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„Empowerte“ Arbeiterklasse

Buchautor_innen
Anna Leder (Hg.)
Buchtitel
Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung
Buchuntertitel
Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien
„Arbeiterkämpfe“, und dann auch noch selbstorganisierte, scheinen eher ein historisches Thema zu sein. Durchaus mit Rückblick auf diese Geschichte zeigen die AutorInnen in diesem Band auf, dass das Thema immer noch Aktualität besitzt.

„Empowerment“ ist das neue Zauberwort, das in der Politik- und Sozialwissenschaft umgeht. „Selbstermächtigung“, in deren Zeichen das vorliegende Buch steht, ist eigentlich nichts als die deutsche Übersetzung dieses Begriffs. Und dennoch könnten die beiden Schlagworte kaum weiter auseinanderliegen.

Die sozialwissenschaftlichen Studien, die den englischen Begriff nutzen, konzentrieren sich nämlich zumeist auf eine individuelle Selbstermächtigung. Die Selbstermächtigung, die in dem von Anna Leder herausgegeben Buch dagegen hervorscheint, ist die Selbstermächtigung einer sozialen Gruppe, der Arbeiterklasse.

Hervorgegangen ist der Sammelband aus der Rundreise streikender KollegInnen aus Serbien durch die drei deutschsprachigen Staaten. Dementsprechend sind hier Arbeiterkämpfe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz dem serbischen Beitrag vorangestellt. Hinzu kommt ein Beitrag von Rainer Thomann zu Frankreich, wobei der Autor sich allerdings auf einen einzigen Konflikt bei dem Reifenhersteller Continental bezieht. Für die Diskussion ist dieser Beitrag insofern von besonderem Interesse, als dass der Branchenriese Continental auch in anderen Staaten für heftige Konflikte gesorgt hat. Thomann geht sowohl auf die deutschen wie auch auf die mexikanischen Kämpfe bei Continental ein.

Abgesehen vom französischen Einzelbeispiel betten alle Beiträge die beschriebenen Konflikte historisch ein, allerdings durchaus mit sehr verschiedenen Schwerpunktsetzungen. Peter Haumer und (wiederum) Rainer Thomann gehen in ihren Beiträgen zu Arbeiterkämpfen in Österreich (Haumer) und der Schweiz (Thomann) im Wesentlichen chronologisch vor. Dabei picken sie sich die Konflikte heraus, die ihnen unter dem Aspekt der Selbstermächtigung besonders erwähnenswert erscheinen. Haumer findet dabei in seiner Geschichte der österreichischen Selbstermächtigungskämpfe die einzige Entsprechung in den Studierendenprotesten der vergangenen paar Jahre.

Verborgene Kämpfe

Christian Frings dagegen geht etwas anders vor: Von Anfang an setzt er seine Darstellung in Bezug zu der globalen Krise und der globalen Streikwelle. Sozialwissenschaftlich fundiert er seine Beobachtungen mit den Analysen Beverly Silvers, Frances Fox Pivens und Richard A Clowards. Frings Beitrag unterscheidet aber vor allem in einem von den übrigen Beiträgen des Sammelbandes. Er betont: „Gerade Kämpfe, in denen sich Tendenzen der Selbstermächtigung zeigen, bleiben oft im Verborgenen und nur in direktem Kontakt mit den Akteuren wird die Bedeutung ihres Handelns sichtbar.“ (S. 20) Nun ist es offensichtlich, dass die weiteren Beiträge des Bandes von Menschen geschrieben wurden, die aktiv zumindest an einigen der beschriebenen Betriebskämpfe teilgenommen haben – allerdings in unterschiedlicher Weise. Während Peter Haumer und Rainer Thomann nämlich direkt aus dem Arbeitsleben heraus auch ihre eigenen Erfahrungen beschreiben (was sie – leider – scheinbar zu verbergen suchen), sind die serbischen Autoren Milenko Srećković und Ivan Zlatić solidarische Aktivisten, die von außen an die Betriebskämpfe herangehen. Das mag für Christian Frings ähnlich sein. Sein Ansatz, die Kämpfe im Verborgenen zu suchen und mit dem globalen Geschehen zu vermitteln, lässt aber Konfliktaspekte nachvollziehbar machen, die Haumer, Thomann, Srećković und Zlatić oftmals in ihrer Deskriptivität entgehen: Wo Haumer in Österreich keine aktuellen Arbeitskämpfe mit Selbstermächtigungsaspekt finden kann, findet Frings zahlreiche Konflikte, die man aber, um von ihnen zu erfahren, eben sehr akribisch suchen muss.

Auch wenn der Beitrag über selbstermächtigte Kämpfe von Frings deshalb in der Tat am lesenswertesten ist, so bleibt – zumindest für mich als Leser aus der BRD – der Erkenntnisgewinn auch der anderen Beiträge außerordentlich hoch: Wie häufig liest man schon von historischen und aktuellen Arbeitskämpfen in Österreich und der Schweiz? Gerade in diesem Sinne ist es auch äußerst lobenswert, hier einmal die serbische Perspektive zu erfahren. „Serbien“ ist in deutschsprachigen Landen nahezu ein Synonym für Nationalismus und Krieg. Dabei sind die Selbstermächtigungskämpfe auf serbischem Gebiet – über die im Buch dargestellten Beispiele hinaus – zahlreich. Die Kontrastierung der „westeuropäischen“ Kämpfe mit jenen aus einem osteuropäischen Land sind dabei besonders aufschlussreich: Auch wenn die beiden Autoren des Beitrags zu Serbien anfangs konstatieren, das jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltungssystem unterscheide sich in der Praxis kaum vom bundesdeutschen Mitbestimmungssystem (S. 196), so wird in der Beschreibung der aktuellen Kämpfe – die sich allesamt gegen zunehmende Privatisierungstendenzen richten – deutlich, dass die Arbeiterselbstverwaltung doch noch etwas weiter ging und dass es in Serbien nach wie vor ein Verständnis für Kollektiveigentum gibt. Interessant wäre zu erfahren, ob sich diese Einschätzung auf die anderen postjugoslawischen Staaten erstreckt.

Kämpfe ohne offizielle Vertretung

Ein weiterer Aspekt ist im Abgleich der vier Aufsätze des Bandes hoch aufschlussreich: Nahezu alle Kämpfe in Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz fanden und finden gegen den Willen der offiziellen Gewerkschaften statt beziehungsweise wendeten sich im Kampfesverlauf gegen diese. Die Selbstermächtigung der ArbeiterInnen, so muss man nach den ersten 190 Seiten Lektüre unabdingbar schließen, findet auch und gerade gegen die Arbeiterorganisationen statt. Und dann kommt der Beitrag zu Serbien. In den hier beschriebenen Kämpfen sind es meist Gewerkschaften, kommunale Politik, zivilgesellschaftliche Organisationen und die ArbeiterInnen, die gemeinsam gegen den Staat und die Investoren zu kämpfen haben. Ob es sich bei diesem Unterschied nun um einen Unterschied in der Sichtweise der Autoren handelt oder aber um einen tatsächlichen Unterschied in den Arbeitskämpfen, der mit den verschiedenen Status der ökonomischen und politischen Entwicklung dieser Staaten zu tun hat, darüber lässt sich letztlich nur spekulieren. Es wäre aber ein interessanter Ansatz, der weiter zu verfolgen wäre, die Arbeitskämpfe in den Staaten mit etablierten Gewerkschaften mit jenen Staaten, in denen sich völlig neue Organisierungstendenzen auftun, zu vergleichen.

Unter diesem Aspekt ist der Diskussionsansatz, den „Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung“ liefert, nicht nur für eine europäische Debatte spannend, die die Ungleichzeitigkeit Ost- und Westeuropas mit im Fokus haben muss, sondern auch für die Beurteilung der globalen Krise und der Krisenrevolten: Wo übernehmen Gewerkschaften das Heft, wo sind die Arbeiterkämpfe tatsächlich selbstermächtigt und wo steht eine radikale Linke ohne Rückendeckung auf der Straße, weil es diese selbstermächtigten und ermächtigenden Kämpfe gar nicht gibt beziehungsweise. weil diese nicht entdeckt werden – weil eben der direkte Kontakt mit den AkteurInnen fehlt, vielleicht gar, weil es gar kein Interesse daran gibt, diese selbtsermächtigten Kämpfe zu entdecken.

In diesem Sinne ist Anna Leders Sammelband eine Pflichtlektüre für alle, die sich zu Krisenprotesten und Widerstand gegen die aktuelle oder allgemeine Krisenpolitik berufen fühlen. An fünf Länderbeispielen wird der Bezug zu den „anderen“ Arbeiterbewegungen hergestellt oder doch zumindest darauf aufmerksam gemacht, dass es diese gibt. Das ist heutzutage viel. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch nicht nur auf Interesse stößt, sondern darüber hinaus anregt zu eigenen solidarischen Erforschungen und einem Sich-in Beziehung-setzen zu den ökonomischen Widerständen des Alltags.

Anna Leder (Hg.) 2011:
Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung. Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien.
Promedia Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85371-333-4.
224 Seiten. 17,90 Euro.
Zitathinweis: Torsten Bewernitz: „Empowerte“ Arbeiterklasse. Erschienen in: Kampf um Arbeit. 17/ 2012, Transformationen – Kapitalismus und Arbeit im Wandel. 55/ 2020. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1014. Abgerufen am: 29. 03. 2024 05:57.

Zum Buch
Anna Leder (Hg.) 2011:
Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung. Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien.
Promedia Verlag, Wien.
ISBN: 978-3-85371-333-4.
224 Seiten. 17,90 Euro.