„Die Kämpfe finden hier statt und wir müssen hier antworten“
- Interviewpartner_innen
- Interview mit der Stadtteilgewerkschaft Berg Fidel Solidarisch
Wie kann eine solidarische Gesellschaft aufgebaut werden, wenn nicht gemeinsam und von unten? Dorit und Leo sprechen über alltägliche Kämpfe und politische Perspektiven, die über eine reine Stadtteilorganisierung hinausweisen.
Hallo, schön, dass wir mit euch sprechen können! Lasst uns einsteigen damit, wie es zu euch als Berg Fidel Solidarisch kam und was ihr als eure Kernaufgaben begreift!
Dorit Das war ein Suchprozess und ist es ein Stück weit immer noch. Man könnte sagen, es geschah aus einer Perspektiv- und Strategielosigkeit innerhalb der radikalen Linken. Wir sahen, dass die linken Praxen, die wir bislang verfolgt hatten, wenig Menschen außerhalb der sowieso schon politisch Aktiven erreichten und dass wir trotz kontinuierlicher Arbeit unserem Ziel einer solidarischen Gesellschaft so kaum näher gekommen sind. Zunächst haben wir uns bei bundesweiten Konferenzen dazu ausgetauscht, dann auch vor Ort hier in Münster, mit Leuten aus ganz unterschiedlichen politischen Kontexten. Unsere Arbeit jetzt dreht sich viel mehr darum eine Verankerung in der Gesellschaft zu schaffen mit dem Ziel radikaler Veränderung.
Leo Die Idee war, aus einer Klassenperspektive etwas vor Ort aufzubauen. Die politische Perspektive war immer eine Perspektive von unten: Wenn wir eine solidarische Gesellschaft jenseits von derjenigen erreichen wollen, die wir haben, dann müssen wir das mit den Menschen machen, die da sind. Sonst wird es ein autoritäres Verhältnis. Entsprechend setzten wir vor rund sechs Jahren hier vor Ort an: In Berg Fidel, einem sozial benachteiligten Stadtteil. Wir nehmen uns unterschiedliche Konfliktthemen vor und zeigen die politische Perspektive daran auf. Die Idee ist immer zu sagen: Gemeinsam sind wir stärker. Wir haben ein gemeinsames Interesse und gemeinsam haben wir die Möglichkeit, auch etwas zu verändern. Auch deshalb nennen wir uns mittlerweile nicht mehr Initiative, sondern Stadtteilgewerkschaft. Wir sind eine kämpferische Organisation, die für gemeinsame Interessen eintritt.
Um welche gemeinsamen Kämpfe geht es da bei euch?
Dorit Angefangen haben wir mit Mietkämpfen. Das Thema Miete hat das Potenzial, Leute zusammenzubringen, weil alle damit Stress haben. Dem Wohnungskonzern LEG zum Beispiel gehören in unserem kleinen Stadtteil ungefähr 700 Wohnungen. Wir haben also zu verschiedenen Problemen mit der LEG Kampagnen gemacht und Organizing betrieben. Am Ende eines solchen Kampfs, wenn das Individualinteresse gelöst wurde, die Wohnung beispielsweise wieder repariert wurde, war das Problem jedoch, dass sich die Perspektive einer langfristigen gemeinsamen Organisierung nur sporadisch erfüllt hat. Viele Leute sind dann nicht dabei geblieben. Daher gab es einen längeren Reflexionsprozess, unter anderem mit unseren Genoss:innen von Solidarisch in Gröpelingen aus Bremen. Die haben während Corona angefangen, eine Sozialberatung und verschiedene Beratungsangebote aufzubauen. Sie haben also ebenfalls an einer existenziellen Notwendigkeit angeknüpft, ähnlich dem Wohnthema, ihr Angebot aber gleichzeitig mit einer klareren Organisierungsperspektive verknüpft. Das setzen wir mittlerweile ebenfalls um. Berg Fidel Solidarisch bedeutet nicht „ich komme mal, wenn ich gerade ein Problem habe“ und dann wieder viele Jahre nicht. Sondern es ist eine Organisierung, in der ich Mitglied bin, womit eine gewisse Bereitschaft aktiver Teil zu sein einhergeht.
Wie funktioniert das genau?
Leo Wir haben eine Struktur, an der die Leute erstmal andocken können und Unterstützung erfahren. Am deutlichsten geschieht dieser erste Schritt in unseren Beratungsangeboten, aber auch in unserer Küfa (Küche für alle, Anm. Red.) oder beim regelmäßigen offenen Treff. Hier bekommt man nicht nur Unterstützung, sondern kann selbst einen Teil beitragen – beim Kochen unterstützen, den Raum vorbereiten, Kaffee machen und so weiter. Daneben haben wir ein Aktiven-Treffen für die Leute, die aktiver Teil von BFS sind. Und zuletzt gibt es das Entwicklungstreffen für die Initiativkräfte, wie wir sie nennen. Das ist der Ort, wo von Mitgliedern, die mehr Verantwortung tragen wollen, die Gesamtstruktur im Blick gehalten wird. Die verschiedenen Arbeitsbereiche erfordern unterschiedliches Engagement von den Aktiven, aber für alle gelten unsere politischen Grundsätze.
Dorit Wir knüpfen an existenziellen Notwendigkeiten, beziehungsweise an Alltagsthemen oder -problemen an, um damit die abstrakte Kritik an Kapitalismus, Patriarchat usw. verständlicher und nahbarer zu machen. Wir verbinden die Kritik also mit den in der Nachbarschaft erfahrbaren Realitäten. Gleichzeitig kämpfen wir auf dieser Ebene für Veränderungen. Das hat das Potenzial, dass Menschen, die vielleicht noch nicht politisch interessiert sind, über diese Erfahrbarkeit den Weg zu uns finden. Die mehrgliedrige Struktur ermöglicht Menschen zudem, auf verschiedenen Kapazitätenlevels teilzunehmen. Wir versuchen, die Struktur so zu gestalten, dass so viele Menschen wie möglich so viel wie möglich teilnehmen können und sich somit als aktiver Teil einer gemeinsamen Organisierung begreifen: Wir gehen davon aus, dass wir selbst die Macht haben, Dinge zu verändern, wenn wir uns kollektiv organisieren.
Gibt es Voraussetzungen für die Teilnahme?
Dorit Zu den offenen Angeboten sind erstmal alle eingeladen. Sobald sich jemand entscheidet, aktiver Teil der Struktur zu werden, führen wir Gespräche über die politischen Grundsätze, die wir haben. Wenn es noch eine Ebene tiefer geht und Menschen Initiativkräfte werden wollen, führen wir nochmal ausführlichere Gespräche. Zudem versuchen wir regelmäßig Bildungen zu veranstalten, mit denen wir unsere Grundsätze und unsere Ideen innerhalb der Organisation vermitteln und diskutieren. Auch grundlegende Fragen wie „was ist Kapitalismus?“ finden dort Platz und werden gemeinsam erarbeitet.
Leo Wenn Leute mit den Grundsätzen überhaupt nicht konform gehen und das direkt deutlich wird, dann schließen wir auch Leute aus – das nehmen wir ernst. Oft merkt man das aber auch schon bevor jemand wirklich aktiv wird, bei Haustürgesprächen oder in offenen Diskussionsrunden. Insgesamt ist das aber ein widersprüchliches Verhältnis – also am Alltagsverstand anzusetzen, den alle mitbringen und gleichzeitig auf die Grundsätze zu bestehen, die wir haben. Wir versuchen unsere Perspektive daher immer in allem deutlich zu machen – darin, dass wir solidarisch miteinander umgehen, dass wir unsere Aktionen partizipativ gestalten und gemeinsam planen oder dadurch, dass wir immer Fotos von unseren kollektiven Aktionen dabei haben.
Wie finden in eurer Struktur die Reflexions- und Entwicklungsprozesse statt? Gibt es Raum für Gespräche, die eigene politische Perspektive betreffend, oder wünscht ihr euch mehr davon?
Dorit Na klar, das ist super wichtig, auch wenn wir davon häufig gerne mehr hätten: Allein die regelmäßigen Treffen und Beratungsangebote nehmen viel Zeit in Anspruch. Aber wir haben, wie gesagt, auch verschiedene offene Bildungsformate und auch welche für Initiativkräfte innerhalb des Entwicklungstreffens. Auf beiden Ebenen führen wir auch politische Diskussionen, wo Positionen geschärft oder verhandelt werden. Teilweise finden die Diskussionen sogar überregional statt, vor allem mit unserer Schwesterorganisation Solidarisch in Gröpelingen zusammen.
Leo Und obwohl wir dafür gerne noch mehr Raum hätten, sind wir häufig auch flexibel, aktuelle Themen aufzugreifen. Neulich hatten wir zum Beispiel das Thema „Müll“. Da haben wir uns lange nicht so richtig dran getraut, weil wir wussten, dass da einfach viele kommen und sagen, dass „die Ausländer“ am Müll Schuld seien. Jetzt haben wir's aber zum Thema gemacht und uns in dem Zuge auch selbst intern damit beschäftigt: Warum ist es hier eigentlich so dreckig? Woran liegt's?
Dorit Warum schlagen immer diese gleichen rassistischen Narrative durch, die vermeintliche Herkunft zum Beispiel so stark mit Ideen von Unsauberkeit und Sauberkeit verschränken?
Leo Davon ausgehend haben wir dann noch weitere Auseinandersetzungen geplant, zum Beispiel explizit zum Thema: Wie funktioniert eigentlich Rassismus im kapitalistischen System? Wir nutzen also aktuelle Themen als Ausgangspunkt für Prozesse der Selbstermächtigung und politischen Bildung.
Wie entscheidet ihr, mit wem ihr Bündnisse bilden würdet – und mit wem nicht?
Leo Insgesamt arbeiten wir fast gar nicht mit dem Bündnisbegriff und machen auch eher wenig Bündnispolitik.
Dorit Wir arbeiten z.B. nicht mit Parteien oder staatlichen Akteuren zusammen. Da gehen wir keine Bündnisse ein und nehmen auch keine Gelder oder Ressourcen an. Wir konzentrieren uns eher auf den Aufbau einer dauerhaften Organisierung, als um temporäre Bündnisse mit unterschiedlichen Akteur:innen. Unser Ziel ist es, eine organisierte soziale Bewegung mit vielen anderen Stadtteilgewerkschaften aufzubauen, mit einer klaren politischen Perspektive. Daher konzentrieren wir uns in der Zusammenarbeit mit anderen Akteur:innen oder Gruppen auf genau solche, die dieses Ziel teilen.
Leo Wie Dorit sagt, ist für uns die Organisierungsperspektive sehr wichtig, was sowohl lokal als auch überregional gilt. Organisiert zu sein bedeutet eine verbindliche Verbundenheit, die nicht bei der ersten Meinungsverschiedenheit oder Unsicherheit zerbricht. Vielmehr bedeutet organisiert Sein auch eine Bereitschaft mitzubringen, gemeinsam mit neuen Herausforderungen und offenen Fragen umzugehen; uns das Wissen anzueignen und eine Position und gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Das ist ein zentraler Unterschied zu anderen linken Kleingruppen, bei denen ja oft die Zugangsvoraussetzung ist, dass man die politische Perspektive bereits teilt. Und das ist auch legitim, aber wir funktionieren da anders. Dadurch, dass es unser Ziel ist, eine Basisorganisation aufzubauen, dafür Leute aus der Nachbarschaft mit einzubeziehen und Politisierungsprozesse anzustoßen, ergeben viele Bündnisse, für die wir angefragt wurden, relativ wenig Sinn. Wir sind aber trotzdem z.B. Teil des VoNO!via-Bündnisses, was für uns total sinnvoll ist, weil wir die Mietberatung haben. Dort findet ein Erfahrungsaustausch statt und dort lernen wir sehr viel für unsere Arbeit und die gemeinsame Entwicklung.
Eure Entscheidung, diese Form von Organisierung als Gewerkschaft zu bezeichnen – könnt ihr nochmal ausführen, warum?
Leo Das hat damit zu tun, dass wir lange Schwierigkeiten hatten, uns selbst gut vorzustellen und zu vermitteln worum es uns geht. Wir machen die Erfahrung, dass der Gewerkschaftsbegriff sehr populär ist für das Konzept gemeinsam für die eigenen Interessen zu kämpfen. Da der Begriff auch oft bei denjenigen, die keinen deutschen Hintergrund haben, präsent und leicht verständlich ist und uns Menschen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, gefragt haben, ob wir eine Gewerkschaft sind, war das naheliegender, als uns immer bloß Nachbarschaftsinitiative zu nennen. Aber die Idee ist, zu sagen: Wir sind nicht nur eine ökonomische Organisation, wir sind auch eine soziale und politische Organisation.
Dorit Ja, genau. Dazu kommt der Gedanke: Die Gewerkschaft gibt dir Rückhalt und Unterstützung: Diese Idee von „touch one, touch all“, also wenn du ein Problem hast, dann stehen wir alle als Mitglieder dieser Organisation hinter dir und lösen das gemeinsam. Wir erwarten aber eben im Gegenzug, dass du das dann für andere Mitglieder, andere Nachbar:innen, auch tust. Ein wechselseitiges Verhältnis: Wer Teil ist, soll auch aktiv werden – im Rahmen der Möglichkeiten.
Könnt ihr ein Beispiel nennen, wo ihr sagt: da waren wir mit unserer Arbeit oder Strategie wirklich erfolgreich, haben unsere politische Arbeit gut gemacht?
Dorit Ich kann einmal mit dem allerersten spürbaren Erfolg anfangen, den wir als Berg Fidel Solidarisch erreicht haben. Vor einigen Jahren haben wir uns als LEG-Mieter:innen in der Nachbarschaft organisiert und dann gemeinsam Forderungen aufgestellt. Wir waren rund 80 Leute und haben zum Beispiel transparente Nebenkostenabrechnungen, einen verlässlichen Hausmeisterdienst und Sprechstunden im LEG-Büro im Viertel gefordert. Wir haben innerhalb von sehr kurzer Zeit hunderte Unterschriften gesammelt – und zwar nicht als Initiativkräfte, sondern vor allem sind viele Nachbar:innen beim Sammeln aktiv geworden. Zusammen mit Pressearbeit und Kundgebungen hat das dazu geführt, dass diese Sprechstunden wieder eingeführt wurden und dieses Büro seitdem wöchentlich zu festen Zeiten besetzt ist. Zudem wurden zahlreiche Schäden endlich repariert, weil wir kollektiv Druck aufgebaut haben. Da haben wir einige unserer Forderungen durchsetzen können.
Leo Wir merken mittlerweile oft, dass wir für Einzelpersonen einen großen Unterschied machen. Zum Beispiel in der Beratung: Irgendwer bekommt mehr Geld vom Amt oder durch eine Mietkürzung oder kommt aus einem Vertrag heraus oder wie auch immer. Das sind wichtige Ansatzpunkte, und wir merken dort eine Handlungsfähigkeit. Es gibt Aktionen, wo wir nicht nur unsere je eigene Handlungsfähigkeit merken, sondern bei denen wir Sachen schaffen, die wir nur dadurch schaffen, dass wir viele sind. Also unser jährliches 1. Mai Fest zum Beispiel, bei dem viele Leute mitarbeiten, die sich dafür alle ihre Berg Fidel Solidarisch Westen und Teil von diesem Prozess sind. Kollektiv gehen wir über uns selbst hinaus und machen Dinge, die wir uns alleine nicht getraut hätten oder nicht stemmen könnten. Und das ist natürlich nicht die Revolution. Aber es sind Situationen, bei denen wir merken: es lohnt sich, diese Arbeit zu machen. Wir bekommen Resonanz und es entstehen Beziehungen, die irgendwie verlässlich sind und auch außerhalb unserer Strukturen dann für gegenseitige Unterstützung sorgen.
Und gleichzeitig: Was hat sich in der Zeit, in der ihr aktiv seid als Gewerkschaft, als reale Gefahr für eure Struktur herausgestellt?
Leo Aus der Nachbarschaft haben wir bisher wenig expliziten Gegenwind bekommen. Wir haben unzählige gute Beziehungen aufgebaut und bekommen insgesamt viel Zustimmung. Die LEG zum Beispiel ist aber natürlich kein Fan von uns und hat unter anderem mal (erfolglos) versucht ein von uns geschaffenes Wandbild im Viertel zu entfernen. Aber wenn die uns mögen würden, hätten wir ja auch was falsch gemacht. Mit dem Müllthema vor kurzem gab es das erste Mal eine stärkere Polarisierung und die Situation, dass wir viel stärkere Meinungsverschiedenheiten in der Nachbarschaft hatten und auch auf Social Media stärkeren Gegenwind bekommen haben. Trotzdem würden wir die Aktion auf jeden Fall als Erfolg werten! Abgesehen davon bemerken wir natürlich die politische Großwetterlage, die uns große Sorgen macht. Aber auch mit Blick hierauf denken wir, dass kein Weg daran vorbei führt Schritt für Schritt Macht von unten aufzubauen.
Dorit Diese Prozesse von Selbstermächtigung, politischer Bildung und konkreter Organisierung sind sehr langfristig und brauchen viel Zeit. Wenn man zeitgleich aber mitbekommt, wie stark die Rechten auf den Zug von Basisorganisierung aufgesprungen sind, da kann man sich natürlich fragen, was es für einen Effekt hat, wenn wir immer wieder aus unserer Perspektive berichten und Strategietexte schreiben. Weil natürlich kann das Konzept von Basisorganisierung auch unterschiedlich ideologisch gefüllt werden: Sehr offen und emanzipatorisch aber natürlich auch rassistisch-nationalistisch. Das ist tatsächlich gerade so eine Frage, die ich mir stelle: Was haben diese ganzen Strategiedebatten innerhalb der Linken vielleicht dann auch wieder in der Rechten gemacht?
Leo Da hätte ich allerdings auch das Gefühl, dass die da halt schon viel früher angefangen haben als Linke. In Berg Fidel gibt es einfach keine progressiven Akteur:innen, hier waren nie Linke. Dafür gibt es aber diverse religiöse, teilweise fundamentalistische Akteur:innen. Es ist auf jeden Fall ein Ort, an dem die AfD versucht, Wahlkampf zu machen. Das bedeutet, die Kämpfe finden direkt hier statt und wir müssen entsprechend auch hier antworten und immer wieder unsere Perspektive auf eine solidarische Gesellschaft stark machen.
Ihr habt auch vorher berichtet, dass ihr mit anderen Stadtteilgewerkschaften vernetzt seid. Könnt ihr das nochmal genauer ausführen?
Leo Eine Stadtteilgewerkschaft kann nicht nur in einem kleinen Stadtteil für ihre Mitglieder erfolgreich sein. Wir haben immer die politische Perspektive, eine Organisierung aufzubauen, mit der wir tatsächlich durchsetzungsfähig sind. Das muss massenmässig realisiert werden. Unsere übergreifende Organisierung nimmt unterschiedliche Formen an: Wir haben zum Beispiel mit Solidarisch in Gröpelingen eine gemeinsame Kommission, die regelmäßig zusammen arbeitet. Wir haben gemeinsame Bildungsveranstaltungen, Wochenenden, Strategietreffen und Entwicklungstreffen. Wir orientieren uns an unseren jeweiligen Erfahrungen und reflektieren sie gemeinsam. Seit ungefähr einem Jahr haben wir auch mit anderen Stadtteilinitiativen bundesweit eine gemeinsame Struktur, die dabei hilft, Stadtteilgewerkschaften vor Ort aufzubauen mit dem Ziel einer gemeinsamen Organisierungsperspektive.
Dorit Zudem haben wir uns auch viel international umgeschaut. Besonders die Zapatistas aus Chiapas, Mexiko mit ihrem Verständnis von Selbstorganisierung waren von Anfang an ein wichtiger Bezugspunkt für uns. Während ihrer Rundreise durch Europa 2021 waren sie auch bei uns im Stadtteil und wir haben gegenseitig von unseren Erfahrungen mit Organisierung erzählt. Das hat viel Kraft gegeben. Wir haben uns außerdem mehrmals mit Genoss:innen vom MST aus Brasilien ausgetauscht, mit Leuten aus der Türkei, die Stadtteilarbeit machen, aus Spanien, Italien oder Los Angeles.
Leo Diese Inspirationen und der Austausch waren und sind immer sehr wichtig für uns. Die Organisierungsperspektive ist zentral, wenn wir das Ziel radikaler Veränderung ernst nehmen. Hier haben wir auch noch viele offene Fragen.
Dorit Genau. Mit zunehmender Größe stellen sich immer neue Fragen. Wie können wir in Zukunft als Stadtteilarbeitsbewegung z.B. mit der Klimabewegung zusammenarbeiten? Welche Synergien würden sich da ergeben? Wie könnte man da zusammenarbeiten? Oder mit der feministischen Bewegung?
Wie filtert ihr in konkreten Gesprächen gemeinsame Interessen heraus? Also, wie schafft ihr es, in diesen Alltagsgesprächen einen Bogen zum Bezugsrahmen Kapitalismus zu spannen?
Dorit Oft machen wir die Erfahrung, dass viele Leute letztendlich sehr, sehr ähnliche Probleme teilen – trotz ihrer Verschiedenheiten. Also das wäre jetzt eine simple Antwort. Oft entsteht Verständnis durch die Erkenntnis der gemeinsamen Probleme: Aha, das betrifft wirklich eine Vielzahl an ganz unterschiedlichen Menschen, denn es liegt am System.
Leo Das andere ist, dass wir ja auch nicht alle Menschen gleichzeitig mit allem ansprechen. Berg Fidel ist ein relativ kleiner Stadtteil. Es gibt einen Supermarkt, es gibt eine Post – man begegnet sich hier. Wir kennen wirklich sehr viele Nachbar:innen, sehr viele kennen uns, auch mit Namen – auch, weil wir ständig vor dem Supermarkt stehen und Leute anquatschen, bei ihnen zu Hause klingeln oder sie anrufen. Es geht einfach immer wieder um das Thema Gerechtigkeit, um Bedürfnisbefriedigung versus Profitinteressen. Und wenn wir mit einem Thema einsteigen, zum Beispiel mit Miete oder jüngst dem Müll, dann laden wir Leute zu einem Austausch ein und diskutieren. Und dann folgt vielleicht früher oder später auch eine Einladung zu unserer Bildung: "Was ist denn eigentlich Kapitalismus?" Damit klingeln wir nicht an der Haustür, das kommt Schritt für Schritt. Denn erst einmal ist es ja überhaupt nicht logisch oder nachvollziehbar, warum man jetzt über Kapitalismus reden soll, wenn jemand eine kaputte Heizung hat. Sondern da muss die Heizung erstmal repariert werden. Aber die Leute kommen wieder und da entsteht was. Auch, weil wir ganz klar machen: Wir machen das nicht für Geld, sondern weil wir es wichtig finden. Wir sind auch selbst davon betroffen, wenn mal wieder das Wasser abgestellt ist oder ähnliches, weil wir im gleichen Haus wohnen. Ich glaube, das verbindet einfach auch. Und darüber kann das dann wachsen.
Dorit Ja. Leute kommen auch recht schnell an den Punkt, sich mit anderen zu solidarisieren, die sie bisher nicht so gut kannten oder deren Lebensrealitäten sie nicht teilen. Dafür ist es wichtig auch Begegnungsorte zu schaffen und eine Kultur des gegenseitigen Zuhörens. Die Verschränkung von verschiedenen Unterdrückungsmechanismen wird in der Praxis und im Gespräch schnell deutlich. Nicht zuletzt merken wir häufig, dass es bei vielen Menschen ein Bedürfnis danach gibt, sich zu engagieren, solidarisch zu sein und durch das Engagement wirkmächtig zu sein.
"Berg Fidel Solidarisch" ist eine Stadtteilinitiative in Münster, die kollektives solidarisches Handeln im Stadtteil voranbringt. Neben den alltäglichen Kämpfen in ihrem Umfeld streben sie eine gemeinsame, klassenkämpferische Perspektive und eine größere Organisierung mit anderen politischen Gruppen an.
Das Interview führten Lena Hezel und Johanna Bröse.