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Dorfidyll und Massenmord

Buchautor_innen
Peter Kern
Buchtitel
Dorfansicht mit Nazis

Die autobiografisch durchdrungene Ezählung verbindet eine Kindheit und Jugend in einem pfälzischen Dorf in den 1970er Jahren mit der Geschichte der Shoah.

„‚Ab in die Kaschee‘, die Kinder sollten zu Bett gehen. Vater hatte zu Ende erzählt. Seine Kaschee stand unter der Dachschräge, sein Gitterbett“ (S. 9).

Mit diesen Sätzen führt uns Peter Kern in das pfälzische Rodalben, in dem er mit seinem Bruder und vielen Verwandten seine Kindheit und Jugend verbrachte. „Die Kinder des Dorfs kannten drei Feste im Jahr, eins schöner als das andere: Kirmes, Karneval und Silvester“ (S. 15). Kern führt die Leser*innen mit seiner anschaulichen Erzählweise in eine Welt, in der das Schlachten der Schweine ein Ereignis ist, an dem das ganze Dorf Anteil nimmt und die Kirche das Leben der Menschen wesentlich bestimmt. Um zu wissen, wie spät es ist, brauchte man nur die Glockenschläge der Kirche zu zählen, die alle hören konnten oder mussten. Aber die Kirche bestimmte auch die Psyche der Menschen.

„Vor Ostern mussten alle Sünden noch raus. Das schwarze Gesangbuch wies vorne den Beichtspiegel auf. Ein Beichtspiegel, der hält einem den Spiegel vor. Dort las das Kind, woran es vielleicht nicht gedacht hätte, bevor es Samstagsnachmittag in den dunklen Beichtstuhl trat“ (S. 25).

Hier erweist sich Kern als guter Erzähler, der allein mit der Erwähnung der Farbe des Beichtstuhls noch einmal deutlich macht, dass es sich hier um ein Herrschaftsinstrument handelte, vor dem die Menschen Angst hatten. Peter Kern lässt auf knapp der Hälfte des Buches teilhaben, wie aus Peterle, dem Kind Peter, der Junge wurde, dessen Welt sich bald nicht mehr um den Kirchturm und den Beichtstuhl drehen sollte.

Aus der Familie herauswachsen

„Lange Haare – kurzer Verstand“ ist das Kapitel überschrieben, das der belesene Autor noch mit einem passenden Augustinus-Zitat einleitet: „So gelangte ich denn auf der Wanderung von der Kindheit zur Gegenwart ins Knabenalter, oder vielmehr, es kam zu mir und folgte auf die Kindheit“ (S. 78). Mit den langen Haaren des älteren Bruders fing es an. Der unfreiwillige Internataufenthalt des Jungen kam hinzu und weckte seine Unzufriedenheit, auch mit den patriarchalen Verhältnissen in der Familie. Der Heranwachsende nahm sich ein Vorbild am größeren Bruder, der nicht nur mit den langen Haaren anzeigte, dass er mit der Gegenkultur sympathisierte. Er hatte Freund*innen in der größeren Stadt. Er lehnte den Vietnamkrieg ebenso ab wie die Bundeswehr, das waren alles Themen, über die zuvor nicht am familären Küchentisch gesprochen wurde. Bald wurde ihm Rodalben zu eng. „Der Junge hatte Heimweh, aber durfte er in die Ferien, fuhr er mit der Bahn zu seinem nun in Freiburg studierenden großen Bruder“ (S. 81). Dort lernte der Junge eine Welt kennen, in der es keinen Beichtstuhl und keine Kirchenglocken gab. In der studentischen Wohngemeinschaft des Bruders war scheinbar alles erlaubt, was in Rodalben verboten war. Für den Jugendlichen war es eine neue Welt. „Überall durfte er mit. Es war kein Dürfen und kein Um-Erlaubnis-Fragen, er trank, er rauchte, er spielte 66 einfach mit. Nur mitdiskutieren ging nicht“ (ebd.). Doch das sollte sich bald ändern. Durch die Besuche in Freiburg sah der Junge bald das Dorf- und Familienleben in neuem Licht:

„Der Junge teilte die Meinung des Bruders über das Weihnachtsgebäck und die Familienmitglieder. Der Vater sei ein alter, kranker, von seiner Frau tyrannisierter Mann, die Mutter ein herrschsüchtiger Drachen, der den Katholizismus ihrer Familie mit Löffeln gefressen habe, die Schwester ein ihr gehorchendes braves Mäuschen, der Bruder Werner ein mit seinem Straßenkreuzer angebender Kapitalist, dozierte der große Bruder“ (S. 83).

Da konnten Konflikte nicht ausbleiben. Bald forderte die Mutter, dass sich der Junge, der bei der Haarlänge mit seinem älteren Bruder konkurrierte, nur noch in der Küche aufhalten sollte, wenn die Verwandtschaft zu Besuch kam.

Die Entdeckung der Genossen

In den folgenden Kapiteln beschreibt Kern, wie ein junger Mensch im pfälzischen Dorf in den späten 1960er Jahren Marx und den Republikanischen Club in der nächsten Stadt kennenlernte. „Der Junge brachte schon bald ein ganzes Jahr auf der neuen Schule zu, da machte er eine beglückende Entdeckung. Neben all den Spießern und Angepassten gab es Genossen“ (S. 96).

Bald musste der Junge aber erkennen, dass auch Genoss*innen Spießer*innen sein können. Dann ist er schon zum Mann geworden, wie er im Buch fortan nur noch genannt wird. Diese Entwicklung beschreibt Kern sehr dicht mit viel Humor und Selbstkritik. Sie endet in dem Buch mit dem Studienbeginn. Wie da aus den jungen Marxisten der sozialistische Gewerkschafter Peter Kern wurde, erfahren wir nicht. Wir können nur ahnen, dass er manche seiner linken Gewissheiten der Jugendjahre verloren hat.

30 Jahre später kommt der Mann wieder zurück nach Karlsruhe in eine in manchen Dingen völlig veränderte politische Landschaft. Die Mauer war gefallen und Helmut Kohl war mittlerweile viele Jahre Kanzler. Wir befinden uns in den 1990er Jahren.

„In Solingen starb eine vierköpfige türkische Familie, weil Neonazis nachts ihr Haus anzündeten, und Karadzic, Milosevic und Mladic begingen Völkermord, während eine Linke ihren Pazifismus entdeckte und gegen die Nato protestierte, welche die Massenmorde verhindern sollte.“ (S. 160)

In diesen Sätzen zeigt sich, dass der Mann manche linke Positionen seiner Jugendjahre hinter sich gelassen hat. Man möchte ihn fragen, warum diese Einseitigkeit bei der Beurteilung des Jugoslawienkonflikts. Doch darauf geht Kern nicht weiter ein.

Geschichte des pfälzischen Judentums

Der zweite Teil des Buches wird zu einer „autobiographisch gerahmten Studie, die in authentisch geschilderte Spuren über einen weitgehend vergessenen Personenkreis der nationalsozialistischen Gewaltpolitik informiert: das pfälzische Landjudentum“, wie der Sozialwissenschaftler Michael Brumlik im Klappentext schreibt. Dabei konnte Kern auf die Arbeit von Peter Conrad zurückgreifen, der seit Jahren die Geschichte der Juden in Rodalben erforscht, sich um die Verlegung von Stolpersteinen kümmert und Spaziergänge zu Orten jüdischen Lebens in dem Ort organisiert.

Am Anfang der Beschäftigung mit der Geschichte der Jüdinnen und Juden stand eine Frage, die den politisch aktiven jungen Peter Kern umtrieb. War Tante Antoinette, an die er viele Kindheitserinnerungen hatte, etwa an der Verfolgung der Juden in Rodalben beteiligt? Der Verdacht entstand, weil in ihrem Haus in der Nazizeit der berüchtigte Gauleiter Josef Bürckel jüdische Familien eingepfercht hatte, bevor sie in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. Bei seiner Recherche stellt sich heraus, dass Tante Antoinette damit nichts zu tun hatte und das Haus viel später kaufte. Aber bei Kern war Interesse an der Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Region bis ins 19. Jahrhundert geweckt.

So zeichnet er die Biographe von Julius Moses nach, eines einige Jahre in Rodalben praktizierenden Arztes, dessen Name in den Kalenderblättern, einer Art Dorfchronik, nicht erwähnt wird. Dabei hatte sich Julius Moses, der ein Freund von Theodor Herzl war, auf dem Gebiet der Kinderpsychologie einen Namen gemacht. Weil er noch rechtzeitig nach Tel Aviv ausreisen konnte, blieb er von der NS-Vernichtungspolitik verschont. In hohem Alter erinnerte er sich in seinen letzten Texten an sein Leben in Rodalben zurück. Auch an Ludwig Samuel erinnert Kern in seinem Buch. Der Kaufmann gehörte zu den Honoratioren des Dorfes, saß im Vorstand des Synagogenrats, war Mäzen des Krankenhauses und warnte frühzeitig vor dem Aufstieg der Nazis. Nachdem sie an der Macht waren, wurde er von der Gestapo in Neustadt verhört und wie ein Verbrecher behandelt. 1939 gelang ihm und seiner Frau in letzter Minute die Flucht. 1946 besuchte er noch einmal Rodalben. „Sein Sohn Fritz spricht von der Verbitterung seines Vaters. Den macht man zum Ehrenbürger des Dorfs, aber sein Eigentum ist unwiderruflich den Herren Bernd und Knecht vermacht“ (S. 203), so beschreibt Kern, wie die Profiteure der Arisierung im Dorf auch 1945 vom geraubten Besitz profitierten. Ergreifend ist auch das Kapitel über Gustav Samuel, Ludwigs Bruder, der nach seiner Ausreise in die USA verarmt und in einem Briefwechsel an die Nazi-Behörden vergeblich um die Auszahlung seines eingezogenen Sparguthabens bittet.

Von hohem historischen Interesse ist auch ein Briefwechsel der NS-Täter, den Kern in seinen Buch erstmals publik macht. Es geht um die jüdische Familie Metzger aus Rodalben, die nach der Arisierung ihres Eigentums bei Verwandten in der Nähe von Göppingen Zuflucht gefunden hatte. Der dortige NSDAP-Bürgermeister wollte sie wieder loswerden und geriet darüber mit seinem pfälzischen Amtsbruder in einen heftigen Streit, der sogar das Innenministerium von Württemberg und die Kreisverwaltung der NSDAP beschäftigte. „Die Partei wußte Rat. Sie veranlasste die Deportation der Familien Metzger-Baer von Süßen nach Riga“(S. 225), schreibt Kern. Nur eine Tochter überlebte und konnte später nach Haifa ausreisen.


Fast am Ende des Buches betont Kern noch einmal, dass seine geliebte Tante Antoinette eine clevere Geschäftsfrau war, sich aber nicht an jüdischem Eigentum bereichert hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Bewohner*innen von Rodalben. Die scheinbare dörfliche Idylle war auch der Ort, wo die Juden entrechtet, beraubt und oft in die Vernichtungslager deportiert wurden. Das hat Peter Kern in seinem Anti-Heimat-Roman beschrieben.

Peter Kern 2024:
Dorfansicht mit Nazis.
Hentrich & Hentrich, Leipzig.
ISBN: 978-3-95565-647-8.
280 Seiten. 24,90 Euro.
Zitathinweis: Peter Nowak: Dorfidyll und Massenmord. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/xuGsn. Abgerufen am: 16. 10. 2024 02:18.

Zum Buch
Peter Kern 2024:
Dorfansicht mit Nazis.
Hentrich & Hentrich, Leipzig.
ISBN: 978-3-95565-647-8.
280 Seiten. 24,90 Euro.