„Die Menschen werden in einem Kältestrom der Zeit alleine gelassen“
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- Interview mit Andreas Speit
Verschwörungsnarrative waren schon immer Teil der Mittelschicht. Das zeigt sich auch an den aktuellen Demonstrationen der Corona-Rebell*innen.
Kritisch-lesen.de: Über den Sommer konnten wir es in Berlin zweimal in großem Maßstab beobachten: Auf den sogenannten Corona-Demonstrationen versammelte sich ein heterogenes Publikum, unter anderem aus esoterisch-bewegten Menschen und Rechtsradikalen. Wo überschneiden sich diese Gruppen in ihrem Denken?
Andreas Speit: In den letzten Wochen habe ich mir mehrere Demonstrationen und Kundgebungen angeschaut und die Reden angehört. Man sieht ganz genau: Das ist die weiße wohlhabende Mittelschicht, die dort auf der Straße ist. In diesem Milieu sind rechte Ressentiments und esoterische Vorstellungen schon immer omnipräsent gewesen. Diese Fragmente von rechten Ressentiments werden in Politik und Medien oft ausgeblendet. Sie wahrzunehmen würde auch bedeuten, über sich selbst nachzudenken. Eigene Einstellungen zu hinterfragen. Doch stattdessen wird Rechtsextremismus als ein gesellschaftliches Randphänomen betrachtet. Das ist ja auch bequemer. Verschiedene Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit belegen jedoch seit Jahren, dass rechte Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft massiv virulent sind. Aus der vermeintlichen Sorge vor dem finanziellen Abstieg steigt die Hinwendung zu autoritären Denkmustern, die Verteidigung der eigenen Vorrechte und die Abwehr der weniger Leistungsstarken wie Obdachlose oder Geflüchtete. Wilhelm Heitmeyer spricht schon seit Jahren von einer rohen Bürgerlichkeit. Bei all der „Liebe“ und „Herzenswärme“, die die Corona-Rebell*innen verkünden, treibt sie eben auch der Eigennutz an, ihr Leben einfach trotz Pandemie weiter zu leben. Sie wollen das Grundrecht verteidigen und missachten das Grundrecht der Unversehrtheit der Gesundheit der „Nicht-Rebell*innen“.
Sind das neuartige Entwicklungen der letzten Jahrzehnte?
Nein. Eigentlich weigern wir uns nur schon lange, zu sehen, dass mit Beginn der Industrialisierung die Sorgen der Entfremdung des Menschen vom Menschen, der Natur und der Gemeinschaft aufkommt. Dieser antimoderne Reflex löst auch bereits früh die Sehnsucht nach „echten Menschen“, wahrer Natur und gewachsenen Gemeinschaften aus. Schon in der völkischen Bewegung, deren organisatorische Gründung 1871 zu verorten ist, gab es ganz viele esoterische oder heidnische Projekte. Was sie mit einigen linken Projekten gemein haben, ist ihr Anfangspunkt, die Kritik an der modernen Gesellschaft. In der Lebensreform des 19. Jahrhunderts, in der Alternativszene des 20. Jahrhunderts, der Hippie-Szene und der Grünenbewegung sind all diese Tendenzen zu finden. Und wir erleben sie jetzt wieder. Aber auch die zentrale Differenz: Von rechts wird eine natürlich gewachsene Gemeinschaft gegen eine sich entwickelnde offene Gesellschaft gestellt.
Warum jetzt?
Die Pandemie erschüttert Deutschland in allen Lebensbereichen. Sicherheiten und Planbarkeiten sind nicht mehr so wie vor der Pandemie gegeben. Erstmals nach 1945 erleben wir eine Situation des Ausgeliefert-Seins, dessen Auswirkungen und Ende noch gar nicht absehbar sind. Krisen haben auch schon immer Irrationalismus befeuert. Hier stehen jetzt auf einmal Leute auf der Straße miteinander, die ideengeschichtlich eigentlich schon immer nah beieinander waren. Wenn nun alle gemeinsam etwas kritisieren, dann lautet die zentrale Frage, aus welcher Perspektive wird kritisiert und in welche Richtung geht es: Was ist Basis der Kritik, was ist die Utopie? Ich habe den Eindruck, dass diese Frage innerhalb der ganzen Corona-Rebell*innen nicht gestellt wird. Wenn eine der führenden Personen der Demonstrationen in Berlin beispielsweise im Nachgang sagt: Rechtsextremist*innen haben eine Meinung und sie dürfen diese Meinung auch äußern, dann kann man eigentlich nur höflich antworten: Ja, das Recht haben sie, aber warum auf dieser Demo? Sollen sie doch bitte ihre eigene Demo gegen die Corona-Maßnahmen machen. Dass diese Grenzziehung nicht gemacht wird, hat meines Erachtens etwas damit zu tun, dass es eben eine Affinität zu bestimmten inhaltlichen Gemeinsamkeiten gibt. Und wenn man die sozusagen nicht hinterfragt, stört man sich auch nicht aneinander. Ich habe auch jetzt wieder das Gefühl, dass gesagt wird, wir müssen mit diesen Rebell*innen ins Gespräch kommen. Ich glaube, das wird enorm schwierig, weil die Gesprächsebene eine komplett andere ist. Die Kritik an den Maßnahmen wird hoch emotional vorgetragen. Bei den Fakten – sowohl zu Corona als auch dazu, wer da mitläuft – ist kein Gehör da.
Wenn man doch mit der Natur oder der ganzen Welt im Einklang leben will, warum gibt es dann nicht eine Utopie von einer gemeinsamen Welt in Harmonie?
Man findet beides. Das merkt man auch an den zentralen Begriffen, die auftauchen, in denen von Liebe, Freiheit und so weiter die Rede ist. Ich glaube, erschütternd ist zumindest für Außenstehende, dass dort eines nicht gesehen wird: Wenn man mit Rechtextremist*innen mitläuft, läuft man mit Rechtsextremist*innen mit. Nicht alle dort sind Rechtsextremist*innen, aber es gibt eben keine Abgrenzung. Und dann stehen beide Varianten nebeneinander, die große Weltfriedengemeinschaft neben der kleinen völkischen Siedlungsgemeinschaft. Und beides wird geduldet. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft verbindet. Schon länger wird in der Soziologie diskutiert, inwieweit die Auswirkungen der Globalisierung mit dazu führt, dass Menschen sich in kleine Einheiten flüchten; Hochzeiten, Geschlechterrollen und Familienleben erfahren einen anderen Zuspruch. Alles ist schneller, komplexer, globaler. Und vielen Menschen scheint das einfach zu schnell, zu komplex und zu global. Das Traditionale, das Altbekannte kann da als Sicherheit wahrgenommen werden – und als erstrebenswert.
Und was heißt das dann im konkreten Lebensalltag?
Das heißt beispielsweise aufs Land zu ziehen, dort vielleicht ein Haus und einen eigenen Garten zu haben, dort Bioanbau für sich selbst zu betreiben oder sich in lokale Netzwerke einzubringen. Neben vielen anderen gibt es auch diejenigen, die genau das mit einem rechtsextremen und völkischen Bewusstsein anstreben. Hier haben wir über die letzten Jahre die Erfahrung gemacht, dass solche Familien anfänglich in den Gemeinden als ein bisschen verschroben, oder sogar als links eingestuft wurden. Die Zugezogenen bemühen sich dann auch oft, sich in der Gemeinde einzubringen, bei Sportvereinen, Elterninitiativen oder der Freiwilligen Feuerwehr. Anfänglich wird die politische Einstellung von selbst auch gar nicht angedeutet. Wir kennen Beispiele, wo Rechte sehr genau geschaut haben, wer vielleicht für ihre Positionen ansprechbar sein könnte und sie dann vorsichtig das politische Gespräch suchen. Aus diesem vorpolitischen Raum wagen sie sich auch in den politischen Raum, wenn sie den Eindruck haben, akzeptiert zu sein. Sie treten zum Beispiel zu Kommunalwahlen an. Und sie haben dann auch Erfolg, weil die Leute denken: „Ja, gut, das ist vielleicht in ein rechter Bund oder ist eine rechte Partei, aber den kennen wir ja. Der ist nett, der packt an. Und seine Frau kennen wir auch, und die Kinder sind echt gut erzogen.“ Dann ist tatsächlich die Hemmschwelle extrem gesunken zu sagen, dass so eine Person nicht wählbar sei, weil er ein geschlossenes rechtsextremes Gesamtpaket mit sich bringt.
Könntest du einmal die Rolle von Verschwörungserzählungen für dieses Denken darstellen?
Bei den Corona-Rebell*innen besteht eine hohe Verschwörungsmentalität. Viele Verschwörungsnarrative geistern durch diese Szene. Viele Rebell*innen denken wirklich, dass Bill Gates die ganze Welt verchippen will und dementsprechend hinter dem Corona-Virus stecken würde. Die Frage, die stets gestellt wird, lautet: Wer steht hinter der Verschwörung? Aus dieser Logik heraus sind es dann meist bestimmte Gruppen oder Personen, die ausgemacht werden, Und schnell werden antisemitische Narrative formuliert.
Und speziell in der Eso-Szene?
Bei esoterisch-bewegten Personen ist es entscheidend, welchen Ideen und welchem Milieu sie anhängen. Historisch gibt es Rechtsextremist*innen, beispielsweise Jörg Lanz von Liebenfels, die aus esoterischen Motiven heraus sogenannte Arisophien (übersetzt etwa „Weisheiten der Arier“, Anm. Red.) entwickelt haben, nach denen der „Arier“ bestimmte löbliche spirituelle Fähigkeiten haben und diese weiter gehegt, gepflegt und geschult werden müssten. In München agierte um 1918 die Thule-Gesellschaft, ein esoterischer „Geheimbund“. Dessen Leiter Rudolf von Sebottendorf schwärmte, dass Adolf Hitler viele Ideen von ihm übernommen hätte. Die Thule-Gesellschaft ist in gewisser Weise eine Widerspiegelung der Corona-Rebell*innen, weil auch sie aus dem gehobenen Mittelstand kamen. Ihre Räumlichkeiten hatten sie im Nobelhotel Vier Jahreszeiten in München. Heinrich Himmler hing esoterischen Ideen an, er hat die SS immer als einen spirituellen Orden verstanden. Die Wewelsburg bei Paderborn sollte ein spirituelles Energiezentrum für die SS werden. Bis heute gibt es dort ein Mosaik der Schwarzen Sonne, eine Art Rad aus S-Runen, eingelassen im Fußboden. In der rechten Szene wird dieses Zeichen gerne als Zeichen für die SS getragen. Das direkte Symbol ist verboten, weil alle Zeichen des Nationalsozialismus verboten sind. Aber die Schwarze Sonne eben nicht. In der rechten Szene wird, um sich zur SS zu bekennen, auch die Schwarze Sonne verwendet, als Tattoo, Schmuck, Druckmotiv oder Embleme.
Wie lebt das esoterische Denken im rechtsnationalistischen Kontext bis heute fort?
Wenn wir über Rechtsextremismus reden, haben wir in den Köpfen immer noch Glatze, Bomberjacke und Springerstiefel. Und alle sind ganz überrascht, dass es dort auch Intellektuelle gibt. Gerade bei den völkischen Siedlern, die sich bewusst für ein naturnahes Leben entschieden haben, finden wir ein hochgradig intellektuelles Milieu. Dort finden wir auch die ganzen Symboliken aus der rechten Esoterik oder aus dem rechten Heidentum wieder. Beide Strömungen werden ausgelebt. Das führt für Außenstehende meist zu Verwirrung, weil sie eben nicht dieses Klischeebild vom Neo-Nazi bedienen. Der Erfolg dieser Gruppen ist insofern mit der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung des Rechtsextremismus verbunden. Meist gehen ja die Alarmglocken los, wenn ein direkter Bezug zum Nationalsozialismus sichtbar wird oder die Verbrechen des Nationalsozialismus geleugnet werden. Aber wenn das einfach umschifft wird, wenn man ganz vorsichtig davon spricht, dass beispielsweise jede Ethnie ihre angestammte Identität habe; Und die solle man doch bewahren und beschützen; Und da solle man sich doch davor hüten, dass das alles vermischt und vermengt wird, da gehe doch was verloren! – dann erfolgt die gebotene schnelle Reaktion oft nicht sofort. Dieser sogenannte Ethnopluralismus ist letztlich aber blanker Rassismus! Klingt jedoch weniger radikal.
Wo finden sich solche Gruppen in Deutschland?
In den letzten Jahren konnten wir erleben, dass es verschiedene Siedlungsbemühungen in Deutschland gegeben hat. Eine Variante, die wir unter anderem in Mecklenburg-Vorpommern beobachten ist, dass dort, wo schon Rechte lebten, andere Rechte hinziehen, beispielsweise aus dem Umfeld der NPD. Sie versuchen dann, den vorpolitischen Raum nach und nach zu besetzen. Nicht ohne Grund hatte die NPD dort schon große Wahlerfolge. Und von dieser Vorarbeit profitiert mittlerweile letztlich die AfD, eben durch die Mentalitäten, die dort geschaffen worden sind. Eine andere Siedlungsidee ist die Wiederbelebung der radikal-völkischen Artamanenbewegung, die in den 1920er Jahren erstmals organisatorisch gegründet worden ist. Sie zogen und ziehen als Siedlungsgruppen in Regionen, auch in Mecklenburg-Vorpommern, und versuchen, ihre Ideologie auszuleben. Es gibt seither die Variante, aus dem rechts-ökologischen Kontext heraus aufs Land zu ziehen, um dort, im Einklang mit sich selbst, mit der Natur und den Tieren zu leben. Wir sehen darunter Siedlungsprojekte in Brandenburg und Sachsen-Anhalt, die aus rechts-esoterischen Kontexten heraus Siedlungsbemühungen unternehmen, wie etwa die Anastasia-Bewegung, eine esoterisch-spirituelle Bewegung, die im Kern rassistisch und antisemitisch ist und Verschwörungserzählungen anhängt.
Wie schätzt Du die Gefahr ein, die von der rechts-esoterischen Szene ausgeht?
Geschichtlich gesehen hat es rechts-esoterische Gruppen gegeben, die zur Militanz geneigt haben. Anhänger der Thule-Gesellschaft waren beispielsweise 1918 an einem Staatsstreich beteiligt und 1919 gingen sie gegen die Räterepublik vor. Bei Gefahr sollte aber nicht immer an Militanz und Gewalt gedacht werden, sondern auch an diskursive Gefahren. In der Redaktion von Der Rechte Rand - Das antifaschistische Magazin wurde schon vor ein paar Jahren gefragt, warum 1933 kein breiter Widerstand gegen die nationalsozialistische Bewegung aufkam. Warum sind so wenige gesellschaftliche Gruppen auf die Straße gegangen oder haben anderweitig Widerstand geleistet? Die Autor*innen des Magazins haben sich die damaligen gesellschaftlichen Strömungen, Spektren und so weiter genauer angeschaut, darunter auch die Lebensreformbewegung, esoterische Zirkel oder Umweltschutzgruppen. Das Ergebnis: Genau in diesen gesellschaftlichen Milieus – von denen man eigentlich denkt, sie seien alternative Orte – waren viele extrem rechte Ressentiments virulent, so dass sich kaum widerständiges Potential entwickelte. Teile aus der esoterischen und heidnischen Szene dachten gar, mit dem Nationalsozialismus würde ihr Glauben Staatsreligion werden. Keine neue Erkenntnis, schon vor dem „Dritten Reich“ warnten Philosoph*innen und Journalist*innen vor esoterischen Strömungen. 1990 konnte erneut verfolgt werden, wie im vorpolitischen Raum esoterische Szenen ebenfalls antidemokratische, antilibertäre, antiemanzipatorische Vorstellungen vorantrieben. Die Redaktion des Rechten Randes war damals eine der ersten, die aus einer antifaschistischen Perspektive heraus diese alternativen Strukturen und Milieus hinterfragte, die so einflussreich für den vorpolitischen und kulturellen Raum waren – und wieder sind.
Was haben diese ganzen Bewegungen miteinander zu tun?
Sie alle haben unterschiedliche Kontexte, aber weil sie eben auch viele Gemeinsamkeiten haben, kooperieren sie miteinander oder tolerieren sich zumindest. Das ist eine neue Qualität. Früher hat man über die Anderen „in der Szene“ eher die Nase gerümpft oder sich zerstritten. Man wollte nichts miteinander zu tun haben. Heute sprechen wir von einer Mosaik-Rechten, in der jeder an seinen eigenen Projekten arbeitet. Das wirkt. Es strahlt in die Gesellschaft und schafft im vorpolitischen Raum die Affinität für mehr Sag-, Wähl- und Handelbares von rechts.
Wie ist es überhaupt möglich, aus diesen Milieus und Strukturen heraus zu kommen?
Die mobilen Beratungen gegen Rechts haben im Augenblick sehr viel zu tun. Verwandte und Bekannte wenden sich an sie, weil ihre Freund*innen, Eltern und Großeltern die dubiosesten Sachen per WhatsApp schicken. Ich glaube, solche Ausstiege sind unglaublich schwer und gehen eigentlich immer mit tiefen Lebenskrisen einher. Nur wenn man dann einen emotionalen Zugang zu diesen Menschen hat, ist es vielleicht möglich, jemanden wieder zurückzuholen. Aber es bedingt erst einmal, dass dieser Mensch sich selbst öffnet und fragt: Wo bin ich eigentlich gelandet?
Und wenn das nicht der Fall ist?
Dann wird es schwierig. Fakten überzeugen wenig. Wenn man einem spirituellen Konzept oder einer Verschwörungserzählung anhängt, wird dem Anderen schließlich immer unterstellt, man sei noch nicht so weit und habe die Wirklichkeit eben noch nicht erkannt. Ich glaube, dass die Gegenstrategie eigentlich sein sollte, höflich darzulegen, wieso beispielsweise während der Corona-Pandemie welche Entscheidungen getroffen worden sind; Oder auch zu erklären, dass man eben immer aus einem bestimmten Forschungsstand heraus eine Empfehlung gibt. Aber man muss bei so einer Frage immer die Eben sortieren: Reden wir über einen gesamtgesellschaftlichen Versuch der Intervention oder auf einer direkten persönlichen Ebene wie oben angesprochen? Gesamtgesellschaftlich gesehen sollte politisches Handeln transparent gemacht werden, um verstehen zu lassen, wieso bestimmte Entscheidungen getroffen werden. Und notfalls sollte auch im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten interveniert werden.
Also haben wir es mit einem strukturellen gesellschaftlichen Problem zu tun?
Wir sehen, dass in dieser Krise etwas potenziert wird, was sich gesamtgesellschaftlich über Jahre hinweg angestaut hat. Es handelt sich um eine nicht regulierte Globalisierung, die mit neoliberalen Positionen und Vorstellungen einhergeht. Die Menschen werden wirklich wie in einem Kältestrom der Zeit alleine gelassen. Man muss sich nicht wundern, wenn sie für sich dann nach Antworten suchen, nach Halt und Sicherheit. Das ökonomische Grundversprechen der Nachkriegszeit funktioniert heute nicht mehr: die sozio-ökonomische Sicherheit, die offensichtlich mit zur Akzeptanz für eine sich demokratisierende Republik mit all seinen Krisen und Konflikten führte. Hier bewahrheitet sich die These der beiden Soziologen Elmar Brähler und Oliver Decker, dass die soziale Plombe erodiert und dass jetzt genau diejenigen autoritären Denk- und Verhaltensmuster vorbrechen, die nie richtig aufgearbeitet worden sind. Und gerade in der Mittelschicht reicht schon alleine die Vorstellung von dem Verlust der „Elitenvorrechte“, um alte Ressentiments neu vor sich herzutragen. Verstehen heißt allerdings nicht, Verständnis für dieses Verhalten zu haben. Sich den rechten Entwicklungen entgegen zu stellen, ist dringend geboten.
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Andreas Speit, Jahrgang 1966, ist Diplom-Sozialökonom und freier Journalist sowie Autor der taz Nord-Kolumne »Der Rechte Rand«. Er schreibt regelmäßige Beiträge für die taz, Deutschlandfunk Kultur und WDR und ist Autor und Herausgeber diverser Bücher zum Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, u.a. „Rechte Egoshooter“ (Hg. mit Jean-Philipp Baeck, 2020), „Völkische Landnahme“ (mit Andrea Röpke, 2019).
Das Interview führte Sascha Kellermann.