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Ein europäischer Journalist in Lampedusa

Das Cover zeigt ein Foto, darauf steht der Titel in großen Lettern. Darunter ein schwer mit Menschen, Wasserkanistern und Gepäck beladener alter LKW auf seiner Fahrt durch eine Wüste.
Buchautor_innen
Fabrizio Gatti
Buchtitel
Bilal
Buchuntertitel
Als Illegaler auf dem Weg nach Europa

Der Journalist Fabrizio Gatti will forschen und verstehen und sich wie ein Geflüchteter auf die gefährliche Reise von Westafrika nach Europa begeben. Seine Undercover-Mission: Das Migrationsregime aufdecken.

Es geht um skrupellose Menschenhändler, korrupte Zollbeamte, Al-Quaida-Stützpunkte und die Gewalt Europas − der Kontinent, auf dem menschenunwürdige Internierungslager im Namen des „Migrationsmanagements“ zulässig sind. Der Stil des Buches ist eine Mischung aus Abenteuer-Roman, Feldtagebuch und journalistischer Reportage. Es liest sich so sehr wie ein Abenteuer, dass mensch manchmal den Eindruck hat, es handele sich um ein Action-Thriller, in dem der unerschrockene, weiße Journalist sein Leben riskiert, um die Wahrheit aufzudecken.

Auf der einen Seite kann diese „Action“ als Input für jenes Publikum dienen, welches sich noch nie oder nur wenig mit Migration befasst hat − so wie die Journalistin Annika Müller (2011), die sich aufgrund der schockierenden Inhalte des Buches in der FAZ wünschte, dass das, was Gatti erzählt, Fiktion wäre. Gatti schreibt für das italienische Nachrichtenmagazin L’Espresso, weshalb das Buch eine breitere Öffentlichkeit erreichen konnte. Im Bereich des italienischen Journalismus stellt dies einen wichtigen Aspekt dar, weil dort einige Ereignisse beschrieben werden, die selten von der Presse beachtet oder nur mehr am Rande erwähnt werden. So lautet ein italienischer Kommentar zu dem Buch: „Es würde der Öffentlichkeit helfen, zu verstehen, wie verdorben die öffentlichen Aussagen einiger Volksvertreter sind. […] Gatti ist weit entfernt von den sogenannten Journalisten, die wir im Fernsehen sehen.“ (Eigene Übersetzung eines Kommentars auf ibs.it).

Wer flüchtet?

Auf der anderen Seite könnte die „Action“ aber auch schaden, weil, während der_die Lesende mit dem Protagonisten und seinen Erzählungen sympathisiert, die politische Bedeutung der Frage der Vertretung (wer für wen spricht) in den Hintergrund rückt. Das bedeutet nicht, dass das Buch überhaupt nicht politisch ist: Gatti schreibt über das erbarmungslose Migrationsregime offen und beschreibt detailliert, was er erfährt. Doch sowohl die italienische als auch die deutsche enthusiastische Rezeption des Buches hat diesen wichtigen Aspekt übersehen. Die Position des Autors im Feld als weißer europäischer Journalist verdeutlicht, dass die Reise, die er unternimmt, und die Reise der Menschen, von denen er erzählt, nicht dieselbe ist. Ein Beispiel: Als Europäer hat Gatti, als er auf dem Weg nach Agades krank wird, die Möglichkeit sich von einem Arzt behandeln zu lassen und Medikamente zu kaufen.

Von dem ersten bis zum siebten Kapitel berichtet Gatti über seine Reise von der Hauptstadt Senegals, Dakar, bis zu dem Chaffar Strand in Tunesien − von Westafrika durch die Wüste bis ans Mittelmeer. Er reist durch die Ténéré Wüste mit den Flüchtlingen in einem übervollen Lastenwagen, sein weißes Gesicht mit dem Tagelmust bedeckt (ein Kleidungstück, bestehend aus einem Turban und einem Schleier). Gatti unternimmt diese Route, um die Reise von Menschen auf dem Weg nach Europa hautnah zu dokumentieren. Er besucht das italienische Konsulat in Dakar und erfährt, dass es so gut wie unmöglich ist, mit einem afrikanischen Pass legal in Europa einzureisen. Dadurch sind viele gezwungen, sich auf eine lange und gefährliche Reise durch die Wüste zu begeben, um der Armut zu entfliehen. In Agades, der letzten Stadt vor der Ténéré Wüste, lernt er einige Menschen kennen. Einige von ihnen werden dann in demselben Lastenwagen des Journalisten durch die Wüste mitfahren. Sie sagen zu Gatti, sie seien „stranded“, gestrandet. Der Autor spricht mit ihnen über ihre Geschichten, über ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben, über die Folter, den Hunger, den Durst, welche sie auf der Reise erleiden. Einige von Ihnen werden Libyen erreichen. Einige werden „stranded“ bleiben. Einige andere werden ihr Leben verlieren.

Der politische Hintergrund der Ereignisse des 2007 zum ersten Mal erschienen Buches sind die Verhandlungen zwischen Libyen und Italien für die „Wiederversöhnung nach der kolonialen Vergangenheit“. Sie liefen auf das Bengasi-Abkommen 2009 hinaus, welche die Mobilitätskontrolle im Mittelmeer verschärften und der Europäischen Union und Ghaddafis Libyen wirtschaftliche Profite erbrachten. Dabei wird die Abschiebung der in Libyen lebenden Migrant_innen systematisiert. Dies wird im achten Kapitel am Beispiel der E-Mail-Korrespondenz Gattis mit James und Joseph, mit denen er sich auf der Fahrt in die Wüste angefreundet hatte, und die sich in Libyen befinden, dargestellt. Das ist eines der wichtigsten Kapitel des Buches, weil dort die direkte Beteiligung Europas auf die sogenannte „Sklavenroute“ aufgezeigt wird. Es handelt nicht nur von skrupellosen Kriminellen, sondern auch und in erster Linie von der Macht der Europäischen Union, die sich auf Kosten anderer bereichert. James und Joseph werden gefoltert, erfahren rassistische Gewalt. Trotz ihres Visums für Slowenien können sie das Land nicht verlassen und müssen sich verstecken.

„Zur selben Zeit, als Joseph und James diese E-Mail schreiben und dann in ihr Versteck zurückkehren, erstattet der italienische Innenminister seiner Regierung Bericht über die Kooperation mit Libyen. Um 18:52 erreicht die Redaktion eine offizielle Erklärung. »Der Kampf gegen die illegale Einwanderung trägt Früchte«, behauptet der Innenminister. ‚Die Rückführung zeigt positive Wirkungen, und nicht zuletzt dank der wertvollen Hilfe der libyschen Behörden landen inzwischen weniger Boote an den italienischen Küsten“ (S. 308).

Einige Tage später wird das Embargo gegen Libyen offiziell aufgehoben: „Kein Wort über die Menschenrechtsverletzungen. Über die Massendeportationen in die Wüste, die willkürlichen Verhaftungen und die Folter. Ein Schweigen, das die Mittäterschaft Italiens und Europas verschleiern soll“ (S. 309).

Wer ist in Lampedusa interniert?

Im neunten und zehnten Kapitel beschreibt der Autor seine Erfahrung im Internierungslager Lampedusa. Er will verstehen, was sich dort abspielt. Doch kein Journalist kann in den Käfig von Lampedusa eindringen. Verdeckt als Bilal Ibrahim el Habib aus Kurdistan schafft es Gatti, in Lampedusas Lager eingesperrt zu werden. Er schreibt über die menschenverachtenden Verhältnisse und die polizeiliche Gewalt, die er erfährt und von denen die Geflüchteten tagtäglich betroffen sind. In diesem Teil des Buches benutzt der Autor fast immer die dritte Person. Er will die Geschichte von Bilal, einem Illegalen unter anderen, erzählen. Eine Geschichte, die der Journalist Gatti, laut dem Cover der italienischen Originalversion „am eigenen Leib erfahren hat“, also als seine Geschichte. Es genügt nicht, sich hinter einer fiktiven nicht-europäischen Identität zu verstecken, um „alles“ zu verstehen. Eine komplette Identifikation zwischen Bilal und Fabrizio kann dadurch nicht erfolgen. Das darf mensch während des Lesens nicht vergessen. Die Maske von Bilal fällt dem Journalisten im letzten Kapitel runter. Gatti kehrt für drei Wochen in die Wüste bis zu Agades zurück, um die Deportationen von den libyschen Migrant_innen in Richtung Niger zu dokumentieren. An einem Abend wird er gefragt von jenen Menschen, von denen er in ganzem Buch erzählt:

„Bist du ein Italiener?“ […] Es beginnt ein gefährlicher Gerichtprozess. Mitten in der Nacht, mitten in der Wüste. Ich gegen zweihundert Einwanderer, die erst ausgebeutet und dann abgeschoben werden. Ich werde für schuldig befunden, nur weil ich Europäer bin. So wie Italien und Libyen sie für schuldig befunden haben, nur weil sie keine Europäer sind. Es gibt keinen Ausweg, wenn die Freiheit des Einzelnen von seinem Pass bestimmt wird: zwei Pappdecken mit zweiunddreißig Seiten dazwischen“ (S. 440).

Gatti beschreibt insgesamt eher ein Bild von Migrant_innen als Opfer von Verbrecher_innen, von denen sie beraubt, geschlagen und wie Sklaven behandelt werden. Dass sie sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf eine lebensgefährliche Reise begeben, bleibt vielen Europäer_innen unbekannt. Das Buch stellt daher einen gut gemeinten Versuch des Journalisten dar, die Geschichten dieser Menschen unvermittelt an die Öffentlichkeit zu bringen. Gleichzeitig ist dieser Versuch aber auch problematisch. „Ein Illegaler“, schreibt Gatti am Anfang des Buches, bezeichnet „eine neue soziale Schicht im Europa des 21. Jahrhunderts. Ein Mensch, der unsichtbar ist, nicht zählt, überhaupt nicht vorhanden ist“ (S. 13). Ein illegalisierter Mensch ist aber nicht unsichtbar: Rassistische Migrationsmaßnahmen versuchen, ihn_sie unsichtbar zu machen. Er_sie ist nicht nur ein Opfer von einer Welt skrupelloser Menschenhändler und Krimineller, die sich weit entfernt von Europa verortet. Diese Interpretation ermuntert einen paternalistischen Blick. Sie verdeckt die Rolle der Migration als autonome Kraft für politische und soziale Veränderung. Es gibt Menschen in Europa, die die Wüste und das Meer überlebten und jahrelang in Lagern lebten − in Europa kämpfen sie jetzt für ihre Rechte. Protestkämpfe und Demonstrationen zeigen, dass sie sichtbar sind und dass ihre Stimmen laut werden. Das Lesen dieses Buches sollte in erster Linie helfen, sie zu sehen und zu hören, ihren Mut und ihre Rechte anzuerkennen, mit ihnen solidarisch zu sein, nicht seinen Autoren feiern, der sich „für uns“ geopfert hat, um endlich die „Wahrheit“ zu enthüllen. Die „Wahrheit“ liegt schon auf der Straße, vor unseren Augen. Hier entsteht die Frage, warum noch ein weißer, europäischer „Aufklärer" gebraucht wird (vgl. Schnurer 2010), der „uns“ nachweisen muss, wie erbarmungslos das Migrationsregime gegenüber einem als „nicht zugehörig“ kategorisierten Menschen ist. Der Roman kann zur Sensibilisierung eines breiteren Publikums zum Thema Migrationsregime und zu den Kämpfen der Geflüchtete beitragen, wenn diese wichtige Frage während des Lesens auch mitgedacht wird.

Zusätzlich verwendete Literatur

Müller, Annika 2011: Auf der Sklavenroute durch die Wüste. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.11. Online hier. Schnurer, Jos 2010: Rezension von Fabrizio Gatti: Bilal. In: socialnet, 19.4.10. Online hier.

Fabrizio Gatti 2010:
Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. 3. Auflage.
Verlag Antje Kunstmann, München.
ISBN: 3888975875.
457 Seiten. 24,90 Euro.
Zitathinweis: Marika Pierdicca: Ein europäischer Journalist in Lampedusa. Erschienen in: Umkämpfte Migration. 30/ 2013, Asylpolitik: Wider die Bewegungsfreiheit. 38/ 2016. URL: https://kritisch-lesen.de/s/JFxzb. Abgerufen am: 21. 12. 2024 15:37.

Zum Buch
Fabrizio Gatti 2010:
Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. 3. Auflage.
Verlag Antje Kunstmann, München.
ISBN: 3888975875.
457 Seiten. 24,90 Euro.