Du bist nicht deine Vergewaltigung
- Buchautor_innen
- Mithu M. Sanyal
- Buchtitel
- Vergewaltigung
- Buchuntertitel
- Aspekte eines Verbrechens
Ein Anstoß zur Veränderung im deterministischen Denken um sexualisierte_sexuelle Gewalt.
In großen roten Buchstaben steht das Wort Vergewaltigung auf der Vorderseite des Buches. Auch der Blick hinein alarmiert: Der Titel des ersten Kapitels verheißt eine sogenannte „Triggerwarnung“. Man erwartet Anrufungen an ein gesichtsloses Patriarchat, vielleicht Forderungen nach einer autoritären Law-and-Order-Politik oder viel Raum einnehmende Artikulationen von Machtlosigkeit und paternalistischen Annahmen. Man erwartet ein Buch, das den Lesenden erklärt, dass Vergewaltigung eine Erfahrung ist, die unumstößlich das gesamte weitere Leben „danach“ prägen muss.
All diese Erwartungen durchkreuzt Mithu M. Sanyal in ihrem Buch gehörig. So kritisiert sie in ihrem ersten Kapitel etwa die Vorstellung, Betroffene sexualisierter_sexueller Gewalt seien selbst bei solch offensichtlichen Buchtiteln nicht in der Lage, ihre mentalen Kapazitäten selbst einzuschätzen. Zugleich spricht sie der Schaffung von Schutzräumen nicht ihre Legitimität ab:
„Das Ziel solcher [Trigger] Warnungen ist, Traumatisierte vor Retraumatisierung zu schützen. Das finde ich wichtig. Gleichzeitig fühle ich mich aber unwohl damit, Menschen, die Opfer eines Verbrechens geworden sind, so zu behandeln, als würden sie dadurch die Fähigkeit zu lesen verlieren“ (S. 7).
Vom Unaussprechlichen zum Unausweichlichen?
Sanyal zeichnet nach, dass die heutige Vorstellung von Vergewaltigung als „schlimmer als der Tod“ dazu führt, dass Vergewaltigung immer als zwangsweise identitätsveränderndes Ereignis angesehen wird; was einerseits darauf verweist, dass es inzwischen überhaupt als Gewalt anerkannt ist, andererseits aber auch gleichzeitig eine Vielzahl an negativen Implikationen für Betroffene bedeuten kann. Diese Vorstellung von Vergewaltigung verweist nämlich nicht nur lediglich auf die progressive Entwicklung der Anerkennung dieser Gewalt, sondern auch auf reaktionäre Vorstellungen von Geschlecht. „Ein großer Teil unseres ‚Wissens über Vergewaltigung‘ basiert auf Menschenbildern, die uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen würden, wenn sie uns denn bewusst wären“ (S. 30). Im Buch erfährt man, dass das „Nein“ einer Frau früher nicht als Nein, sondern schlicht als „ich bin weiblich“ galt, denn eine „gute“ Frau lehnte in dieser Vorstellung Sexualität grundsätzlich immer ab und ein „richtiger“ Mann nahm sich, was er will. „Männliche“ Erregung wurde mit einem Dampfkessel gleichgesetzt, in dem der Dampf einen Weg nach außen auch gegen Widerstände finden muss. Es ist festzuhalten, dass uns hier ein Biologismus grüßt, den viele für überkommen halten, der aber tatsächlich immer noch in unserem Bild von Männlichkeit(en) steckt. „Männliche Gewalt und ein weibliches Sträuben waren ein integraler Teil der Konstruktion von ‚normaler‘ Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert“ (S. 19). Diese Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen sind in Teilen bereits in der Antike vorzufinden, finden sich auch in den Arbeiten zur Evolutionstheorie, der Aufklärung, und der Psychoanalyse wieder und wirken bis zum heutigen Tage nach:
„Für das deutsche Strafrecht war die Idee der nicht unwillkommenen Gewalt […] noch bis in die 1970er Jahre relevant. So wurde bei einem Strafprozess der Nachweis erwartet, dass die Frau sich nicht nur gewehrt, sondern diesen Widerstand die ganze Zeit über aufrechterhalten hatte“ (S. 21).
In Sanyals Darstellung des historischen Diskurses um Vergewaltigung wird deutlich, dass das berühmte „Nein heißt Nein“ der sogenannten zweiten Frauenbewegung eine logische Konsequenz aus diesen vorangegangenen Auseinandersetzungen war. Mit Blick auf die Geschichte des Feminismus stellt Sanyal jedoch auch fest: Das Reden über Gewalt oder über eine „sexuelle Unterworfenheit“ von Frauen fällt uns als Gesellschaft leichter als das Reden über die Sexualität und selbstbestimmte sexuelle Aktivität von Frauen. Eine der zentralen Aussagen in Sanyals Buch ist somit, dass
„die Art, wie wir über Vergewaltigung denken, […] in einem erschütternden Verhältnis zu der Art [steht], wie wir über Sex denken, und damit sind in diesem Fall Sexualität und Geschlecht gleichermaßen gemeint“ (S.18).
Während die sogenannte erste (bürgerliche) Frauenbewegung Vergewaltigung noch nicht zum Thema machte, sondern ihre Kämpfe gegen Prostitution als „Ehezerstörer“ richtete, ging es der zweiten Frauenbewegung unter anderem darum, „nachzuweisen“ dass Vergewaltigung kein Versehen und eben auch keine Lustbefriedigung der Betroffenen ist. Es entstanden Überlegungen zu einem Konzept, das heute als „Vergewaltigungskultur“ bezeichnet wird. Feminist_innen griffen die Vorstellungen davon, was als Gewalt gilt und was nicht, als „Vergewaltigungsmythen“ an: statt dem klischeehaften Fremden, der Frauen im Park überfällt, wurde versucht, Täter wie Ehemänner und Bekannte der Betroffenen in den Fokus zu rücken. Aus der „nicht unwillkommenen Gewalt“ wurde ein „Schicksal“, das schlimmer sei als der Tod. Grund hierfür war, dass diese Unfreiwilligkeit gesamtgesellschaftlich plausibel vermittelt werden musste, dies geschah dann auf Basis der angeblich für immer zerstörten Persönlichkeit der Gewaltbetroffenen. Das rhetorische Vorgehen erscheint plausibel: man nimmt Elemente der „alten Story“ wie die nicht unwillkommene Gewalt, und kehrt sie ins Gegenteil um, in eine Gewalt, die das ganze Leben betrifft, wodurch deutlich werden soll, dass es tatsächlich Gewalt ist. Dabei betont Sanyal jedoch ebenfalls mit Nachdruck:
„Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Vergewaltigungsmythen [der „alten Story“] in Wirklichkeit der Wahrheit entsprochen hätten, sondern dass der alte Diskurs den neuen noch immer bestimmt, wenn auch als Negativfolie“ (S. 41).
Das Wissen, das wir unbewusst jedoch immer wieder auf diese Negativfolien beziehen, scheint in Teilen verschüttet zu sein, was wiederum auf Kosten von Betroffenen sexualisierter_sexueller Gewalt geht. Diese stehen unter enormen Druck, ein glaubhaftes Opfer darzustellen, um ernst genommen zu werden: ohne eigene Sexualität, um darzustellen, die sexuelle Gewalt in keiner Weise gewollt zu haben; und in irgendeiner Weise „beschädigt“, um den Beweis zu liefern, dass das Geschehene auch wirklich Gewalt war. Betroffene, die sexuell selbstbestimmt auftreten und deren persönliche Integrität nicht auf den ersten Blick zerstört ist, erfahren aus diesem Grund in Teilen eine enorme soziale Abwertung und Aberkennung ihres Schmerzes.
Anzuerkennen, dass auch feministische Rhetorik in Teilen auf diesen alten Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität basieren, würde aktuellen feministischen Auseinandersetzungen sehr guttun; es würde bei der Dekonstruktion der biologistischen Geschlechtervorstellungen helfen und politisch Mut machen, dass „männliche Täterschaft“ und „weibliche Opferschaft“ nicht für immer ein Teil unserer Menschheitsgeschichte sein müssen.
Neue Worte finden dürfen, neue Bilder zeichnen können
So sehr Sanyal dabei zuzustimmen ist, dass cis-heteronormative Strukturen auch Gewalt gegen Jungen und Männer ausüben und legitimieren, so sehr verwundert doch ihr anprangernder Duktus diesbezüglich gegenüber Feminist_innen. Es wäre wünschenswert gewesen, dass Sanyal an dieser Stelle die abwesenden linken Männer in Theorie und Praxis queerer und feministischer Kämpfe thematisiert hätte.
Eine der größten Stärken von Sanyals Buch ist jedoch, das vorherige Beispiel ausgenommen, dass es in der Gesamtwirkung ohne erhobenen Zeigefinger daherkommt und auch dadurch ein Angebot der Wiederaneignung von Denk- und Handlungsoptionen schafft. Es vermittelt, dass es okay ist, sich als Betroffene_r von sexualisierter_sexueller Gewalt so zu fühlen, wie man sich fühlt, und dass ein Gefühl von Machtlosigkeit in aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen plausibel ist. Es vermittelt aber auch, dass wir gesellschaftlich dazu angehalten sind, ein ganz spezifisches Narrativ von Gewaltbetroffenen zu bedienen, das es kritisch zu hinterfragen gilt. Es richtet sich nicht an spezifische Gruppen wie etwa Unterstützer_innen oder nur die Betroffenen selbst. Das ist eine Stärke, da es einen gesamtgesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema propagiert. Sanyal ist sehr darauf bedacht, Gewalt nicht zu individualisieren, sondern vielmehr die strukturellen Bedingungen der Gewalt ins Auge zu fassen, die mehr Handlungsoptionen bieten als ein gebetsmühlenartiges „Wir leben halt in einem Patriarchat“. Sie fordert in ihrem Buch, und konsequent bei vielen öffentlichen Auftritten, eine Enthierarchisierung von gesellschaftlichen Institutionen und benennt zudem Entmilitarisierung als eine wirksame Form der Vergewaltigungsprävention. Auch macht Sanyal klar, dass der Ruf nach höheren Haftstrafen und ähnliche autoritaristische Präventionsideen nur die Illusion einer Sicherheit schaffen, faktisch aber die große Mehrzahl der Täter und Täter_innen nicht davon abhält, Gewalt auszuüben, da es sich um ein gesellschaftlichen Problem handelt, das nicht rein juristisch zu lösen ist.
Die Sprengkraft, die Sanyals Diskursanstoß außerhalb und auch innerhalb feministischer Kreise hatte, zeigt, dass noch immer viel Diskussionsbedarf zu sexualisierter_sexueller Gewalt herrscht. Inhaltliche und konstruktive Kritiken an Sanyals Thesen waren selten, halfen aber durchaus diesen Themenkomplex multiperspektivisch und kritisch zu beleuchten. Personalisierte Angriffe „aus den eigenen Reihen“ wie auch von rechts zeigten aber auch, dass ihr Buch quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen so sehr an herrschenden Vorstellungen zu Geschlecht kratzt, dass Menschen sie zum Zweck des Erhalts von rassistischen und geschlechtlichen Machtverhältnissen wie Zweigeschlechtlichkeit erbittert bekämpfen. Spannend zu beobachten ist dabei, dass Mithu Sanyal, eine junge Woman of Color, die sich wiederholt für rassismuskritische und queere Perspektiven stark macht, dabei trotz enger Zusammenarbeit mit weißen Feminist_innen als einzige in den Fokus der Abwertung gerät – ein_e Schelm_in, wer Böses dabei denkt. Und obwohl sie in vielerlei Kontexten betont, Betroffenen von Gewalt nicht die Definitionsmacht über ihre Lebenswelt oder ihre Selbstbezeichnung absprechen zu wollen, sondern die durchaus inhaltlich zu diskutierenden Versuche betont, das Denken von Vergewaltigung als identitätsstiftendem Element zu pluralisieren, wird ihr dieser Versuch des pluralistischen Sprechens über Vergewaltigung zur antifeministischen Kampfansage hochstilisiert, bis hin zu impliziten, feministisch absolut unsolidarischen Nötigungen, sich selbst als Betroffene dieser Form der Gewalt zu „outen“, denn Sanyal würde ja nur über die Erlebnisse Dritter diskutieren (woher maßen sich diese Kritiker_innen an, dies zu wissen?).
Sanyal ist mit diesem Buch gelungen, einen kommunikativen Knoten zu lösen: Sie setzt dem politisch lähmenden, gesellschaftlichen Unvermögen, differenziert über Vergewaltigung zu sprechen, etwas entgegen. Indem sie die historischen Kontexte dieses Unvermögens nachzeichnet, dekonstruiert sie die Vorstellung, dass aus emanzipativer Intention ausschließlich emanzipative Wirkung folgt und liefert nötige Anregungen zum Weiterdenken in feministischer Theorie und Praxis. Am Ende bleibt vor allem das Plädoyer, Menschen als Betroffene sexualisierter_sexueller Gewalt unabhängig von ihrer Selbstbezeichnung und Präsentation ihrer Identität als Subjekte ernst zu nehmen und nicht als bloße Objekte von Gewalt wahrzunehmen.
Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens.
Edition Nautilus, Hamburg.
ISBN: 978-3-96054-023-6.
237 Seiten. 16,00 Euro.