Zum Inhalt springen
Logo

Eigene Position unter der Lupe

Buchautor_innen
Paula Bulling
Buchtitel
Im Land der Frühaufsteher
Paula Bulling setzt sich kritisch mit ihrer eigenen Position als weiße deutsche Künstlerin, die über die Missstände in Asylheimen berichten will, auseinander.

Das Jahr 2012 war mit zahlreichen bundesweiten Protestcamps, Demonstrationen und Hungerstreiks für das Thema „Asyl in Deutschland“ ein bewegtes Jahr. Obwohl die Koordination dieser bundesweiten Aktionen maßgeblich von Geflüchteten und Asylsuchenden in Organisationen wie The VOICE Refugee Forum und KARAWANE für Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen getragen wurden, wurden eben diese Personen in den Mehrheitsmedien bestenfalls als „Opfer“ wahrgenommen. Im Fokus der deutschen Berichterstattung standen vielmehr die Ängste weiß-deutscher Anwohner_innen. Sogar Medienbeiträge, wie die Sendung „Auf der Flucht“ von ZDFneo, die angeblich eine Sensibilisierung für Asylsuchende anstrebten, lieferten im Ergebnis letztlich weitere Beispiele für die vermeintliche Überlegenheit der weißen Perspektive – und das in guter Wallraff-Tradition.

Die eigene Biografie in Schwarz-Weiß

Die Graphic Novel „Im Land der Frühaufsteher“ ist zwar auch aus einer weißen deutschen Perspektive produziert worden, doch ist die Autorin und Künstlerin Paula Bulling ihre Positionierung bewusst und macht dies genau zum Thema. Veröffentlicht im Jahr 2012, schildert das Buch einige Schicksale von Asylsuchenden in Sachsen-Anhalt – dem berühmten „Land der Frühaufsteher“, von dem die Geschichte auch ihren Titel erhält. Anders als in vielen herkömmlichen Beiträgen zum Thema setzt sich Bulling in ihrer ersten Veröffentlichung gleichzeitig mit den Fragen auseinander, wie Non-Citizens in ihrem Protest gegen die unmenschlichen Bedingungen im deutschen Asylsystem unterstützt werden können, ohne dass ihre Bewegung vereinnahmt wird, und wie Solidarität mit Non-Citizens gezeigt werden kann, ohne dass für sie gesprochen wird.

In ihrem beeindruckenden Werk „Im Land der Frühaufsteher“ stellt sich Bulling diesen Fragen und erzählt, wie es der Website des Verlags zu entnehmen ist, „[i]n sieben Kapiteln […] vom Leben in Asylbewerberheimen, alltäglichem Rassismus, dem Tod eines Flüchtlings wie auch von der Suche nach einer angemessenen erzählerischen Haltung als weiße Künstlerin“. Eine Besonderheit des Buches ist in diesem Kontext der autobiografische Ansatz, denn Bulling inszeniert sich selber als Teil der Geschichte und macht somit ihre eigene Positionierung klar. Die Hauptprotagonisten sind allerdings die Asylsuchenden selber: Farid, ein Freund von Paula, der in einem Heim in Möhlau wohnt, und Aziz, ein Bewohner der ZAST (Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge) in Halberstadt. Das Buch endet mit dem tragischen Tod von Azad Hadji, der einzige Geflüchtete, der seinen echten Namen trägt. Mit der Unterstützung von Noel Kaboré verwebt Bulling die authentischen Stimmen von Geflüchteten mit ihren eigenen Beobachtungen über die Geschehnisse. Sie zeichnet starke Schwarz-Weiß-Bilder der „Anderen“, ohne dabei zu vergessen, dass sie durch diesen Akt des Zeichnens die Verantwortung trägt, die Geflüchteten selbst zur Wort kommen zu lassen.

Wer darf sich frei bewegen und wohin?

„Reisen“ ist ein Hauptmotiv des Buches. Gleich das erste Bild zeigt zwei weiße Personen, die mit dem Auto nach Sachsen-Anhalt fahren. Sie werden von einem Schild mit dem Werbeslogan „Willkommen im Lande der Frühaufsteher“ begrüßt. Die Fahrerin hört etwas Belangloses im Radio, was durch eine leere Sprechblase symbolisiert wird. Die Europakarte hinterm Fahrersitz zeugt von Reisefreiheit und Grenzenlosigkeit.

Die Protagonist_innen des Buches sind auf unterschiedliche Weise, je nach Status, unterwegs. Um die ZAST in Halberstadt zu besuchen, fahren Paula und ihre Freundin Ina mit dem Fahrrad und mit der Bahn. Abgesehen davon, dass der Weg weit ist, haben sie – wie die meisten Menschen mit sicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland – keine weiteren Probleme zu reisen. Sie kommen sorglos überall hin. Aziz hingegen ist von der Residenzpflicht betroffen. Das ist ein Gesetz, das geflüchteten Menschen verbietet, ihren Landkreis ohne Antrag auf Erlaubnis zu verlassen. Sich frei in Deutschland bewegen zu können ist ein Privileg, das die Geflüchteten auch deswegen nicht haben, weil sie arm sind. Eine Szene beschreibt, wie eine Gruppe von Frauen über eine Stunde zu Fuß gehen muss, um sich mit Paula und Ina am Bahnhof treffen zu können. Mit dem Auto wird als Geflüchtete in dieser Geschichte nur in einer einzigen Situation gefahren: als Hadji schwer verletzt von einem Arbeitsunfall „nicht ins Krankenhaus, sondern nach Möhlau 25km durch die Nacht“ (S. 120) zurück zum Heim gebracht wird. Kurze Zeit später stirbt er.

Das Buch handelt natürlich auch von „Migration“ beziehungsweise der Frage, wer international reisen darf und wer nicht. Menschen, die nach Deutschland flüchten, werden hier erst einmal in einem „Knast, der seinen Namen nicht sagt“ (S. 32) aufgenommen. Diese Tatsache steht im starken Kontrast zu den historischen Bewegungen von weißen Deutschen, die beispielsweise zu den Zeiten der kolonialen Expansion in die Herkunftsregionen einiger der Protagonist_innen gefahren sind, um dort gewaltvolle Verbrechen zu begehen. Solche werden noch heute mit Straßennahmen in deutschen Städten für ihre Taten geehrt.

Auf Seite 97 wird eine Demonstration vor der Ausländerbehörde in Merseburg abgebildet. Eine Person ruft dazu auf gegen die Residenzpflicht, „ein Gesetz aus deutschen Kolonialzeiten“, zu protestieren. Somit werden auch koloniale Kontinuitäten in diesem Buch sichtbar gemacht. Dieselbe Person proklamiert, dass es bereits im „ von den Deutschen besetzten Togo […] das gleiche Gesetz [gab]“ (S. 98).

Eine Sprache des Widerstands

„Sprache“ ist ein weiteres sehr wichtiges Motiv. „Im Land der Frühaufsteher“ – wie im restlichen Deutschland auch – gibt es Multilingualität. Es wird beispielsweise gesächselt, es wird französisch gesprochen, es wird Mòoré gesprochen und es wird natürlich deutsch gesprochen. Farid spricht die Sprache fließend, trotzdem zeigt eine Szene die Überforderung eines alten weißen Mannes, der „plötzlich aus heiterem Himmel“ − und danach weiterhin − mit ihm auf Englisch spricht: „Where are you from?“ (S. 75). Farid klärt ihn auf: „Wissen Sie was? Ich spreche auch Deutsch!“ Das Gesicht des Mannes zeigt totale Irritation. Bulling zeichnet hier vier Köpfe (S. 78), um plastisch zu machen, wie er sich von Farid ab- und zu Paula zurückwendet mit den Worten: „Aber… aber vorhin als sie hier angekommen sind, da haben sie doch in einer anderen Sprache miteinander geredet!“ Paula steht einfach da mit ihren verschränkten Armen und antwortet: „Äh, Äh, Französisch? Aber fragen sie ihn doch selber!“

Diese Episode, die eine leider sehr typisch für viele Schwarze Personen in Deutschland ist, liefert auch ein Beispiel dafür, wie Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, auf verschiedene Art und Weise sich gegen Alltagsrassismus wehren. Hier, nach dem der alte weiße Mann wiederholt die Frage stellt, ob das afrikanische Französisch primitiver sei als das europäische, löst Farid die Situation allmählich mit Humor. Gleich nach dieser Szene allerdings wird die Merseburger Demonstration gegen Residenzpflicht abgebildet. Hier zeigt Bulling, dass obwohl Menschen mit verschiedenen Positionierungen zusammen protestieren, Schwarze Personen die handelnde Rolle haben. Es ist immer ein Schwarzer Mann, der in dem Lautsprecher spricht. Doch sogar auf der Demo wird dieser Mann Opfer von Racial Profiling. Anscheinend ohne triftigen Grund wird er von zwei Polizeibeamten angesprochen. „Schon wieder meinen Ausweis?!“, fragt der Sprecher. Er beschwert sich lauthals gegen diesen offenbar erneuten Versuch ihn einzuschüchtern und erwähnt Oury Jalloh, dessen Schicksal ähnlich anfing (Jalloh wurde auch von Polizisten angesprochen) und mit seinem Feuertod endete.

Zwischen Detail und Skizze

Die schwarz-weißen Bilder sind stark und eindrucksvoll. Die Künstlerin wechselt zwischen sehr detaillierten Porträts und umrissenen Skizzen, eine Technik, die den Blick irritiert und verunsichert. Die Gebäude hingegen sind Klötze und sehen mehr oder weniger alle gleich aus. Ein so ernsthaftes Thema in einem Comic zu behandeln ist ungewöhnlich. Dennoch ist es richtig, dass Bulling ihr künstlerisches Talent genau dort einsetzt, wo es am besten zur Geltung kommt – denn das Ergebnis ist treffsicher. Die Beantwortung der Frage, wie Aktivist_innen mehr Aufmerksamkeit und eine größere Sensibilisierung für Asylsuchende in Deutschland gewinnen können, ist umstritten. Die Diskussion um Rassismus in der linken Szene und die Anerkennung von weißen Positionierungen mindestens genauso. Bulling schafft es, diese Ambivalenz bildlich darzustellen, ohne dabei zu vergessen, worum am Ende es wirklich geht. Die letzten Bilder sind leise, ergreifende Skizzen von der Familie des verstorbenen Hadji.

Paula Bulling 2012:
Im Land der Frühaufsteher.
Avant-Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-939080-68-8.
120 Seiten. 17,95 Euro.
Zitathinweis: Sharon Dodua Otoo: Eigene Position unter der Lupe. Erschienen in: Umkämpfte Migration. 30/ 2013. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1164. Abgerufen am: 20. 04. 2024 14:53.

Zur Rezension
Zum Buch
Paula Bulling 2012:
Im Land der Frühaufsteher.
Avant-Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-939080-68-8.
120 Seiten. 17,95 Euro.