählt, ist ein 1984 von Audre Lorde gehaltenes Seminar an der FU Berlin, das die Studierenden dazu bewegte, „sich mit ihrer spezifischen Situation als Schwarze deutsche Frauen zu beschäftigen“ (S. 161). El-Tayeb schreibt an solchen Stellen gegen „Deutschlands (Selbst)Darstellung als weiße Nation“ (S. 164) an; so zeigt das Beispiel ihrer Auffassung nach, dass es „in der afrikanischen Diaspora“ (ebd.) transnationale Kämpfe gibt, die nicht auf die USA beschränkt bleiben. An diesem Beispiel ließe sich allerdings auch die Komplexität solcher Kämpfe beschreiben: Offenbar geht es in dem beschriebenen Seminar um eine spezifische Intervention in die Art und Weise der Wissensproduktion an einer europäischen Hochschule, die andererseits aber zugleich in transnationale anti-rassistische Kämpfe eingebunden ist.
Im dritten Kapitel – „Säkulare Unterwerfungen: muslimische Europäer_innen, weibliche Körper und performative Politiken“ – werden Praxen in ethnisierten Gruppen in ihrem Verhältnis zu gesellschaftlichen „Normal“-Vorstellungen untersucht. Hier greift El-Tayeb die „emotionsgeladene Kleidungspolitik [emotive politics of dress]“ (S. 202) auf. Hintergrund ist die in der Öffentlichkeit oft vertretene Vorstellung des Islam „als frauenfeindlich und homophob“ (S. 204) – eine Definition, die weibliche Handlungsfähigkeit in muslimischen Kulturen stereotypisiere. El-Tayeb zeigt mit einem zweiten Beispiel über den Diskurs um Ehrenmorde in den Niederlanden, inwiefern die öffentlich zu beobachtende Gleichsetzung von „Muslim_innen mit gewalttätigen, fundamentalistischen jungen Männern“ (S. 65) zu verkürzten und rassistischen Stereotypisierungen führt. Herangezogen werden Theaterstücke der niederländischen Feministin Adelheid Roosen, die auf der Grundlage von losen Interviews mit türkischen Männern Ehrenmorde verhandelt. Dabei, so kritisiert El-Tayeb, gelinge es Roosen nicht, die Männer „als Individuen darzustellen, die sich nicht grundlegend vom holländischen Publikum unterscheiden“ (S. 207). Vielmehr erlaube der Diskurs um Ehrenmorde „der Dominanzgesellschaft“ in Europa, „Gewalt gegen Frauen weiterhin als eine private, persönliche Angelegenheit zu sehen“ (ebd.).
Der Mythos der europäischen Identität
Die sozialen Folgen der zunehmenden Urbanisierung – „mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung [lebt] in Städten“ (S. 98) – treffe, so El-Tayeb in einem nächsten Kapitel, vor allem Migrant_innen, wenn etwa die prekarisierte und rassifizierte „Unterschicht“ (S. 99) zunehmend „durch Gefängnis- und Militärsysteme verwaltet“ (S. 98) werde. Mit anderen Worten: Die von Balibar sogenannten Überflüssigen werden von staatlicher Seite zum Gegenstand von politischen Programmen, um deren eigenständige Organisierung und Handlungsfähigkeit zu unterlaufen.
Hinzu kommen Lebensformen und kulturelle Praxen vermeintlich offener Gruppen, die sich letztlich ebenfalls als problematisch erweisen. Dies betrifft etwa bestimmte Formen urbaner „Fluidität und kosmopolitischer Mobilität“ (S. 248), die vor allem mit der Produktion von kulturellem Kapital verbunden sind, so dass Mobilität hier neue Ausschlüsse produziert beziehungsweise andere Gruppen an Mobilität hindert. Am Beispiel eines von El-Tayeb nicht näher erläuterten „schwulen kosmopolitischen Tourismus“ (S. 254) in Amsterdam stellt sie dar, inwiefern dieser eine bestimmte Anordnung des städtischen Raumes erfordere, und damit verbunden die Ausgrenzung von migrantisierten Gruppen in Randbezirke. Gleichzeitig, so die Autorin, brauche dieser Tourismus auch „verarmte Gemeinschaften of Color“ (S. 254), die als eine Ressource für Arbeit, Essen, Sex und andere Waren angeeignet werden können. Hier fragt sich, ob solche Ausbeutungsverhältnisse tatsächlich nur auf den Tourismus zurückzuführen sind und wie trotz dieser Ausschlüsse Bündnis- und Handlungsfähigkeit entwickelt werden können. Damit einhergehend wäre es hier weiterführend gewesen, den Blick auf subversive Praktiken im öffentlichen städtischen Raum weiter auszubauen. Auch ein Blick auf die Frage, inwiefern Mobilität innerhalb der EU ungleich verteilt ist, hätte diesem Kapitel gut getan.
El-Tayeb geht es aber um etwas anderes: Ihr zufolge verbinden sich etwa Gesetzgebungen zu eingetragenen Partnerschaften und Homo-Ehe mit einer anti-muslimischen Rhetorik, die sich gegen einen vermeintlich homophoben Islam beziehungsweise die islamische Gemeinschaft abgrenzen. El-Tayeb verwendet dafür den Begriff des „Homonationalismus'“ (S. 253). Hier wäre es interessant gewesen, wenn El-Tayeb den sogenannten Homonationalismus ins Verhältnis zum supranationalen Projekt der EU gebracht hätte. Wie verhalten sich diese transnationalen Praxen (wie Tourismus) zu den europäischen Institutionen? Gibt es Möglichkeiten, in einer transnationalen europäischen Zivilgesellschaft Homonationalismen zu unterlaufen?
Ein weiteres Beispiel für einen rassistisch aufgeladenen Tourismus sind die seit den Londoner Riots von 2011 bekannten „Chows“ (S. 254), die von El-Tayeb mit „Fremde von anderswo“ (ebd.) übersetzt werden. Diese sogenannten Chows werden als „vermarktbare touristische Ware“ (ebd.), das heißt als Anschauungsobjekte für westliche weiße Tourist_innen in Stadtführungen als Attraktionen feilgeboten. Damit verbunden ist die Zur-Schau-Stellung des gewaltsamen, vermeintlich nicht-zivilisierten und migrantisierten Anderen.
El-Tayeb dekonstruiert in ihrem Buch ein von so unterschiedlichen Autoren wie Jürgen Habermas und Jean Baudrillard vertretenes „lineares Narrativ“ (S. 77) eines Europas, das in einem Prozess von der Französischen Revolution bis zum europäischen Einigungsprozess eine gemeinsame Identität geschaffen habe. Sie zeigt dabei nicht nur, dass diese Geschichte selbst gar nicht so linear verlaufen ist – vielmehr macht sie deutlich, dass diese vermeintlich homogene europäische Identität durch viele alltagskulturelle Praxen wie zum Beispiel den Hip-Hop von ethnisierten Gruppen unterlaufen wird. Es hat immer wieder „Formen des Widerstandes“ (S. 53) von migrantisierten und queeren Gemeinschaften of Color gegeben, „die die ihnen zugeschriebenen essenzialistischen Identitäten destabilisieren“ (ebd.). Gerade im Hinblick auf die Refugee Bewegungen ist die Problematisierung von El-Tayeb erhellend, stellt sie doch die Frage nach widerständigen Praktiken, Handlungsfähigkeit und der Selbstermächtigung von rassifizierten Menschen.
Anders Europäisch. Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa.
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-583-7.
357 Seiten. 19,80 Euro.