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Die Ignoranz der Behörden

Buchautor_innen
Gideon Botsch, Gesa Köbberling, Christoph Schulze (Hg.)
Buchtitel
Rechte Gewalt
Buchuntertitel
Aktuelle Analysen und zeithistorische Perspektiven auf das Land Brandenburg

Der Sammelband zeigt am Beispiel von Brandenburg, wie rassistische Gewalt, polizeiliches Desinteresse an Ermittlungen und unterlassene Hilfeleistungen durch Beamt*innen ineinandergreifen.

Rechte Gewalt ist alltäglich. Jeden Tag werden mindestens fünf Menschen in Deutschland bedroht, angegriffen oder schwer verletzt. Das Buch „Rechte Gewalt“ nimmt mit einem Schwerpunkt auf Brandenburg das Thema interdisziplinär und multiperspektivisch in den Blick. Dieses Anliegen haben die Herausgeber*innen der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle in Kooperation mit der langjährig in der Betroffenenberatung tätigen Professorin Gesa Köbberling hervorragend umgesetzt: Die 16 Beiträge reichen von Interviews mit Betroffenen rassistischer Gewalt über politikwissenschaftliche Analysen, von Perspektiven auf die Herausforderungen der Betroffenenberatung über die Rolle zivilgesellschaftlichen Engagements heute bis zu Gewaltpraxen und Inszenierung rechter Akteur*innen.

Von Leerstellen, die bleiben

Eine folgenreiche Leerstelle, welches die Herausgeber*innen herausstellen, ist die mangelhafte Quellenlage: Zu wenig, zu fragmentarisch ist über rechte Gewalt Anfang der Neunziger Jahre bekannt, so dass die Geschichte rechter Gewalt im Bundesland bisher vor allem aus der Perspektive der Täter*innen sowie der Justiz- und Sicherheitsbehörden rekonstruierbar ist. Soweit möglich, wird im Buch auf diese Lücken immer wieder hingewiesen und versucht, sie zu schließen.

Besonders eindrücklich beschreibt den Kampf um Erinnerung der Essay „Überschreiben“ der Schriftstellerin Manja Präkels, die Teile ihres eigenen Erlebens und Aufwachsens in ihrem Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ literarisch aufbereitet hat. Manja Präkels war selbst als 16-jährige Zeugin des Überfalls auf eine Diskothek im Januar 1992, in der der damals 18-järhige Ingo Ludwig getötet wurde. Ihr emotionaler Beitrag setzt sich nicht nur mit der eigenen Suche nach den Perspektiven auf die Vergangenheit auseinander, sondern beschreibt auch das Zusammentreffen mit Käthe und Ricarda Ludwig, der Mutter und Schwester von Ingo. Ricarda, die jüngere Schwester Ingos, weiß lange Zeit nicht, wie ihr Bruder zu Tode kam. Erst durch eine Internetrecherche und Manja Präkels Roman erfährt sie Details. Ihre Mutter Käthe sprach aufgrund der traumatischen Erfahrung jahrelang nicht über das, was damals in der Diskothek passiert ist. Schmerzhaft beschreibt Manja Präkels, dass aus Angst auch sie selbst nicht geholfen hat damals. Dieser Schmerz, diese Unvorstellbarkeit zeigt sich auch in ihren Bezügen zum Schreiben über rechte Gewalt: „Das Schreiben über rechte Gewalt ist so unzumutbar wie die Gewalt selbst. Es ist riskant und dennoch notwendig. Auch jenseits eigener Betroffenheit.“ (S. 38).

Bei den Hinterbliebenen setzt der Beitrag „Ein Riss, der bleibt“ von Judith Porath an. Diese hat mit den Hinterbliebenen von Ingo Ludwig und Timo Kählke gesprochen. Timo Kählke wird im Dezember 1991 von vier Neonazis einer Wehrsportgruppe erschossen, als diese ein Fluchtauto für einen geplanten Raubüberfall besorgen wollen. Judith Porath kritisiert den verharmlosenden öffentlichen Diskurs der damaligen Zeit, der Verständnis für die Täter, aber nicht für die Opfer hatte. Ohnmacht, Angst, Wut und tiefe Trauer prägt bis heute das Andenken der Angehörigen. Die Mutter von Ingo Ludwig erzählt im Interview, dass es keine Unterstützung für die Angehörigen gab, weder seelsorgerisch, im Ort oder in der Beratung zur Möglichkeit der Nebenklage. Die Witwe von Timo Kählke beschreibt, welche Belastung es für sie war, mit 25 Jahren als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ohne Unterstützung dazustehen, sowohl finanziell als auch im Ort. Auf Ämtern und durch Behörden erfährt sie Ignoranz. Sie beschreibt ihr Gefühl, zusätzlich dafür bestraft zu werden, dass ihr Mann ermordet wurde.

Nicht-Handeln als aktive Handlungspraxis der Polizei

Anfang April 2023 stirbt Vitali N. in Niederlehme nach einem Polizeieinsatz. Handschellen liegen noch an, als der Notarzt den 45-jährigen wiederbeleben kann; jedoch stirbt er später aufgrund von Hirnschädigungen im Krankenhaus. In der Pressemitteilung der Polizei wird auf diesen tödlichen Ausgang des Einsatzes nicht eingegangen. Anhand dieses und anderer Beispiele geht Fatoş Atali-Timmer in ihrem Beitrag der Frage nach, wie sich Race-Konstruktionen auf die Handlungsweisen von Polizist*innen auswirken. Sie führt eine europaweite Umfrage zu Grundrechten in der EU an, in der Betroffene schildern, dass sie ernstzunehmende rassistische Vorfälle nicht anzeigen, da sie kein Vertrauen in die Polizei haben. Was sie abhält, sind negative Erlebnisse wie Diskriminierung oder auch racial profiling, also verdachtsunabhängige Kontrollen rassifizierter Personen. Im Land Brandenburg liegt seit 2022 ein Handlungskonzept gegen Rassismus in der Polizei vor, gegen Rechtsextremismus wird konsequent vorgegangen. Trotzdem kommt es auch hier immer wieder zu polizeilichem Fehlverhalten im Umgang mit Betroffenen von Rassismus. Mit Material, welches die Opferperspektive e.V. zur Verfügung stellte, werden in Atali-Timmers Beitrag einzelne Fälle skizziert und aufgezeigt, wie rassistische Polizeigewalt, polizeiliches Desinteresse an Ermittlungen und unterlassene Hilfeleistungen durch Beamt*innen ineinandergreifen.

Auch bei der Beurteilung der Tatmotivation zeigt sich bei der Polizei zum Teil ein verkürztes Verständnis rechter Gewalt und rechter Täter_innen. Dies zeigen Juliane Lang und Johanna Sigl in ihrem Beitrag zu Dynamiken und Verwobenheiten der Kategorie Geschlecht bei rechter Gewalt auf. Anhand eines Fallbeispiels, wo es zu rassistischer Gewalt gegenüber einer jungen Frau in einem Park durch zwei weiße Frauen kommt, werden die Täterinnen von den ermittelnden Polizisten als homosexuell und genderqueer gelesen. Diese Lesart und so das Abweichen vom einem „klassischen“ rechten Täterbild macht es für die Beamten „nahezu unmöglich, die Tat in ihrem rechten Gehalt wahrzunehmen“ (S. 107). Dass aktive Tatbeteiligung Frauen weniger zugesprochen wird, wird hier nochmals verstärkt, da die Täterinnen nicht dem zugeschriebenen Bild von Weiblichkeit entsprechen. Dies macht es für Betroffene und ihre Unterstützer_innen umso schwieriger, für die rechte Tatmotivation zu sensibilisieren. Genau wie rechte Gewalt jede_n treffen kann, kann sie von jede_m ausgeübt werden – rechte Ideologien finden sich auch bei Menschen, die selbst durch diese ausgegrenzt werden.

Rechte Gewalt verstehen, um handlungsfähig zu werden

„Das Ausmaß der verschiedenen Ausprägungen und Formen rechter rassistischer und antisemitischer Gewalt und seine Folgen für Betroffene und Gesellschaft werden nach wie vor drastisch unterschätzt“ (S. 39), erklärt Mitherausgeberin Gesa Köbberling. Neben der Erfassung rechter Gewalt durch das Landeskriminalamt im Phänomenbereich „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ dokumentieren zivilgesesellschaftliche Initiativen wie der Verein Opferperspektive auch Vorfälle, die nicht angezeigt werden und mit einem weiten Gewaltbegriff Demütigungen und Bedrohungen ebenso wie Anfeindungen im Alltag inkludieren. So wird versucht, das Wissen der Betroffenen in der Erfassung und der Bewertung rechter Gewalt sichtbar zu machen. Rechte Gewalt ist nicht als singulärer Akt zu verstehen, sondern ist eingebettet in gesellschaftliche Prozesse und Interaktionen. Das situierte Wissen der Betroffenen und ihrer Communities wird hierbei in kollektiver Organisierung ebenso sichtbar wie in individuellen Umgangsstrategien. Dabei ist dieses Wissen zentral, um rechte Gewalt in seinen Ausprägungen und Folgen – über individuelle Betroffene hinaus – zu verstehen.

Der Sammelband vereint wichtige Perspektiven und ist auch über eine Betrachtung des Bundeslands Brandenburg wegweisend für alle, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, rechte Gewalt jenseits von Feindbildanalysen zu verstehen und Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Die Einbeziehung von Bildmaterial aus den letzten 30 Jahren ermöglicht einen zusätzlichen affektiven Zugang und erweitert so das Bewusstsein für die historischen Entwicklungen.

Weiterführende Literatur

Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V) (2023): Rechte Gewalt 2022: Jahresbilanz der Gewaltopferberatungsstellen. Online verfügbar hier.

Gideon Botsch, Gesa Köbberling, Christoph Schulze (Hg.) 2023:
Rechte Gewalt. Aktuelle Analysen und zeithistorische Perspektiven auf das Land Brandenburg.
Metropol Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86331-716-4.
414 Seiten. 26,00 Euro.
Zitathinweis: peps perdu: Die Ignoranz der Behörden. Erschienen in: Wer braucht eigentlich die Polizei? 70/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/wviXz. Abgerufen am: 21. 12. 2024 14:15.

Zum Buch
Gideon Botsch, Gesa Köbberling, Christoph Schulze (Hg.) 2023:
Rechte Gewalt. Aktuelle Analysen und zeithistorische Perspektiven auf das Land Brandenburg.
Metropol Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86331-716-4.
414 Seiten. 26,00 Euro.