Ein innovatives Lebensbuch, eine anregende Idee für ein offenes Berlin
- Buchautor_innen
- Irene Runge
- Buchtitel
- Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand
- Buchuntertitel
- oder Reisen Ankommen Leben
Ein ganz heißer Tipp für eine lebendige Geschichte, für Aktualität und Lernen, ein Plädoyer für Offenheit und Akzeptanz, für das beste von Manhattan für Berlin, dafür, zu leben.
Wer dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse war und die Berichterstattung ringsherum verfolgt hat, der_demjenigen wird vielleicht eines aufgefallen sein: Kein Buch wurde als „absolutes Muss“ präsentiert, kein Buch wurde in den Feuilletons der großen oder der schönen Zeitungen und Zeitschriften hin und her gewälzt. Es gab literarisch offenbar nichts zu berichten, die Frankfurter Buchmesse hatte somit eigentlich gar nicht richtig stattgefunden...
Dabei wäre der autobiographisch geprägte „Roman“ – der zwischen den Genres laviert – „Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand: oder Reisen Ankommen Leben“ von Irene Runge das Muss für die Literaturspalten der Zeitungen gewesen. Einziges Problem wohl, um auf Bestsellerlisten zu kommen oder etwa den deutschen Buchpreis zu erhalten: Das Buch ist als preisgünstige Softcover-Ausgabe in einem kleinen Verlag mit einem schönen und ausgewählten Programm erschienen. Das hat man in Frankfurt nicht so gern.
Irene Runge macht vieles in einem. Statt einer Autobiographie vermittelt sie Gefühl und ermöglicht es der Leser_in selbst einzusteigen, in ein lebendiges und jüdisches Manhattan und ein Berlin, in dem auch viel passiert, aber dessen jüdisches Leben erst gerade den Weg aus den Museen wieder in aktives und vielfältiges Erleben von Menschen findet. Während Manhattan einlädt, auch Menschen, die noch nicht gut Englisch sprechen, muss sich Berlin diese Gelassenheit noch erarbeiten – aber es ist auf einem Weg dorthin. Und so ist Irene Runges Roman auch keine Klageschrift, etwa über die Wende und das Erleben in der DDR und der BRD, wie es etwa in diesem Jahr mit „Der Turm“ zum Einheitsgedenken zelebriert wurde. Als Kind zunächst in Manhattan, dann mit den Eltern im Ostberlin der DDR aufgewachsen und immermal als Kind und Jugendliche auf eigene Faust in Westberlin unterwegs, leistet Runge auch zur Wendeliteratur wichtiges: Wie Manhattan und Berlin, so schafft sie es auch, auf Ost und West zu blicken, gelassen eben, anerkennend für alle Seiten und immer mit Sicht auf das Leben und Erleben der Menschen. So finden wir insbesondere Beschreibungen aus dem täglichen Leben, in einer schönen, nicht wortgewaltigen Sprache. Runge hat den Blick für die Kleinigkeiten, ohne auszuschweifen – und sie schafft es, diese kleinen alltäglichen Geschichten immer wieder zu verdichten, also zu einem Gesamtblick zusammenzufügen:
„Ich liebe es, in Manhattan zu sein. Die Stadt passt zu mir. Ich bin genauso gern in Berlin, besonders im Sommer, wenn es nicht regnet, wenn auf dem Trottoir Stühle und Sonnenschirme stehen, jedes Stück Grün Hof- oder Biergarten heißt und in den Kaffeebars eisige Milchgetränke ausgeschenkt werden, wenn sich in Strandbars fernab irgendwelcher Gewässer Leute stundenlang erholen, als befänden sie sich am Mittelmeer. Manches davon, auch Berliner Nächte und das Klubleben ziehen an mir vorbei. Nach Mitternacht am Rosenthaler Platz, wenn ich die U-Bahn verlasse, da scheint mir ein Ferienparadies entstanden, in dem sich die sonderbarsten Menschen auch Eis essend zueinander gesellen. Sitze ich tagsüber mit meinem Kaffee auf so einer Straße, dann sehe ich, wie Mütter mit Kinderwagen, Väter mit Säuglingen vor der Brust, schmalbrüstige Knaben in knalligen T-Shirts, fahrradfahrende Familien, Freundinnen und Touristen sich geschickt und freundlich aneinander vorbeischieben. Man kommt dabei ins Gespräch, lächelt sich an. Falls sich jemand als New Yorker zu erkennen gibt, packt mich das Fernweh. Auch im Kino, wenn die Wolkenkratzerwände silbern glitzern, exzentrische Fußgänger sich in Schaufenstern verdoppeln, die Menschenmengen hasten, wenn ich mir vertraute Ecken sehe, sonnige Bilder Berlins Wechselwetter erheitern, die Kamera mit Blick von oben über Häuserspitzen auf Avenues, auf die Straßenebene zoomt, und hinein in die Wohnzimmer. Manhattan ist nur wenige Flugstunden fern.“ (S. 56f)
Irene Runge zeichnet ein umfassendes, nicht immer schönes Bild. Von Manhattan fehlen etwa nicht die Beschreibungen der Gentrifizierung, die eben auch in Berlin stattfindet. Es werden auch aktuelle politische Fragen angeschnitten, neben den historischen und ihren noch immer aktuellen Auswirkungen. Die Shoa – die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Deutschen – ist gegenwärtig; es wird deutlich, wie auch die überlebenden und nach 1945 nach Deutschland kommenden Jüd_innen sich mit der Feindlichkeit gegenüber Jüd_innen in der BRD (einschließlich Westberlin) und der DDR auseinandersetzen mussten beziehungsweise müssen. Runge schildert aber auch hier Anekdoten, die zuweilen leicht mit einem Augenzwinkern gelesen werden können. Anstatt mit dem Zeigefinger auf den Hass, die Gewalt, das Ermorden immer wieder eindringlich hinzuweisen, macht sie anderes: Sie zeichnet ein Bild des Erlebens, des miteinander Lebens von Menschen. Sie macht Geschmack auf eine gesellschaftliche Entwicklung, in der Menschen miteinander leben und umgehen, sich nicht ihre Schwächen vorhalten, sondern ihre Stärken zusammenbringen und bereichern. Und Irene Runge zeigt, wie sich gerade dafür aus dem jüdischen Manhattan für Berlin lernen lässt:
„Das Jüdische ist Alltag im Bus, auf der Straße, beim Einkauf, in Kino, Theater und Restaurant, bei Spaziergängen, in Universitäten und Schulen. Man redet und liest davon in den Zeitungen. Das Jüdische ist in Buchgeschäften, Kulturzentren, im Supermarkt vorhanden, Juden kaufen ein, spazieren, joggen, spielen Tennis, Klavier, gehen auf Versammlungen, zu Vorträgen, zum Arzt, in die Analyse. Sie sind Produzenten und Konsumenten. Es gibt abgekapselte Gruppen und solche, die jenseits allen Jüdischseins leben. Außerhalb der Orthodoxie ist die Zahl der gemischten Ehen hoch und wird mit Sorge kommentiert. In Berlin fehlt das Alltägliche. Es gibt die Friedhöfe, historische Tafeln und Ausstellungen. Politiker, Schulen und Parteien erinnern regelmäßig an den Judenmord. Der Antisemitismus versteckt sich nicht immer, der Anti-Antisemitismus hat viele Gesichter. Jüdische Gruppen außerhalb der Religionsgemeinden sind fragmentiert. Sie nehmen sich nur gelegentlich als zueinander gehörig wahr. In Berlin würde die Politisierung eines religiösen Feiertags als Konfessionalisierung einer politischen Botschaft missverstanden werden. Nicht der Atheismus, sondern das Unwissen ist das Problem. In Berlin fehlen die Normalität und eine auch gleichgültige Kenntnisnahme des Anderen. Es gibt in der Mehrheitsbevölkerung kaum Erfahrungen, was ein Feiertag oder ein Ritual auf jüdisch, islamisch oder buddhistisch bedeuten kann. Nur langsam arbeitet sich die hiesige Medienwelt heran. In den USA sind Staat und Kirche strikt getrennt, aber in den politischen und sozialen Bewegungen, bei den Regierenden, in der ganzen Bevölkerung sind die Rituale anderer bekannt. Kommerzialisiert dominiert in Deutschland das Weihnachtsfest den Monat Dezember, während Weihnachtsbäume, Engel, Chanukka-Leuchter und Davidsterne gleichberechtigt Manhattans öffentlichen Raum erleuchten. Das deutsche Sonntagsverkaufsverbot ignoriert, dass der jüdische Sonntag am Freitagabend beginnt und vierundzwanzig Stunden dauert und der islamische Sonntag der Freitag ist.“ (S. 82f)
Runge lädt zu Wissen ein. Leichtgängig, interessiert an Details und insbesondere an den Menschen macht sie Lust auf Manhattan und auf das von ihr skizzierte offene, jüdische Berlin. Das Buch sei als Roman, als Autobiographie, als politisches Buch und selbst als Reiseliteratur – für die vielen kleinen guten Manhattan-Tipps – warm empfohlen.
Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand. oder Reisen Ankommen Leben.
Kulturmaschine, Berlin.
ISBN: 978-3-940274-61-8.
327 Seiten. 16,90 Euro.