Der revolutionäre Prinz und das proletarische Dornröschen
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- Jan Ole Arps
- Buchtitel
- Frühschicht
- Buchuntertitel
- Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren
Knapp vier Jahrzehnte später kramt Jan Ole Arps die Untersuchungen und Interventionen in den Fabriken der 1970er Jahre wieder aus der linken Geschichte hervor und präsentiert eine Analyse, in deren Mittelpunkt die Kluft zwischen betrieblichem Alltag und revolutionärem Anspruch steht.
Linke Fabrikinterventionen in den 1970er Jahren – der Untertitel beschreibt ein Phänomen, welches oft als ein Experiment in der Geschichte linker Gruppen bedacht wird. Dieses Phänomen wird in dem Buch durch Jan Ole Arps’ ausführliche Darstellung aber auch als politische Praxis beleuchtet. Dass dabei durchaus Anknüpfungspunkte zu aktuellen Problemen auch jenseits der Fabrik zu finden sind, zeigt die 2011 durchgeführte Aktion und im Anschluss herausgegebene Broschüre „Macht mit, macht´s nach, macht´s besser! Eine militante Untersuchung am Jobcenter Neukölln“ der Gruppe FelS.
Vom Vorlesungssaal in die Fabrik
Der Titel „Frühschicht“ bezieht sich nach Arps’ eigenen Angaben auf ein Schlagwort, welches die Radikalität dieses Schrittes für die Beteiligten kennzeichnet: Aus der Universität in die Fabriken zu gehen und von Studierenden zu Arbeiter_innen zu werden, bedeutete für sie einen drastischen Lebenswandel, der nicht allein im verdammt frühen Aufstehen endete. Eine Frage drängt sich daher als erste auf: Was motivierte die jungen Linken zu diesem Entschluss, ja, wie kamen sie überhaupt auf eine solche Idee?
Ausgangspunkt waren die Proteste 1968, auf deren Höhepunkt sich die Frage nach Anknüpfungspunkten und weiteren Handlungsmöglichkeiten stellte. Wirklich revolutionäre Effekte, da waren sich die studentischen Aktivist_innen einig, konnte man (treu marxistisch) nur in Allianz mit der Arbeiter_innenklasse erreichen, da diese die Basis der kapitalistischen Produktion bilde. Inspiration fanden sie vor allem in Frankreich, aber auch in Italien, wo sich an die studentischen Proteste Kämpfe von Arbeiter_innen anschlossen. In Deutschland boten die Septemberstreiks von 1969 erste Berührungspunkte, die – gepaart mit der Suche nach einer neuen Perspektive – Auslöser für die „proletarische Wende“ (S. 40) der 68er-Bewegung wurden. Es galt, organisatorische Strukturen und revolutionäres Bewusstsein im Proletariat zu schaffen - der intellektuelle Prinz sollte das Dornröschen der Fabriken „wachküssen“, damit sie zum Traumpaar werden.
Jan Ole Arps’ Beschreibungen der Fabrikinterventionen gelten zwei Gruppen mit unterschiedlichem theoretischen Hintergrund, die teils unterschiedliche Herangehensweisen und Strategien verfolgten, aber ähnliche Erfahrungen machen mussten. Das sind zum einen Gruppen aus der Sponti-Szene, wie der Revolutionäre Kampf oder die Arbeitersache, die durch maoistische K-Gruppen kontrastiert werden, vor allem durch die KPD/ML.
Die letztgenannten Parteien und Gruppierungen betrachteten es als eine Notwendigkeit, kommunistische Gruppen zu gründen, die der Arbeiter_innenbewegung den richtigen revolutionären Rahmen geben sollte. Inspiriert durch Lenins Aufsatz „Was tun?“ galt die Vorstellung, dass die Arbeitskämpfe innerhalb des Betriebs nur auf ökonomische und gewerkschaftliche Interessen beschränkt blieben, wenn nicht eine revolutionäre Partei den Arbeiter_innen die Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Klassenverhältnisse nahebringen würde.
Die Fabrikinterventionen der Sponti-Gruppen zielten hingegen eher darauf ab, die Situation der Arbeiter_innen in den Betrieben zu analysieren, mögliche Ansatzpunkte für die Agitation zu finden und einen gemeinsamen Erfahrungshorizont zwischen Studierenden und Arbeitenden aufzubauen. Dabei bezogen sie sich besonders auf die zentralen Ansätze des sogenannten Operaismus, der italienischen Arbeiter_innenbewegung in den 1970er Jahren, die theoretisch durch (post-)marxistische Analysen von Antonio Negri, Mario Tronti und anderen fundiert wurden. Grundlegend für sie war die Annahme, dass die Zusammensetzung der Arbeiterklasse nicht (mehr) einheitlich sei und sich daraus Widersprüchlichkeiten entsprechend der Qualifikationen und/oder Positionen der Arbeiter_innen im Betrieb ergeben. Diese „technische Zusammensetzung der Arbeiterklasse“ müsse untersucht werden, um an den Widersprüchen ansetzen und Widerstand entsprechend initiieren zu können. Die „Untersuchungen“ in den Betrieben sollten gleichzeitig als Mittel der Aufklärung und Mobilisierung der Arbeiter_innen dienen.
Entfremdete Arbeit und entfremdete Agitation
Für Arps waren allerdings „nicht in erster Linie die Konzepte der Organisationen und die individuellen und kollektiven (Fehl-)Entscheidungen ihrer Mitglieder interessant, sondern die Frage, wie die revolutionären Absichten auf den Alltag in der Fabrik prallten und sich bei diesem Zusammenstoß verformten“ (S. 8).
Die Aktivist_innen beider Gruppen mussten ähnliche Erfahrungen in den Betrieben machen: Die Arbeiter_innen waren in der alltäglichen Verrichtung ihrer Arbeit für die revolutionäre Agitation der kommunistischen und operaistischen Gruppen wenig empfänglich und hatten andere Probleme als eine sozialistische Revolution. Die Aktivist_innen mussten daher einen Spagat zwischen den realen Ansprüchen ihrer Kolleg_innen im Betrieb und den radikalen Theorien ihrer Genoss_innen in der Organisation vollbringen. Viel schwerer wog zudem das Problem, dass sie sich durch radikales Auftreten in den Betriebsräten und Arbeitskämpfen schnell einen Ausschluss aus dem Betriebsrat oder eine Kündigung einhandelten. Andererseits brachte das Vorgehen im Rahmen der betrieblichen Spielregeln Vorwürfe des Rechtsopportunismus von Seiten der Partei oder der Organisation ein.
Auf diese Schwierigkeiten gab es nach längeren Kämpfen, die alle nicht so recht in einen breiten revolutionären Umsturz münden wollten, verschiedene Reaktionen. Die, die in den Betrieben verblieben, konzentrierten sich oftmals auf oppositionelle Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit. Viele andere, die der Fabrik den Rücken kehrten, wandten sich – auch inspiriert durch ihre Erfahrungen in den Betrieben – anderen Themenfeldern zu. Mit den in den späten 1980er Jahren einsetzenden Umstrukturierungen der Betriebe, die unter anderem Auslagerungen von Betriebsteilen und die Flexibilisierung von Arbeit zur Folge hatten, verlor die fordistische Fabrik an Bedeutung. Die Macht der Unternehmen wuchs und Arbeitskämpfe wurden durch die zunehmende Unsicherheit wegen steigender Arbeitslosigkeit und globaler Konkurrenz aussichtsloser. Auch die weitere politische Arbeit der ehemaligen Fabrikaktivist_innen, die im Buch zum Teil bis in die Gegenwart hinein verfolgt wird, zeigt die Widersprüche und Schwierigkeiten ihrer revolutionären Ansprüche.
Und die Moral von der Geschicht’?
Was nach diesen Kapiteln bleibt, ist zunächst vielleicht ein leichter, fader Beigeschmack der Ernüchterung. Und, unwillkürlich, die Erinnerung an die einleitend vom Autor selbst aufgeworfene Frage nach dem Sinn beziehungsweise der heutigen Relevanz dieses Themas - in einer (scheinbar) völlig anderen Ära kapitalistischer Produktions- und Arbeitswelten. Diese Relevanz sieht Arps vor allem in der Frage, wie die Verbindung von radikaler Kritik und Arbeitsalltag, von abstrakt-theoretischen Analysen und alltäglicher Realpolitik in den Betrieben aussehen kann. Denn: „Eines ist klar: Eine Politik, die die Welt des Alltags und die Macht des Alltäglichen ignoriert, kann nicht gelingen.“ (S. 9)
Der Autor überlässt es letztlich den Lesenden selbst, aus der Schilderung der Erfahrungen der Aktivist_innen in der Fabrik eigene Antworten auf die aufgeworfenen Frage zu finden. Arps sieht sich allerdings veranlasst, eine Kritik an der heutigen linken Szene zu formulieren, die sich gleichzeitig wie die Quintessenz der Fabrikinterventionen lesen lässt:
„Trotz dieser Erfahrungen haben sich viele Vorstellungen aus der Zeit des Avantgardismus gehalten und prägen als Gespenster die politischen Haltungen fast aller linken Strömungen (…): die Vorstellung, Wahrheiten zu kennen, die die meisten Menschen und Bewegungen nicht kennen und die man ihnen beibringen muss; folglich die Vorstellung, dass politisches Handeln vor allem darin bestehe, andere (und zwar möglichst viele) von diesen Wahrheiten zu überzeugen und sie hinter den eigenen Losungen zu versammeln. In diesem Modell stehen auf der einen Seite die ‚Aktivisten‘ oder ‚Kader‘, auf der anderen Seite die passive Menge oder die defizitäre Bewegung, auf die es einzuwirken gilt (…).“ (S. 216)
Berechtigt oder nicht, ist dies jedoch eine wichtige Warnung. Der Autor plädiert daher auch für ein gemeinsames Gespräch, welches jedoch „in den seltensten Fällen von allein entsteht, man muss es organisieren. Und man muss eine Sprache dafür finden – und nicht die Sprache linker Floskeln oder distanzierter Analysen, sondern eine, die aus dem gemeinsamen Gespräch und im Konflikt entsteht.“ (S. 222)
Wem das als Fazit zu dünn ist, muss selbst zum Buch greifen und über die dort beschriebenen Erfahrungen nachdenken. Als aufschlussreiche Lektüre eines durchaus spannenden Beispiels linker Geschichte allemal empfehlenswert, bleibt der Wert für Anknüpfungspunkte aktueller linker Politik und Praxis an den Ansprüchen der Leserin oder des Lesers zu messen.
Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren.
Assoziation A, Hamburg/Berlin.
ISBN: 978-3-935936-83-5.
240 Seiten. 16,00 Euro.