Der Versuch einer Rationalisierung
- Buchautor_innen
- Peter Ullrich
- Buchtitel
- Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt
- Buchuntertitel
- Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs
Peter Ullrichs Monografie geht über die bloße Darstellung des deutschen linken Nahostdiskurses hinaus und versucht zwischen verhärteten Positionen zu vermitteln.
Es ist fast immer ein mutiges Unterfangen, wenn sich ein_e Autor_in dem Nahost-Konflikt widmet – sei es in Form eines Artikels, Blogeintrages oder, wie im vorliegenden Beispiel, eines Buches. Peter Ullrich wagt diese Unternehmung mit seinem Buch „Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs“ dennoch. Für ihn stellt es die Zusammenfassung seiner 15-jährigen Beschäftigung mit dem Thema dar. Sein erklärtes Ziel dabei ist, dass es in dem Buch
„einerseits um die Zuspitzungen, die auch in linken Nahostdebatten immer wieder zu extremsten Partikularismen, bis hin zu antisemitischen und rassistischen Ausfällen, führten, und andererseits um die Möglichkeiten und Lernerfolge auf dem Weg zu mehr Komplexität und einer Versachlichung der deutschen linken Nahost- und Antisemitismusdebatte“ (S. 14)
gehen soll.
Jedes erneute gewaltvolle Ausbrechen des Nahostkonfliktes vor Ort führt auch in Deutschland zum Aufblühen der Debatte über selbiges. Dies kann unter anderem mit der deutschen Geschichte erklärt werden, in der die Shoah – die Vernichtung von sechs Millionen deutschen und europäischen Jüd_innen durch den deutschen Nationalsozialismus – eine enorm wichtige Rolle spielt und dazu führt, dass sich eine schuldbewusste Israelsolidarität und immer noch zum Teil offener Antisemitismus gegenüber stehen. Beide spielen auch in den linken Bewegungen und der Partei DIE LINKE eine Rolle. So werden zum Beispiel der Partei wiederkehrende und zum Teil sehr berechtigte Antisemitismusvorwürfe gemacht. In jüngster Zeit sind es die Beteiligung linker Politiker_innen an der Gaza-Flottille, der Aufsatz von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt über Antisemitismus in der Partei DIE LINKE (Salzborn/Voigt 2011), die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler und Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“, die die Debatte in Deutschland wieder aufkommen lassen. Die eingangs erwähnte Schwierigkeit bei der Beschäftigung mit dem Thema liegt darin begründet, dass in der deutschen Linken eine Spaltung in israelsolidarische Anti-Antisemit_innen, sogenannte Antideutsche, und antizionistische beziehungsweise antiimperialistische Aktivist_innen und Theoretiker_innen vorherrscht. Beide Strömungen üben scharfe Kritik aneinander, und obwohl eine Positionierung zwischen ihren Standpunkten laut Ullrich leichter wird und immer häufiger auftritt, ist sie oftmals nicht unproblematisch. Auch deswegen sein Buch – er will für die „Anerkennung der Differenz und der Sinnhaftigkeit verschiedener Standpunkte“ (S. 14) werben, indem er den „rationalen Kern“ (ebd.) der entgegengesetzten Sichtweisen aufdeckt. Dies versucht er in drei Teilen.
Deutsche Linke zwischen Antisemitismus und Philozionismus?
Im ersten Teil widmet sich Ullrich explizit der deutschen Linken und dem Nahostkonflikt. Es geht darin um einen Überblick des Diskurses und um Lernprozesse, die dieser in Gang gebracht hat. Gleichzeitig wird dem Begriff des Antisemitismus Kontur verliehen und geklärt, wie dieser in der deutschen Linken entstehen und Fuß fassen konnte. Als Beispiele dafür fungieren eine überzogene Solidarisierung beziehungsweise Identifizierung mit Palästinenser_innen und eine Kritik an Israel, die über die bloße Ablehnung von Staatlichkeit hinausgeht und an Israel Maßstäbe anlegt, die an kein anderes Land angelegt werden. Dem stellt Ullrich die anti-antisemitische Kritik gegenüber, die in ihrer radikalsten Form droht in einen (antimuslimischen) Rassismus abzurutschen, der allen voran den Palästinenser_innen als Kollektiv unterstellt, die Vernichtung Israels zu verlangen, ohne zwischen Individuen und Gruppierungen zu unterscheiden – ein Fehler der, ebenso wie antisemitisches Handeln, Denken und Sprechen, in einer linken Strömung nicht vorkommen sollte.
Der zweite Teil behandelt die kulturellen, vorrangig deutschen Bedingungen, die den Diskurs und die Standpunkte der Teilnehmenden prägen. Dazu zählen vor allem die (Nach-)Wirkungen des Nationalsozialismus, die noch immer zu einer nationalistischen Sicht auf den Gegenstand führen, welche vielgestaltig, zum Beispiel in teils Philosemitismus beziehungsweise Philozionismus oder einer Täter_innen-Opfer-Umkehr in Form von Holocaustleugnung oder Israel-Nazideutschland-Vergleichen daherkommt. Beide stellten Umgangsweisen damit dar, wieder stolz auf Deutschland sein zu können. In einem weiteren Kapitel versucht sich Ullrich an einer Bilanzierung des Verhältnisses der DDR zu Jüd_innen, zu Israel und zum Zionismus. Und im letzten Kapitel des zweiten Teils steht eine Analyse der Nahostberichterstattung in linken Medien im Vordergrund.
Im dritten und letzten Teil seines Buches geht Ullrich auf die Debatte um den Antisemitismus in der Partei DIE LINKE ein. Er zeigt die Stärken und Schwächen der Kritik auf und widmet ein Kapitel in Form eines schon zuvor an anderer Stelle veröffentlichten Artikels, der Abrechnung mit dem oben erwähnten Aufsatz von Salzborn und Voigt.
Eine klare Stärke von Ullrichs Analyse ist das Aufräumen mit dem Vorwurf, welcher gern von politisch rechts gerichteten Lagern gemacht wird, Antisemitismus sei gerade innerhalb der gesellschaftlichen Linken ein Problem. Anhand von Statistiken belegt Ullrich, dass es dort eben auch Antisemitismus gibt, dieser jedoch in Meinungen der Mitte und vor allem am rechten Rand um einiges stärker ist (S. 172). Ihm gelingt es zudem, und das ist in dieser zugespitzten Debatte nicht einfach, die Standpunkte beider Strömungen sowohl herauszuarbeiten, ihren begründeten Kern anhand der Sprechposition aufzudecken, als auch zu kritisieren, ohne sich dabei auf eine „Seite“ zu schlagen.
Fazit
Ein kleiner Makel an Ullrichs Buch ist, dass stellenweise der rote Faden etwas verloren scheint. So bezeichnet der Autor des Vorworts, Micha Brumlik, Ullrichs Buch stets als „Band“, was schon darauf hindeutet, dass es sich bei Ullrichs Buch nicht um eine geschlossene Monografie handelt, sondern vielmehr um eine Aufsatzsammlung, was aber beim Aufschlagen des Buches nicht sofort deutlich wird. So ist eigentlich nur der erste Teil wirklich neu für das Buch geschrieben worden, die letzten Kapitel sind aktualisierte Beiträge vorheriger Veröffentlichungen Ullrichs, die zum Teil mit Ko-Autor_innen verfasst wurden. Leider ist dies so manchen der letzteren Kapitel anzumerken. Die Schilderung des Mediendiskurses über den Nahostkonflikt ist eher ein in sich geschlossener wissenschaftlicher Aufsatz mit genauer Methodenbeschreibung als das Kapitel eines Buches. Dies hat jedoch den klaren Vorteil, dass eigentlich jedes Kapitel für sich gelesen werden kann und die älteren Veröffentlichungen nun auch kompakt in einem Buch zusammengefasst zu finden sind.
Das Buch ist sowohl für ein mit dem Nahostdiskurs vertrautes Publikum als auch für Neuinteressierte lesenswert. Dies liegt zum einen daran, dass Ullrich einen Analyseansatz wählt, welcher nicht rein nacherzählend oder historisch ist, sondern wissenssoziologisch. Zum anderen stellt das Werk gleichzeitig eine Einführung in den deutschen linken Nahostdiskurs dar, da alle wichtigen Begriffe und Sachlagen an treffenden Stellen erläutert und definiert werden. Dadurch können auch Leser_innen, die keine Expert_innen im Thema sind, das Buch mit Gewinn lesen.
Zusätzlich verwendete Literatur
Salzborn, Samuel / Sebastian Voigt (2011): Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischen Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 58, H. 3. S. 290-309.
Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs.
Wallstein, Göttingen.
ISBN: 978-3-8353-1362-0.
207 Seiten. 19,90 Euro.