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Die Krise zu fassen bekommen

Buchautor_innen
Redaktion Corona-Monitor (Hg.)
Buchtitel
Corona und Gesellschaft
Buchuntertitel
Soziale Kämpfe in der Pandemie
Die Dokumentation des Corona-Monitors versammelt Analysen zur Pandemie, aber krankt an ihrem Bezug zur Praxis.

Inmitten einer Krise, so heißt es oft, verstärken sich die gesellschaftlichen Probleme und Dynamiken wie durch ein Brennglas. Eine gesellschaftliche Kluft wird sichtbar und die immer öfter aufblitzenden Widersprüche können nicht mehr ignoriert werden. Wenn es nicht so zynisch wäre, ließe sich stets darauf wetten, dass die Krise die Randbereiche der Gesellschaft umso heftiger trifft. Jene Randständigen werden also noch weiter abgedrängt, die Verlierer*innen verlieren noch mehr und die Ausgebeuteten werden noch stärker ausgebeutet als sowieso schon. Für den Staat findet sich in diesem Teilbereich der Gesellschaft oft auch ein Ausweg aus der Krise: Es handelt sich nämlich um diejenigen, die die Kosten der Krise tragen. Das ist leider Kern einer jeden Krise und ihrer staatlich-politischen Bearbeitung. Das zeigt sich insbesondere auch im Zuge der Covid19-Pandemie.

Versuch von eingreifendem Denken

Um die gesellschaftlichen Entwicklungen des globalen und dennoch lokal unterschiedlich gewandelten Zusammenlebens durch die Corona-Pandemie zu begreifen, hat der – von einem akademischen losen Zusammenhang gemeinschaftlich betriebene – Blog Corona-Monitor die sich mitunter überschlagenden Ereignisse hierzulande zu dokumentieren versucht. Das Ansinnen war, sichtbar zu machen, was wo aus welchen Gründen passiert. Gleichzeitig ging es dem Blog nicht nur um eine kritische und kollektiv betriebene Beobachtung, sondern auch um eine Analyse und Einordnung des Pandemiegeschehens. Ein sinn- und mühevolles Anliegen inmitten der pandemiegetriebenen Revolutionierung unserer Lebensweisen!

Nun hat die Online-Redaktion des Corona-Monitors jüngst den Sammelband „Corona und Gesellschaft“ als eine Art Dokumentation ihres Monitoring-Projektes veröffentlicht. Hier werden beobachtende und theoretisierende Beiträge einer Gruppe kritischer Sozialwissenschaftler*innen versammelt, die im Zuge der Corona-Pandemie verfasst wurden. Die Zusammenstellung fokussiert dabei besonders auf eine Einordnung der staatlichen und gesellschaftlichen Transformation in Reaktion auf COVID-19. Näher beleuchtet werden vor allem die Felder Arbeit, Migration, Sicherheit und Ordnung, rechte Politik und Solidarität. Explizite Beiträge zur Rolle von sozialen Kämpfen in der Pandemie sind hingegen unterrepräsentiert.

Was los war

Die Beiträge des Bandes funktionieren auf kritische und zugleich reflektierende Weise als Gradmesser gesellschaftlicher Transformationsprozesse inmitten der Pandemie, und zwar in doppelter Hinsicht. Spannend ist hier die zeitliche Ebene. Die meisten Beiträge wurden zu Beginn der Pandemie bis zum Sommer 2021 verfasst. Das verleiht der Publikation zum einen ihren dokumentarischen Charakter. Es ist, als ginge man in „Corona und Gesellschaft“ auf eine Zeitreise: von den Anfängen über die Anpassung an den neuen Status quo bis zu den ersten Hochphasen der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Tektonik.

Angesichts der dabei zahlreich hervorgetretenen Missstände lässt das eine*n auch mal die Hände über dem Kopf zusammenschlagen; zum Beispiel, wenn die staatliche und polizeiliche Missachtung des Versammlungsrechts und die Verhinderung von Protest während der ersten Coronawelle vom Autor*innenkollektiv Wäscher/ Siemer/ Schmid/ Karl dargestellt wird. Ebenso bringt eine*n der Bericht von Louisa Bäckermann und Peter Birke zur Verschärfung und zeitgleichen Legitimierung der städtischen und rassistischen Segregation in Berlin und Göttingen unter dem Mantel des Infektionsschutzes zum Verzweifeln. Auch die Leipziger Coronaproteste von rechts werden in einem lesenswerten Beitrag von Steven Hummel und Paul Zschocke nachgezeichnet und eingeordnet. Einige der bedeutsamsten Ereignisse aus dem Monitoring und zentrale Auseinandersetzungen des Krisendiskurses kann man in dem Sammelband also nun nachlesen.

Das Buch bietet neben kritischer Analyse im Nachgang zum anderen die Gelegenheit, die diskursiven wie auch eigenen Positionierungen im Pandemiegeschehen nachzuvollziehen und zu hinterfragen. In der Krise besteht immer die Gefahr einer theoretischen Schnelllebigkeit, die einer erkennenden und verändernden Praxis im Wege steht. So auch in der Corona-Pandemie: Es gibt einiges, was wir falsch eingeschätzt haben und was wir mittlerweile anders einordnen. Einige Texte des Sammelbandes sind daher um Aktualisierungen und somit um interessante Fortschreibungen oder Richtungsänderungen der Beiträge aus einer anderen Phase der Pandemie ergänzt. Sie werden somit diachron und spiegeln auch unser Denken inmitten des Krisengeschehens wider. Die Möglichkeit der kritischen Aktualisierung der eigenen und im Zuge der Krise weiterentwickelten Positionen und Forschungen wurde allerdings nicht genügend ausgeschöpft. Oft sind es dann sind nur kurze Aktualisierungen und Ergänzungen, die den Beiträgen angehängt sind. So lässt sich der Eindruck, teils veraltete Analysen zu lesen, leider nicht ausblenden. Auch das Schlusswort bleibt nur eine “kurze Reflektion” des Monitoring-Projekts und zielt weniger auf die Zeit nach dem Krisenhoch.

(N)irgendwo Widerstand

Mehr als dieser ungenutzte Reflexionsraum fehlt allerdings die mangelnde Beschäftigung mit der Linken und ihrer Praxis selbst. So waren es doch vor allem die gesellschaftlichen Kämpfe, von denen in der Pandemie allzu selten etwas zu bemerken war. Einige Bereiche der politischen Auseinandersetzung wurden – so scheint es – mit dem Lockdown ebenso zum Stillstehen gebracht. Einer der wichtigsten Bedingungen politischer Betätigung, der Öffentlichkeit und des zwischenmenschlichen Kontakts, beraubt, verlor die Linke den politischen Willen mitunter gleich mit. Doch kann von einem vollständigen Scheitern der Linken in der Pandemie wiederum auch nicht gesprochen werden. Während gesellschaftliche Interventionen, etwa in die staatliche Corona-Politik fehlschlugen oder Protest überhaupt nicht stattfand, erfuhren andere politische Felder der Linken ein Novum an Organisierung, etwa der Berliner Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ oder die Fortführung des dezentralen Protests gegen das europäische Grenzregime.

Der bloße Pandemiezustand reicht hier also nicht zur Erklärung. Diese Gegenläufigkeit muss erklärt werden. Es heißt also, sich auch grundsätzlich der thematischen und praxisbezogenen Schwäche der Linken zu widmen. Die Hoffnung, dass – wie der Untertitel suggeriert – „Soziale Kämpfe in der Pandemie“ verhandelt werden, enttäuscht der Sammelband. Die Beantwortung der Fragen nach Protest, Austausch und Handlungsfähigkeit in der Coronakrise, „wenn ein Virus scheinbar alle eingespielten Alltage und lebenswichtige Prozesse zum Erliegen bringt“ (Klappentext), fällt leider spärlich aus. Zu vieles hat man in zwei Jahren Pandemie schon gehört und gelesen. Einzig die Schwierigkeit und Diffusität von Solidarität in der Coronakrise wurde etwas näher behandelt. Der vorliegende Sammelband steht hier also nur für eine begonnene Beschäftigung mit der Pandemie aus kritischer und aktivistischer Perspektive. Es muss weiter – und auch mal tiefer – gegraben werden. Die geschehenen und noch geschehenden Umwälzungen durch die Pandemie werden uns noch einiges an Kopfarbeit abverlangen. Für die Linke geht es dabei auch um die veränderten Bedingungen, unter denen sie ihre Kämpfe führt.

Weiterführende Literatur

Datenbank Corona-Monitor. Hier geht es zur Webseite.

Redaktion Corona-Monitor (Hg.) 2021:
Corona und Gesellschaft. Soziale Kämpfe in der Pandemie.
Mandelbaum Verlag, Wien.
ISBN: 978385476-911-8.
280 Seiten. 18,00 Euro.
Zitathinweis: Thore Freitag: Die Krise zu fassen bekommen. Erschienen in: Pandemisches Zeitalter. 63/ 2022. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1751. Abgerufen am: 24. 04. 2024 00:14.

Zum Buch
Redaktion Corona-Monitor (Hg.) 2021:
Corona und Gesellschaft. Soziale Kämpfe in der Pandemie.
Mandelbaum Verlag, Wien.
ISBN: 978385476-911-8.
280 Seiten. 18,00 Euro.