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Arzt und Lebensretter

Buchautor_innen
Igal Avidan
Buchtitel
Mod Helmy
Buchuntertitel
Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete

Eine wachrüttelnde Geschichte: Ein arabischer Arzt bewahrt als Juden verfolgte Berliner*innen vor den Nazis.

Die Meldung ließ ihn nicht mehr los. Erstmals sei ein Araber von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Diese Nachricht aus einer israelischen Zeitung war der Anstoß zu Igal Avidans Buch über Mod Helmy, einen arabischen Arzt, der im Berlin der Nazi-Zeit als Juden verfolgte Berliner*innen vor der Gestapo rettete. Trotz der Konflikte Israels mit den arabischen Staaten ist es das Anliegen von Avidans historischer Recherche, den während des Naziregimes in Berlin wohnenden Ägypter Mod Helmy als Identifikationsfigur zu entwickeln, um damit zur „jüdisch-arabischen Annäherung beizutragen“ (S. 14). Jeder Mensch hat eine Wahl – andere Menschen zu schützen oder sie preiszugeben. Helmy entschied sich für ersteres.

Mohamed Helmy kommt 1901 in Khartum, der Hauptstadt des Sudan zur Welt. Der muslimische Ägypter Said Ahmad und seine Frau Aminah sind seine Eltern. Er hat vier Geschwister. Der Vater ist als Besatzungsoffizier der anglo-ägyptischen Armee im Sudan stationiert. Die Ferien verlebt die Familie meist in Ägypten. In der Saidieh Secondary School macht Helmy 1922 das Abitur. Er will in Deutschland Medizin studieren. Mit den wohlhabenden Eltern im Rücken kann er das Studium finanzieren. Er zieht nach Berlin, lernt deutsch und nimmt sein Studium auf. Die politische Situation aber verfolgt ihn:

„Im März 1922 […] wurde Ägypten offiziell unabhängig. Faktisch aber setzten die Briten ihre Kolonialherrschaft verdeckt fort. [...] Die Engländer kontrollierten weiterhin den Suezkanal und das Militär und bestimmten die Außenpolitik. [...] Deutschland erkannte Ägypten im April 1922 an, und [...] lud viele muslimische Studenten ein“ (S. 25).

Nicht alle Studierenden hatten reiche Eltern. Manche Studenten erhielten aber auch Stipendien des ägyptischen Bildungsministeriums, das ihre politischen Aktivitäten in Berlin durch das ägyptische Konsulat streng beobachten ließ. Doch Deutschland wollte den ägyptischen Kampf um die faktische Unabhängigkeit Ägyptens gegen die Briten nicht durch Studierende auf ihren Straßen ausgetragen wissen. Demonstrationen von Studierenden? Auf beiden Seiten unerwünscht.

Alles beginnt in einem Krankenhaus in Moabit

Helmy lernt an der Medizinischen Universitätsklinik am Krankenhaus Moabit. Nachdem „im ersten Jahr der Naziherrschaft insgesamt 30 der 47 Ärzte entlassen werden“ (S.39) bleiben im Krankenhaus nur zwei „Außenseiter“ übrig: „der jüdische Assistenzarzt Fritz Stern und der Araber Helmy“ (S. 41). Beide haben einen gemeinsamen Gönner: Professor Schilling, den Krankenhausdirektor. Später ist Helmy der einzige „Nichtarier“ (S. 41). Im Juli 1934 endet Helmys Ausbildung als Internist. Ab November 1934 ist er ein Jahr lang Stationsarzt in der gemischten inneren und der urologischen Station. Wegen der positiven Empfehlungen bisheriger Chefs erhält er „ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksausbildung“ (S. 41). Nach dem Reichstagsbrand werden die meisten offenen Stellen mit Ärzten besetzt, die Mitglieder der SS, SA oder der NSDAP sind – und das obwohl sie deutlich schlechter ausgebildet sind. Blanker Rassismus gehört jetzt zum Alltag Helmys. Infolge abfälliger Bemerkungen und willkürlicher Unterstellungen seiner Kolleg*innen und des neuen Krankenhausdirektors, der ihm unter anderem Arroganz vorwirft, verliert Helmy 1937 seinen zweijährig befristeten Vertrag als Assistent – und das, obwohl die Option auf eine neunjährige Verlängerung bestand. Zudem läuft sein Stipendium aus. Die Freude über die im gleichen Jahr abgeschlossene Promotion fällt dementsprechend kurz aus. Dann beginnt seine Odyssee als „nicht-arischer Ausländer“: Ihm wird die mündliche Habilitationsprüfung verwehrt. Als Hochschuldozent darf er nicht arbeiten. Er eröffnet in seiner Wohnung in der Krefelder Straße 7 ohne Genehmigung eine eigene Praxis. Ab 1936 gehört auch eine jüdische Familie zu seinen Patient*innen, nämlich die Unternehmerin Cecilie Rudnik, ihre Kinder und die Enkelin Anna Boros, die ihm vertrauen.

Eines Tages, im Oktober 1939 als Helmy mit einem Freund unterwegs ist, begegnen sie dem Bruder des Ministers Rudolf Heß. Alfred Heß – selbst gerade der ägyptischen Internierung entgangen – beschwert sich, dass in Deutschland Ägypter*innen noch frei herumlaufen dürfen. Dr. Helmy wird schließlich – ohne dass ein schlüssiger Grund zu erkennen ist – noch am Abend verhaftet. In der zweimonatigen Haft verschlechtern sich Helmys Magen-Darmbeschwerden. Dazu kommt eine Kiefer- und Stirnhöhlenvereiterung. Helmy bemüht sich vehement um eine Entlassung. Auf Betreiben des „Orientexperten“ Werner Otto von Hentig und Helmys Freund Kamal Eldin Galal gelingt diese schließlich auch, allerdings nur für ganze 30 Tage. Dann sollen die ägyptischen BürgerInnen auf der Festung Wülzburg interniert werden. Helmy fühlt die Bedrohung. In Avidans Worten wird Helmy dabei zum „Spielball im Kampf der Großmächte über die Inhaftierten beider Seiten, in dem die Ägypter in Deutschland nur wenig zu sagen haben“. Das bedeutet: Das faschistische Deutschland will deutsche Gefangene aus Ostafrika frei pressen. Daher stoßen Dr. Helmys Bittbriefe, Atteste und Empfehlungsschreiben beim Außenminister Joachim von Ribbentrop auf geringes Interesse. Obwohl Helmy mit Atemnot, Hustenanfällen und chronischen Bauchschmerzen im Bett liegt, soll er am 5. Januar 1940 – nach 30 Tagen Freiheit – erneut interniert werden. Zwei befreundete Ärzte jedoch stellen ihm Atteste aus. Trotzdem wird er von der Gestapo auf der Trage im grauen Krankenwagen ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz deportiert. Obwohl das Staatskrankenhaus der Polizei die Diagnosen des Kranken bestätigt, kommt er in die Gefangenenabteilung. Erst nach viereinhalb Monaten, im Juni 1940, wird Helmy freigelassen. Er verlobt sich mit seiner Freundin Emmy. Da er kein ägyptisches Ehetauglichkeitszeugnis beibringen kann, kann er sie jedoch nicht heiraten.

Anschließend wird die Situation der Familien Rudnik, Wehr und Boros dargestellt. Beschrieben werden die Wendungen im Leben der Großmutter Cecilie Rudnik, der Großmutter von Anna Boros. So verändert sich die Situation der Obstgroßhandlung M. Rudnik GmbH ab 1933 dramatisch und damit auch die Lebenslagen der ProtagonistInnen. Die „Misch-Ehe“ von Julie Wehr schützte ab 1943 nicht. Sie muss Zwangsarbeit leisten. Ihr Mann, der Berliner Georg Wehr, wird nach Jena zur Organisation Todt deportiert. Im Abschnitt „Überlebenskampf zwischen Berlin und Bukarest“ erklärt Avidan, dass osteuropäische Juden durch Ausbürgerung aus Deutschland formell staatenlos wurden, so auch Cecilie und ihr Sohn Martin Rudnik. Für die Jugendliche Anna, eine rumänische Jüdin, wird die Gefahr konkret als Rumänien dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Japan und Italien beitritt. Anna hat den ersten Polizei-Kontakt. Sie will untertauchen und geht zu ihrem Arzt Dr. Helmy.

Dr. Helmy hilft ihr, zum Islam zu konvertieren. Er verheiratet sie mit einem Freund in der Hoffnung, dass dieser sie als Muslima nach Ägypten bringt. Beides sind Sackgassen. Selbst unter der Aufsicht der Gestapo stehend, versteckt Dr. Helmy Anna in seiner Wohnung. Er gibt sie als seine muslimische Nichte und als Sprechstundenhilfe aus. Nach den Bombardements der British Air Force wird seine Moabiter Wohnung beschädigt. Der Aufenthalt für ihn, die Verlobte und Anna wird unsicher. Er tut eine unbeheizte Laube in Buch auf. Anna wiederum schläft nachts im Betonbunker außer Haus. Helmy nimmt sie täglich im PKW nach Berlin mit. Ebenso kümmert er sich um ihre Großmutter, ihre Mutter, deren Mann und den Halbbruder.

Verspätete Anerkennung

Ein letzter Buchteil berichtet über die Anstrengungen des Dr. Helmy für seine Helfertätigkeit für Anna und ihre Familie öffentliche Anerkennung zu finden. Eine Würdigung glückt erst durch eine große Arbeitsgemeinschaft, die sich dafür einsetzt, dass Helfer*innen geretteter als Juden verfolgter Berliner Bürger*innen für ihre Taten geehrt werden. Gemeinsam mit anderen 69 Retter*innen erhält er eine Urkunde, unterzeichnet von Heinrich Albertz und Willy Brandt. Für die Nachkriegszeit findet Avidan viele Menschen, die Helmy kannten. Der Journalist setzte sich etappenweise einer fast dreijährigen Forschungsarbeit aus. Freilich konnte er nicht jede Handlung Helmys nachvollziehen, aber er nähert sich mit vorsichtigen und gegensätzlichen Fragen möglichen Gründen. Mitunter jedoch drohen seine ausgiebigen Erzählungen zu Personen, die in Helmys Leben wichtig waren, im zweiten Teil des Buches den roten Faden der Geschichte beim Lesen verlieren zu lassen. Auf Anna Boros geht er bis zu ihrer Hochzeit ein. Sie bleibt auch in der eigentlichen Story etwas blass gezeichnet. Über ihr Leben in den USA wünschte sie keine Aussagen.

Das Buch ist sehr dicht geschrieben, exakt und ausgiebig historisch recherchiert, die Ereignisse sind ausgezeichnet begründet. Jeder Abschnitt besitzt einen Quellennachweis, der zeigt, wie oft der Autor allein im Berliner Landesarchiv recherchierte. Kurz: Das Buch liest sich wie ein sozialhistorischer Krimi. Es ist ausgesprochen empfehlenswert.

Igal Avidan 2017:
Mod Helmy. Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete.
dtv, München.
ISBN: 9783423281461.
234 Seiten. 20,00 Euro.
Zitathinweis: Anne Allex: Arzt und Lebensretter. Erschienen in: Neue Klassenpolitik. 47/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/s/dboKg. Abgerufen am: 13. 10. 2024 03:15.

Zum Buch
Igal Avidan 2017:
Mod Helmy. Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete.
dtv, München.
ISBN: 9783423281461.
234 Seiten. 20,00 Euro.