"In China findet ein Klassenkampf statt, im gesamten Land und in der Partei"
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- Interview mit Hannes A. Fellner
Über ambitionierte Langzeitstrategien und wachsenden Arbeiter_innenwiderstand in China - und was es aus den Lehren Maos auch für heutige Kämpfe zu lernen gibt.
kritisch-lesen.de Explosives Wirtschaftswachstum auf der einen, knallharte Ausbeutung auf der anderen Seite: Es wird derzeit viel über China gesprochen. Was sind für dich dabei wichtige Punkte, die es zu diskutieren gibt?
Hannes A. Fellner Vor einigen Monaten gab es in Wien eine Tagung, in der es um die „Neue Seidenstraße“ gehen sollte. Hauptsächlich ging es allerdings darum, welche politischen Strömungen es im Moment in China gibt, wie sich diese auf die Ökonomie auswirken, und welche Perspektiven es für China gibt. In Bezug auf China behauptete ja niemand, dass es ein sozialistisches Land ist, daher ist die Frage danach schon obsolet und müßig. Es ist ein Land, was von einer Partei regiert wird: Diese heißt kommunistische Partei und ist traditionell auch eine kommunistische Partei gewesen. Aber es ist so, dass diese Partei so gespalten ist wie generell das Land auch. Das ganze Land ist sehr widersprüchlich. An der Tagung haben wir mit Professor_innen für Marxismus aus China gesprochen; ich würde sie als wirkliche Marxist_innen einordnen, und die haben die Situation dort ganz offen mit uns diskutiert. Ihre Aussage war: In China findet ein Klassenkampf statt, im gesamten Land und in der Partei. Sie sagten weiter, dass sie nicht wüssten, wie dieser ausgehen wird. Ihre Vorstellung war aber recht eindeutig: Die jetzigen Zugeständnisse seitens der KPCh im Sinne einer Neuen Ökonomischen Politik gegenüber der authochtonen (in China ansässigen, Anm. Red.) Bourgeoisie seien vorübergehend und man werde sie Schritt für Schritt zurücknehmen müssen. China ist damit allerdings nicht mit einem neuen Problem konfrontiert. Es ist vielmehr das eingetreten, was man erwartet: die materielle kapitalistische Basis wirkt sich auf Teile der kommunistischen Partei aus, und man muss zurückrudern. Und in welcher Form man zurückrudern wird, das ist in China noch nicht klar.
Der Westen macht es sich aber auch gerade leicht. Die Entwicklung von China in den letzten 20 Jahren hat natürlich kapitalistische Formen, die zu kritisieren sind; das ist klar. Aber der Grund, dass eine umfassende Entwicklung der Produktivkräfte und unheimliche Steigerung des Lebensniveaus für Abermillionen überhaupt möglich war, ist, weil die entscheidenden Schlüsselindustrien zentral geplante Strategien verfolgen und es eine staatliche Lenkung gibt – bis heute. Der Westen kann mit dem nicht ganz umgehen, also fokussiert man sich jetzt darauf, China als kapitalistischen Konkurrenten, der alles viel schlimmer macht als man selbst, zu sehen. Man sieht also die Splitter im Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen. Es ist lächerlich, wenn westliche Medien den Kapitalismus in China kritisieren.
KL Medial kreist derzeit alles um den sogenannten „Handelskrieg“ Chinas mit den USA. Worum geht es dabei und wie lässt sich das aus linker Perspektive bewerten?
HAF Das erwähnte Neue Seidenstraßen-Projekt ist dabei ein zentraler Punkt. Das ist die historisch größte Entwicklungsstrategie, die es je von einem Land gegeben hat. Es dient unterschiedlichen Zielen: Natürlich will China eine ökonomische und eine gewisse kulturelle Einflusssphäre schaffen. Aber was es vor allem will, ist eine sichere Landbrücke in Eurasien zu schaffen, falls sich die Dinge vor allem im südchinesischen Meer und mit der USA schlechter entwickeln, als es im Moment der Fall ist. Die Drohungen der USA gibt es und China nimmt sie ernst. Die „Pivot to Asia“-Strategie, die 2011 von Clinton verkündet wurde, und die auch Obama übernommen hat, die gibt es immer noch. Kurz gesagt, stellt sie eine strategische Neuausrichtung der US-Interessen in Eurasien von Europa und dem Mittleren Osten nach Ostasien dar, wo man China als einzig wirklichen geopolitischen Konkurrenten sieht. Der Plan, in Eurasien inklusive Europa und dem Mittleren Osten Unruhe zu stiften – die Region, wenn sie nicht zu kontrollieren ist, wenigstens zu destabilisieren – , ist nach wie vor ein zentraler Punkt der US-Strategie. Es wird die Eindämmung Chinas angestrebt: militärisch, ökonomisch und politisch. Insofern sehe ich die neue Seidenstraße, neben den innerchinesischen Gründen, als eine geostrategischen Plan, um Amerika und seinen Ambitionen in Eurasien entgegenzuwirken.
KL Der Blick in die Geschichte scheint für ein besseres Verständnis dessen sinnvoll: Was sind denn Meilensteine, die in der Zeit Maos anberaumt wurden – und noch immer andauern?
HAF Was man auf einer kulturellen Ebene verstehen muss, sind Langzeitstrategien – die móulüè –, die zur chinesischen Tradition dazugehören: Dinge werden über ganz große historische Abschnitte gedacht. Man findet detaillierte Darstellungen dazu selten, zumindest nicht in der englisch- oder deutschsprachigen Literatur über China. Drei, jeweils mit 100 Jahren veranschlagte Schritte sind für die Frage der zukünftigen Entwicklung Chinas zentral. Der erste Schritt, der im Jahr 2050 abschließt, ist, die Produktivkräfte so weit zu entwickeln, dass eine Gesellschaft mit moderatem Reichtum und Fortschritt für alle entsteht. Ein Teil dieser Strategie ist schon aufgegangen, weil man in den letzten zwei Jahrzehnten 600 Millionen Leute aus der Armut herausgeholt hat.
KL Was will man bis 2050 konkret erreichen - und wie geht es danach weiter?
HAF Bis 2050 will man eigentlich eine Grundlage geschaffen haben, um dann in einen sozialistischen Aufbau überzugehen. Das ist der Plan. Und dann veranschlagen sie weitere 100 Jahre für eine erste Phase des Sozialismus. Das gesamte Konzept ist mit Eigentumsformen verknüpft. Jetzt lässt man eben noch Privateigentum zu, und nach 2050 versucht man, das Privateigentum Schritt für Schritt zurückzudrängen und in staatliches zu verwandeln – aber mit der Perspektive, staatliches Eigentum in Gemeineigentum zu überführen. Und für die darauffolgenden 100 Jahre will man dann das staatliche Eigentum komplett rückbauen und zu neuen Formen des gemeinschaftlich verwalteten Eigentums übergehen. Diese neuen Formen hat Marx nicht gekannt, hat Lenin nicht gekannt und wir wissen heute auch nicht, wie das konkret ausschauen kann. Es geht auch um eine neue Staatlichkeit, die nicht der klassischen Staatlichkeit entspricht. Wir werden das alles nicht erleben, aber das sind die großen abstrakten Strategien. Für mich ist aber zunächst eine andere Frage interessant: Wird China aufhören, nach 2050 ein Entwicklungsland zu sein? Es ist ja in aller Munde, dass China schon bald die wirtschaftlich mächtigste Nation sein wird, es gibt ja dort auch inzwischen die meisten Milliardäre und so weiter. Aber wenn man sich die demographischen Indizes anschaut, ist China immer noch ein Entwicklungsland. Dies wird in der westlichen Linken auch leider kaum reflektiert.
KL Mit dem Vorantreiben der kapitalistischen Produktionsweise geht die Verschlechterung der Lage der Arbeitenden einher: Ausbeutung, Arbeitsrechtsverletzungen, Festnahmen und Entlassungen. Welche Bewegungen und Kämpfe gegen diese Entwicklungen lassen sich in China derzeit beobachten? Wo finden diese Kämpfe statt?
HAF Die Widerstände und Arbeitskämpfe nehmen rasant zu – nicht zuletzt wegen der Größe des Landes. Die Situation der Arbeitenden in China braucht man sich als fortschrittlicher Mensch in Europa auch nicht schönreden. Das wäre schlicht fatal und hilft der Bevölkerung in China nicht. Allerdings: Als Marxist_innen glauben wir ja – zu Recht – dass die Arbeiterklasse die Geschichte vorantreibt. Und das passiert auch in China. Teilweise in, teilweise außerhalb der Partei werden Klassenkämpfe ausgefochten, die von Arbeitenden in den Produktionsbetrieben ausgehen. Es ist eine entscheidende Zukunftsfrage, wie die Kommunistische Partei damit umgehen wird. Wenn etwa die Gewerkschaft einfach weiterhin nur der ganz loyale Exekutor der Vorgaben der Partei in Wirtschaftsfragen ist, ohne Rücksicht auf die Arbeiter_innenklasse zu nehmen, dann wird das über kurz oder lang die Partei destabilisieren. Das sieht man in einzelnen Regionen und Betrieben auch. Zu den zentralen Fragen, die man im Sinne der Arbeiterklasse erörtern muss, gehört daher: Gibt es eine Möglichkeit, dass die Gewerkschaften echt unabhängig werden von den ökonomischen Vorgaben? Das hängt auch davon ab, wie sehr die Staatsunternehmen Einfluss ausüben und welchen Einfluss der Staat in Unternehmen hat, in denen es Joint-Ventures gibt. Das alles ist widersprüchlicher als es von außerhalb wahrgenommen wird. Der Kassenkampf findet überall statt – in Partei, Gewerkschaften, Betriebsräten. Und er wird sich verschärfen.
Interessant ist auch, dass es in Teilen der Gesellschaft eine gewisse maoistische Nostalgie gibt. Es ist eine Gegenbewegung gegenüber den Werten, die mit der kapitalistischen Ökonomie kommen, etwa, dass alles unter einer Verwertungslogik gesehen wird. In China ist das zum Beispiel im Bildungssystem sehr schlimm. Leider haben weite Teile des chinesischen Bildungssystems diese standardisierten Tests übernommen, wie sie in den USA gang und gäbe sind. Sie gingen mit der Kapitalisierung des Bildungs- und Erziehungssektors einher. Es sind private Firmen, die diese Tests anbieten und die untereinander konkurrieren. Es gibt viele weitere gesellschaftliche Veränderungen, die mit der kapitalistischen Ökonomie kommen, und gegen die der Widerstand stärker wird. Natürlich von den Alten, die noch die Zeit der "eisernen Reisschüssel", also einer mehr oder weniger guten sozialistischen Komplettversorgung kannten, die unter Deng Xiaoping abgeschafft wurde. Aber vermehrt auch bei den Jungen. Man ist nostalgisch gegenüber einer Zeit, wo Dinge weniger hierarchisch waren, weniger auf Verwertungslogik ausgelegt waren. Das ist eine interessante Entwicklung.
KL Was lässt sich aus heutiger Sicht aus Maos Überlegungen für die Linke und ihre gegenwärtigen Probleme lernen?
HAF Mao ist - in Teilen - deswegen ein wichtiger Theoretiker, weil er erkannt hat, dass nationale Bedingungen bei den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen eine wichtige Rolle spielen und auch im ideologischen Bereich sehr lange fortwirken können. Ich würde beim Lehre-ziehen aber auch über Mao hinaus denken: Im Vergleich zur westlichen dialektischen Herangehensweise gibt es in der chinesischen Dialektik nicht die endzeitliche Komponente, dass man einen Endpunkt annimmt, an dem alles gut ist und alle Widersprüche versöhnt sind. Das ist der chinesischen dialektischen Tradition fremd – und auch etwas, woraus wir im Westen etwas lernen könnten. Unsere Auffassungen von Sozialismus und Kommunismus sind immer zu christlich-jüdisch geprägt gewesen: Indem Personen messianisch verehrt wurden oder geglaubt wurde, dass irgendwann ein Punkt erreicht sei, wo sich Gesellschaft und Ökonomie nicht mehr in widersprüchlichen Verhältnissen entwickeln. Das halte ich für fundamental falsch. Es geht darum, ob man Widersprüche in der Realität oder im Denken aushält, verarbeiten kann und produktiv macht oder man immer bemüht ist, sie wegzudenken, wegzureden und wegzukriegen. Ich glaube, man muss sie aushalten. Die chinesische Dialektik-Tradition ist so alt wie die westlich-philosophische Tradition, aber es kommt nicht zur Versöhnung: Alles entwickelt sich in Widersprüchen. Und auch eine andere, nicht kapitalistische Gesellschaft wird sich in Widersprüchen entwickeln.
Hannes A. Fellner ist Sprachwissenschaftler an der Uni Wien, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Dialektische Philosophie und Fellow des Instituts für China- und Südostasienforschung.