Bildung als Reservekasse
- Buchautor_innen
- Kai Eicker-Wolf / Ulrich Thöne (Hg.)
- Buchtitel
- An den Grundpfeilern unserer Zukunft sägen
- Buchuntertitel
- Bildungsausgaben, Öffentliche Haushalte und Schuldenbremse
Ein Sammelband zeigt die Folgen der zurückliegenden Kürzungen von Ausgaben für Bildung auf – eine Entwicklung, die sich künftig europaweit verschärfen dürfte.
Kürzungen der öffentlichen Haushalte – und damit auch Kürzungen im Bildungsbereich – stellen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa aktuell die wesentlichsten Antworten auf die vermeintliche Staatsschuldenkrise dar. Deutschland hat dazu zunächst eine so genannte "Schuldenbremse" eingeführt – und mittlerweile auch allen anderen Staaten in Europa aufgezwungen. Damit wird für die Staaten Europas ein faktisches Neuverschuldungsverbot verfassungsrechtliche Realität.
Die "Schuldenbremse" wird die schon in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachtenden Kürzungsmaßnahmen drastisch verschärfen. Kurzfristig wird diese Austeritätspolitik zu einem Einbruch der Konjunktur und der Steuereinnahmen führen – und damit die Konsolidierungszwänge sogar noch verschärfen. Dies ist seit zwei Jahren geradezu beispielhaft in Griechenland zu beobachten. Mittel- und langfristig wird diese Austeritätspolitik aufgrund unzureichender Investitionen in Infrastruktur und Bildung die wirtschaftliche Basis (mindestens) der Staaten Europas drastisch gefährden.
Davon werden insbesondere jene Staaten betroffen sein, deren wirtschaftliche Basis schon heute erodiert ist. Die immer schlechtere – und vor dem Hintergrund der so genannten „Schuldenbremse“ sich absehbar und europaweit noch verschlechternde – Finanzausstattung der öffentlichen Haushalte hat unmittelbare Auswirkungen auch auf das Bildungswesen. Der vorliegende Sammelband setzt genau hier an: Er analysiert den Zusammenhang von Bildungsausgaben, Bildungsleistungen und Haushaltspolitik in Deutschland. Eine Betrachtung der Situation auch anderer Staaten wird dabei zumindest in Form einiger Vergleiche vorgenommen. Wünschenswert wäre darüber hinaus allerdings eine systematische Analyse der Folgen europaweiter drastischer Kürzungen im Bildungsbereich, die an die vorliegenden Aufsätze durchaus an vielen Punkten ansetzen könnte. Der Sammelband schlägt einen weiten Bogen. Dem Fazit dieser Buchbesprechung vorgegriffen, sei angemerkt, dass den Autorinnen und Autoren von insgesamt fünf Artikeln damit zweierlei gelingt: Zum einen belegen sie das Ausmaß und die Tiefe der deutschen Bildungsmisere, aber auch der Misere öffentlicher Haushalte, anhand zahlreicher Daten und Fakten. Zum anderen beschreiben sie darüber hinaus die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ideologischen Folgen dieser Politik – was allerdings an der einen oder anderen Stelle durchaus etwas ausführlicher hätte sein dürfen.
Öffentliche Haushalte
Zwei Beiträge widmen sich einführend der finanziellen Situation öffentlicher Haushalte. Achim Truger analysiert den Zusammenhang von Steuersenkungen, öffentlichen Investitionen, der „Schuldenbremse“ und möglichen Auswirkungen auf die Konjunktur. Er identifiziert eine erhebliche öffentliche Investitionslücke in Deutschland. Diese bestehe schon bei Investitionen „in Beton“, sie umfasse aber auch Investitionen in „Humankapital sowie Forschung und Entwicklung“. Kaum ein OECD-Land investiere, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), so wenig in seine Zukunft wie Deutschland: Gerade einmal 4,0 Prozent des BIP flossen (2009) hierzulande als öffentliche Mittel in Bildung und gerade einmal 1,7 Prozent des BIP (2004) in öffentliche Bruttoanlageinvestitionen. Hier sei in den zurückliegenden Jahrzehnten ein enormer Investitionsstau aufgelaufen – immer mehr Investitionen seien also unterblieben und in die Zukunft verschoben worden. Truger präsentiert verschiedene Schätzungen, um diesen Investitionsstau zu beziffern, und kommt näherungsweise an Werte „von 37 bis 75 Mrd. € pro Jahr und mehr“.
Sowohl Truger als auch Kai Eicker-Wolf zeigen auf, dass es nicht überbordende Ausgaben, sondern vielmehr Einnahmeausfälle in Folge massiver Steuersenkungen waren, die die öffentlichen Haushalte in eine Schieflage gebracht haben. Während Truger dies für Deutschland insgesamt ausführt, widmet sich Eicker-Wolf im zweiten Beitrag des Sammelbandes der spezifischen Situation in Hessen. Bildungspolitik ist in Deutschland in weiten Teilen Kompetenz der Länder. Vor diesem Hintergrund leuchtet es durchaus ein, ein Bundesland – nämlich Hessen – beispielhaft herauszugreifen und hieran die Folgen von Ausgabenkürzungen und Steuersenkungen aufzuzeigen. Eicker-Wolf zeigt, welch massive Streichungen das Land, aber auch die hessischen Kommunen etwa bei Personal, Bildung und Investitionen vorgenommen haben. Er wirft überdies einen Blick auf die zu erwartenden Auswirkungen der „Schuldenbremse“ – und kommt zu dem gut begründeten, pessimistischen Urteil, dass diese die Handlungsfähigkeit des Landes Hessen massiv gefährde.
Bildungsfinanzierung
Roman Jaich widmet sich im dritten Beitrag des Sammelbandes der Frage, welchen Finanzierungsbedarf das deutsche Bildungssystem hat. In seine Berechnungen bezieht er sämtliche Bildungsbereiche ein: frühkindliche Bildung, allgemeinbildende Schulen, berufliche Bildung, Hochschulen und Weiterbildung. Jeden dieser Bereiche analysiert Jaich sehr detailliert und meist unter Rückgriff auf bestehende Studien. Nur in wenigen Fällen greift er auf Schätzungen zurück, die er gut begründet. Man wird den auf diese Weise erhobenen Finanzierungsbedarf zwar nicht als unumstößliches Diktum ansehen können. Hierzu sind die Datenlage zu dünn und bildungspolitische Ziele zu umstritten. Gleichwohl liefert Jaich zumindest einen guten ersten Eindruck vom Ausmaß des Defizits, das sich Deutschland seit Jahren im Bereich der Bildung leisten zu können glaubt. Die letztlich ermittelte Zahl von über 30 Milliarden Euro Mehrausgaben pro Jahr bleibt auch dann imposant, wenn man die eine oder andere bildungspolitische Ziel- oder Aufgabensetzung nicht teilen mag, die in Jaichs Liste aufgeführt ist.
Bildungspolitische Sparkommissarinnen und Sparkommissare aller Couleur lassen bisweilen gerne verlauten, dass gute Bildungspolitik auch mit weniger Geld möglich sei. Qualität des Mitteleinsatzes, nicht dessen Quantität sei schließlich gefragt. Das von Jaich ermittelte Finanzierungsdefizit könnte aus diesem verharmlosenden Blickwinkel als irrelevant erscheinen. Cornelia Heintze zeigt im vierten Beitrag des Sammelbandes, dass solche Beschwichtigungen keinerlei empirische Grundlage besitzen. Hierzu analysiert sie die Finanzierung und die Leistungen der Bildungssysteme der europäischen OECD-Staaten. Ihr internationaler Vergleich zeigt in insgesamt 19 Korrelationsrechnungen: Zwar gibt es in der Tat einen gewissen Spielraum; man kann jede Geldsumme besser oder schlechter einsetzen. So erreicht etwa Irland gute Leistungen mit unterdurchschnittlichen Bildungsausgaben, Island hingegen mit nur leicht überdurchschnittlichen Bildungsausgaben weit überdurchschnittliche Ergebnisse. Insgesamt aber erweist sich die Höhe der öffentlichen Bildungsausgaben durchaus als der wichtigste Indikator, um die unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten der Bildungssysteme zu erklären. Gerade Deutschland ist mit unterdurchschnittlichen Bildungsausgaben und unterdurchschnittlichen Leistungen des Bildungssystems ein guter Beispielfall hierfür.
Bildungsprivatisierung
Von den vier ersten Beiträgen des Sammelbands unterscheidet sich der fünfte und letzte dadurch, dass er etwas weniger zahlengesättigt ist, sich hierfür aber stärker der ideologischen Seite von Bildung und Bildungsfinanzierung widmet. Seine Autoren Tobias Kaphegyi und Gunter Quaißer gehen der Frage nach, welche Formen die Privatisierung von Bildung in Deutschland annimmt. Sie beschreiben dabei anschaulich und überzeugend, dass „klassische“ Formen der Privatisierung öffentlicher Bildungsaufgaben und –ausgaben in Deutschland zwar zunehmen, insgesamt aber nicht die Bedeutung erreichen, die sie in anderen Staaten haben. In sehr viel größerem Ausmaß hingegen finde Privatisierung im Bildungsbereich auf ideologischer Ebene statt: Neoliberales Denken werde mehr und mehr in schulischen Lehrplänen und akademischen Lehrinhalten verankert.
Die Konzeption des vorliegenden Sammelbands, der mit dem Steuerkonzept der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) schließt, überzeugt durch die enge Verschränkung der Analysen von Haushalts- und von Bildungspolitik. Es gelingt den Autorinnen und Autoren überdies, die entsprechenden Sachverhalte auf das Wesentliche verdichtet und mit Zahlenmaterial gut unterfüttert darzustellen. Gleichwohl hätte sich der Rezensent an der einen oder anderen Stelle etwas ausführlichere Analysen gewünscht, die sich stärker von der unmittelbaren Präsentation von Zahlen lösen. In Ansätzen sind diese durchaus zu finden, etwa bei Kapheguyi/Quaißer in Form ideologiekritischer Anmerkungen zu Bildungsinhalten oder bei Eicker-Wolf in Form kritischer Überlegungen zur aktuellen hessischen Debatte um die „Schuldenbremse“. Mehr davon hätte dem Sammelband gut getan.
Diese Kritik tut dem insgesamt positiven Eindruck jedoch keinen Abbruch. Den Herausgebern ist es gelungen, einen umfassenden und überzeugenden Sammelband zur Situation und Perspektive der Bildungsfinanzierung in Deutschland zusammenzustellen. Wer beruflich mit Bildungspolitik oder Haushaltspolitik zu tun hat, dem sei er daher nachdrücklich empfohlen.
An den Grundpfeilern unserer Zukunft sägen. Bildungsausgaben, Öffentliche Haushalte und Schuldenbremse.
Metropolis-Verlag, Marburg.
ISBN: 978-3-89518-816-9.
199 Seiten. 22,80 Euro.