Zum Inhalt springen

„Die alltägliche politische Praxis neu denken und erfinden“

„Die alltägliche politische Praxis neu denken und erfinden“ © Ex Opg Je so' Pazzo
Interviewpartner_innen
Interview mit Viola Carofalo und Maurizio Coppola von Potere al Popolo

Über die politische Bewältigung der Corona-Krise in Italien und darüber, wie kollektive Nachbarschaftshilfe Ort und Moment der Politisierung sein kann.

Leben im pandemischen Zeitalter in Italien. Zum Einstieg unseres Gesprächs geht es gleich ans Eingemachte: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf politische Organisierung und Artikulation aus?

Maurizio In Italien gab es in der Anfangszeit der Pandemie einen massiven Lockdown. Kollektive Momente waren zeitweise völlig untersagt – und auch nicht gewünscht, selbst von den linken Organisationen, weil die Ungewissheit bezüglich des Virus insgesamt sehr groß war. Sie haben sich daher etwas zurückgezogen und all die virtuellen Formen der kollektiven Organisierung ausprobiert. Was wir dann festgestellt haben – und da spreche ich vor allem von Neapel, es ist aber ein Spiegelbild für ganz Italien – ist die Tatsache, dass viele politische Organisationen ihren Handlungsspielraum nicht mehr richtig gefunden haben. Viele politische Aktivitäten fanden vor der Pandemie auf der Straße statt: Kundgebungen, öffentliche Veranstaltungen, Diskussionen, die Nutzung kollektiver Räume und so weiter. Es kam bei vielen zu einer Form der Identitätskrise, der Frage: Wie können wir überhaupt arbeiten?

Viola Die pandemische Krise – die eine gesundheitliche Krise war, aber natürlich auch eine ökonomische und soziale Krise – sowie ihre restriktiven Begleiterscheinungen, haben uns in eine paradoxe Situation gebracht. Auf der einen Seite wurden alle Widersprüche, die dem neoliberalen Kapitalismus dieser Phase innewohnen, genährt und hätten auch Konflikte, Organisierung und Kämpfe provozieren können. Trotz sich objektiv verschlimmernden Lebensbedingungen und wachsender sozialer Ungleichheiten sahen wir jedoch, dass es aus subjektiven Gründen weder Möglichkeiten gab, Kämpfe effektiv zu führen, noch die Debatte rund um die Pandemie in eine Klassenperspektive umzuorientieren.

Warum war das so?

Viola Zuerst einmal, weil die Protagonist:innen in der Debatte die Ebenen vermischten: Die eine Ebene ist die legitime Kritik der autoritären Maßnahmen gegen die Pandemie. Wir haben uns ja mittlerweile schon daran gewöhnt, aufgespürt zu werden, immer einen Ausweis vorlegen zu müssen, passiv und diszipliniert zu sein gegenüber Maßnahmen, die unseren Lebensstil beeinflussen und verändern. Diese Kritiken wurden aber oft vermischt, sowohl in der medialen Debatte wie auch in den sozialen Protesten, mit verschwörungstheoretischen oder interklassistischen Weltanschauungen (interklassistisch meint in diesem Kontext ein politisches und soziales Konzept, das im Gegensatz zum Klassenbegriff die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen sozialen Klassen und die Versöhnung und Harmonie der gegensätzlichen Klasseninteressen bejaht und in der Praxis fördert, Anm. Red.). Eine weitere Erschwernis war mit der sozialen Zusammensetzung der Proteste verbunden: Vor allem in der ersten Phase hatten Kleinladenbesitzer:innen, Kleinunternehmer:innen und so weiter die Hegemonie.

Maurizio Italien hat eine Ökonomie, die stark auf sehr kleinen, kleinen und mittleren Betrieben basiert. In Süditalien sind diese stark mit der Tourismusbranche verbunden. Mit dem Einbruch des Tourismus sind dann eben auch ganze Bed&Breakfast-Strukturen-, Restaurants und sonstige Läden eingegangen. Diese Ladenbesitzer:innen gingen dann auch auf die Straße, hatten aber stark korporatistische und zum Teil auch wirklich rechte Forderungen. Diese Leute sind wohl von ihrem Einkommen abhängig, aber auf einem viel höheren Niveau. Sie konnten während vorheriger Expansionsphasen des Tourismus auch Reichtum anhäufen, einen Lebensstandard erreichen, der viel höher ist als der von anderen aus der Arbeiter:innenklasse. Sie haben dann versucht, auch ihre Angestellten bei den Protesten zu involvieren. Barbetriebe haben etwa protestiert: Wir können jetzt den Arbeitsplatz der Barista nicht garantieren! Aber wenn man dann genauer hinschaute, hat sich der Reichtum dieser Barbesitzer:innen auch deshalb angehäuft, weil eben die Barista zuvor zu drei, vier Euro pro Stunde ohne Vertrag angestellt wurde. Solche Widersprüche kamen dann auf.

Viola Die Forderungen waren in keiner Weise als progressiv zu bezeichnen. Die Kategorie der Ausbeutung und der irregulären Arbeit, die in diesen arbeitsintensiven Sektoren wie Hotellerie, Gastronomie, Tourismus dominieren, tauchte in ihrer Rhetorik und den Forderungen gar nicht auf. Es ging also nie darum, sichere und stabilere Arbeit mit mehr sozialen Garantien zu fordern. Ihre Forderungen waren vielmehr: möglichst schnell die Aktivitäten wieder öffnen oder Unterstützungsleistungen erhalten, aber nicht für die Arbeiter:innen, sondern nur für die Unternehmen.

Maurizio Es war spannend, wie die Linken sich in diesen Widersprüchen bewegt haben. Für uns als Potere al Popolo war es klar: Wir müssen irgendwie dabei sein. Wir müssen unsere Forderungen, die wirkliche Forderungen der Arbeiter:innen sind, lautstark platzieren. Aber es war auch schwierig, weil die rechten Forderungen in den Protesten so präsent waren.

Eine Besonderheit, die ich im bundesdeutschen Kontext wahrgenommen habe, war eine Art Starre oder auch Abwehrhaltung, mit den aktuellen Entwicklungen einen Umgang zu finden. Etwa mit der Frage nach der richtigen Kritik an den staatlichen Maßnahmen. Wie liefen bei euch Diskussionen mit Genossinnen und Genossen ab?

Maurizio Ganz zu Beginn der Pandemie war vieles stark geprägt durch die Diskussion um den Philosophen Giorgio Agamben, der in einem Editorial geschrieben hat, alles, was jetzt gemacht würde, diene einfach nur der totalen Überwachung durch den Staat.

Viola Ja. In dieser Debatte fand die strukturelle Ebene unseres Gesellschaftssystems, sprich die ökonomische Basis, keinen Platz. Agamben geht ja zunächst von wichtigen Fragen aus, nämlich: Haben die Regierungen bewusst von der Pandemie profitiert, um einen Ausnahmezustand auszurufen, der ihre Macht über jeglichen Grenzen hinaus stärkt? Oder haben sie keine andere Wahl als den Ausnahmezustand gehabt? Das ist legitim, denn es wäre falsch, die langfristigen Konsequenzen der Regierungsmaßnahmen zu vernachlässigen. Was aber meiner Meinung nach bei diesem Ansatz fehlt, ist die strukturelle bzw. ökonomische Ebene: Die logische Schlussfolgerung von Agambens Überlegung war, dass die Pandemie der mittleren und Großbourgeoisie gelegen kam oder sogar notwendig war. Zugespitzt ausgedrückt: Der neoliberale Kapitalismus hätte diese Pandemie und die Weiterführung der Eindämmungsmaßnahmen gewollt. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Druck der Arbeitergeberverbände wie der Confindustria in Italien für die Wiedereröffnung möglichst breiter Teile der Produktionssphäre oder der Versuch, die Definition der „lebensnotwendigen“ ökonomischen Aktivitäten auszuweiten, in eine andere Richtung geht als die von Agamben skizzierte. Natürlich, in einer Krise – so auch in dieser pandemischen Krise – gibt es immer Menschen, die sich bereichern und andere, die ärmer werden. Es stimmt auch, dass gerade in einem Land wie Italien mit einer Produktionsstruktur, die von kleinen und mittelständischen Unternehmen dominiert ist, das Kapital möglichst schnell die Aktivitäten wieder aufnehmen wollte. Natürlich war das Kapital damit einverstanden, dass die Menschen auf der Straße Masken tragen mussten; weniger ok war es aber, wenn diese Maßnahmen der Regierungen Auswirkungen auf die Profitgenerierung hatten.

Maurizio Die Diskussion drehte sich auch darum, wie man eigentlich diese Kritik artikuliert und darüber, wie wichtig es ist, auch immer den sozialen Aspekt mit einzubringen. Ich finde es zum Beispiel legitim, der Meinung zu sein, wir dürfen keinen Impfzwang haben; aber gleichzeitig müssen dann auch Vorschläge gemacht werden, was eine Alternative wäre. Eine Gesellschaft, die sehr komplex ist, die braucht gewisse Regeln, die alle einhalten müssen. Vor allem um die schwächeren Gesellschaftsgruppen zu schützen. Also nicht nur ökonomisch schwächer; sondern generell all jene, die dem Virus stärker ausgesetzt sind. Wenn wir uns etwa Quartiere anschauen, in denen die Leute sehr eng aufeinander leben, da müssen Regeln und Maßnahmen getroffen werden. Und die müssen auch staatlich verordnet werden, um die Leute nicht in eine gravierende Lebensgefahr zu bringen.

Viola Die Deformierung der Debatte hat sowohl im Kleinen wie im Großen mit der Vernachlässigung der Klassenperspektive zu tun. In den Straßenprotesten wurde wenig über diejenigen gesprochen, die tatsächlich die Kosten der Pandemie tragen mussten – also nicht die Kleinunternehmer:innen, sondern die Arbeiter:innen, vor allem die prekären und Alleinernährer:innen-Familien. Dasselbe geschieht auch in Debatten abseits des Mainstreams, wenn ausschließlich auf die autoritäre Dimension fokussiert und die produktive, ökonomische Dimension vernachlässigt wird. Die Maßnahmen der Regierungen wurden nur als Möglichkeit interpretiert, die repressiven Politiken des Staates zu stärken und nicht auch als potenzieller Schaden für das Produktionssystem. Dieser Aspekt darf nicht weggelassen werden, wenn man die Komplexität der Situation verstehen möchte. Die Instrumente, die von den Regierungen je nach Gesellschaftsbereich mal stärker – in der Freizeit der Menschen –, mal weniger rigide – in der Produktion – angewendet wurden, sind daher ambivalent: Sie gingen in Richtung Individualisierung der Verantwortung (stiegen die Fallzahlen, war das dem individuellen Handeln geschuldet) und nicht in die Richtung, die Komplexität des gesellschaftlichen Lebens als Ganzes miteinzubeziehen. Dieses Fehlen der Klassenperspektive ist mit dem Mangel an Organisierung von Gruppen und Intellektuellen verbunden, die Debatte und die soziale Praxis in eine Richtung zu lenken.

Maurizio Es ist nicht zuletzt eine völlig absurde Sache, dass man hier das Gefühl hat, Demokratie bedeute, es müssten 10.000 Meinungen zusammenkommen, eine verschiedener als die andere. Der Überzeugung zu sein, je mehr Meinungen wir ausbreiten, im TV, in den Talkshows, desto mehr können wir uns eine eigene Meinung bilden. Eigentlich eliminiert das unsere Möglichkeit, überhaupt Instrumente für ein Verständnis zu entwickeln. Etwa bei den Protesten: Wir können schon gegen den Green Pass (der italienische Impfausweis, Anm. Red.) sein, einfach so, aber das gibt uns keine Perspektive, keine Instrumente, zu überlegen, wofür wir dann sein müssen. Damit meine ich, auch wirklich Bewusstsein zu schaffen, dass die Gesellschaft anders organisiert werden muss. Darum sind die Green-Pass-Gegner:innen dann auch einfach verschwunden, weil die Realität sie sozusagen eingeholt hat. Es war auch nicht in ihrem Sinn, eine längerfristige politische Organisierung zu haben. Die simple Kritik von Green Pass, die gibt nichts her. Aber die Sache hat große Spaltungen auch innerhalb der Linken produziert. Wir von Potere al Popolo haben den Green Pass als ungenügendes Instrument kritisiert, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Aber die anderen haben einfach den Green Pass als absolute Maßnahme der totalen Kontrolle kritisiert. Das ist ein Unterschied.

Das war auch in Deutschland zu spüren. Aber welche positiven Perspektiven auf Zusammenleben, auf Solidarität, auf Kollektivität und verbindende Kämpfe in der Gesellschaft insgesamt lassen sich eurer Ansicht nach ausmachen?

Maurizio Der große Vorteil einer politischen Organisierung wie unserer, die auch eine strategische Debatte führt und eine längerfristige strategische Perspektive hat, ist: Man kann viel schneller auch auf interne Krisenmomente, etwa den Wegfall des altbekannten politischen Alltagslebens, reagieren. Als Kollektiv Ex OPG Je So' Pazzo, aber auch als Partei Potere al Popolo, haben wir immer schon den Fokus gehabt, inmitten der sozialen Auseinandersetzungen zu sein. Das Ex OPG ist ein altes Gebäude – ein früherer Psychiatrie-Knast – im Stadtzentrum Neapels. Dort wurde auch Potere al Popolo gegründet. Es wurde 2015 besetzt mit der Perspektive, eben nicht nur für das politische Kollektiv, das besetzt hat, einen Raum zu schaffen, sondern von Anfang an zu versuchen, die Bedürfnisse, Probleme und Widersprüche der Nachbarschaft einzufangen und mit den Bewohnerinnen und Bewohnern dann auch wirklich gemeinsam Projekte zu entwickeln und nach Antworten zu suchen. Zwischen 2015 bis zur Pandemie ist das Kollektiv daher massiv gewachsen. Zentral ist, dass nicht nur ein harter Kern der politischen Aktivist:innen das Überleben der Organisation ausmachen, sondern ein viel breiterer Kreis von Menschen. So entwickelt sich eine dialektische Art des politischen Aktivismus; im Sinne dass man eben nicht nur einfach überzeugte Kommunistin und Kommunist sein muss, um politisch aktiv zu sein, sondern jede Person hat eine nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, hat einen bestimmten familiären und sozialen Kontext, in der sie handeln kann. Wenn eine Person nur eine Stunde pro Woche Zeit hat, um für das Kollektiv etwas beizutragen, wie kann man diese Stunde nutzen? Man muss diese Möglichkeiten potenzieren, indem man sagt, okay, du musst nicht fünfmal die Woche, drei Stunden jeden Abend zu einer Sitzung kommen, wo wir über die Notwendigkeit der Revolution sprechen. Sondern es gilt, damit einen Umgang zu finden, dass wir nicht nur Hardcore-Kommunist:innen organisieren, sondern die arbeitende Klasse. In der Anfangszeit der Pandemie war klar: Unsere Besetzung konnte nicht mehr Ort der Zusammenkunft wie zuvor sein. Wir konnten nicht mehr diese 40 Aktivitäten wöchentlich machen, von Sprachkursen über Sportangebote und so weiter. Gleichzeitig wussten wir: Die Menschen sind total marginalisiert, der Sozialstaat gibt keine Antworten auf die Probleme, die jetzt durch die Pandemie verursacht werden; vor allem Jobverlust und damit zusammenhängend Einkommensverlust, der nicht oder nicht unmittelbar über sozialstaatliche Leistungen gedeckt wird. Familien haben gesagt: Wir wissen nicht, wie wir das Essen auf den Tisch bringen, die Teller gefüllt bekommen sollen. Wir begannen also gemeinsam mit der Nachbarschaft, die Essensabgabestelle Sanacore aufzubauen und Nahrungsmittel – Grundnahrungsmittel wie Pasta, Reis, Öl, Bohnen, Linsen und so weiter – zu verteilen. Viele Menschen, auch viele Jüngere, die nicht krass aktiv waren vor der Pandemie, haben sich zusätzlich aktiviert – auch über die Pandemie. Weil wir einen Kontext schaffen konnten, der Partizipation und Politisierung ermöglicht hat. Das hält an. Der Sozialstaat hat trotz zwei Jahren Pandemiegeschehen keine längerfristigen Strukturen als Antwort auf die Prekarisierung der Menschen geschaffen. Und darum geht jetzt auch die Nahrungsmittelversorgung weiter, an rund 100 Familien vor allem im Stadtzentrum von Neapel.

Viola Ein Teil der radikalen Linken und der sozialen Bewegungen sah in dieser Tragödie die Möglichkeit, neue Formen der kollektiven Bindungen, Vernetzungen und Solidarität zu denken. Also das Thema der sozialen Ungleichheiten und die Unzugänglichkeit der öffentlichen, sozialen Dienste in den Vordergrund zu stellen. Gerade das Bildungs- und das Gesundheitssystem war in den Jahren zuvor mit neoliberaler Politik abgebaut worden. Aber diese Perspektiven und Hoffnungen ließen sich leider nicht realisieren.

Welche sozial-politischen Entwicklungen sind es, mit denen ihr während der Pandemiezeit besonders zu kämpfen hattet und habt?

Maurizio Die Einsicht, dass die Ansage der Regierung, alle nicht lebensnotwenigen gesellschaftlichen Bereiche zu schließen, keinesfalls der Realität entsprach. Da waren zahlreiche Fabriken, die weitergelaufen sind und Arbeiter:innen, die keine Schutzmaßnahmen bekommen haben; keine Masken, keine Handschuhe und auch keine Prävention. Es geht ja nicht nur darum, unmittelbar Instrumente bereitzustellen, um den Arbeitsprozess zu garantieren, sondern auch ein Bewusstsein zu entwickeln, was es eigentlich heißt, in einer Pandemie-Situation zu arbeiten – was den Interessen der Arbeitenden dient und was dem Kapital. Es gab Arbeiter:innen, die dann protestiert haben: „Das kann doch nicht sein, dass wir weiterhin jeden Tag in überfüllten öffentlichen Transportmitteln zur Fabrik fahren und dort auch wieder eine neben der anderen im Produktionsprozess arbeiten müssen. Eigentlich müssten wir diese Produktion stoppen und der Staat müsste uns das Einkommen garantieren!“ Dann ist da der Care Sektor, der vor allem von migrantischen Frauen aus Osteuropa – in Neapel aber im Besonderen aus Sri Lanka – garantiert wird. Dort waren auch Menschen, die ihre Stelle verloren haben. Der Staat hat zwar reagiert und im August 2020 ein Regulierungsprogramm eingeführt. Aber das hat überhaupt nicht funktioniert, weil es ihnen um Krisenüberbrückung und nicht um die tatsächliche Sicherstellung von Rechten und Aufenthaltsbewilligungen ging. Ähnlich bei den Saisonarbeiter:innen. In der Linken kam die Frage auf: Wie können wir dort Kämpfe organisieren für die Garantie von sicheren Arbeitsbedingungen für Migrant:innen? Wie kann den Migrant:innen ein sicherer Wohnraum garantiert werden, etwa in der Landwirtschaft, in dem sie auch vor der Pandemie geschützt sind? Von der Politik kam darauf keine Antwort , aber von unten gab es dann diese Debatten für Organisationsprozesse. Das kommt jetzt auch wieder auf, mit dem Krieg. Mit ihm haben sich die ganzen Migrationsströme von Osteuropa nach Zentraleuropa verändert. Mit den ersten landwirtschaftlichen Produkten, die jetzt im Frühling in die Supermärkte kommen sollen, wie zum Beispiel dem Spargel, wird das sichtbar: Da haben wir jetzt auf einmal keine Arbeitskräfte mehr aus der Ukraine! Italien versucht jetzt, diese Arbeitskräfte anderweitig zu rekrutieren; zum Beispiel – ich glaube, von Österreich und auch Deutschland – werden Leute aus Nepal angeworben. Eine völlig absurde Sache: Staat und Kapital versuchen, neue Formen von Prekarisierung zu generieren, um die tiefgründige Krisensituation des Kapitals zu überwinden. Das zeigte sich sowohl während der Hochphase der Pandemiezeit wie auch jetzt.

Viola Dazu passt, dass aktuell die Pandemie aus der öffentlichen Debatte eliminiert wird. Der Krieg hat die Pandemie ersetzt, auch weil die Berichterstattung immer sensationslüstern ist. Ich glaube aber nicht, dass diese Entwicklung einzig damit zu tun hat, dass Kriegsnews mehr Aufsehen erregen. Vielmehr wurde von einem ökonomischen und politischen Standpunkt aus gesehen eine Entscheidung getroffen: Es darf nicht mehr von der Pandemie gesprochen werden, weil nun die Produktions- und Verwertungsprozesse wieder in Fahrt kommen müssen und darum die Maßnahmen auch abgeschafft werden dürfen.

Maurizio Man sieht aber auch, dass diese Krisenmomente sehr stark umkämpft sind. Es gibt Möglichkeiten, Forderungen zu formulieren und Kämpfe zu organisieren, etwa um stabilere Aufenthaltsbewilligungen und um bessere Arbeitsbedingungen.

Kann man von einer Zeitenwende sprechen, insofern nämlich, dass die Pandemie nicht nur für einen Ausnahmezustand steht, sondern für eine andauernde Krise mit unterschiedlichen Konjunkturen?

Maurizio Das kann man gut in der politischen Praxis beobachten. Nach ziemlichem Hin- und Her seit den Wahlen 2018 haben wir jetzt eine „Regierung der nationalen Einheit“ mit Mario Draghi. Er ist so ein bisschen der Praktiker des Quantitative Easing, also der Verteilung des Geldes der Nationalbank an die Unternehmen, um das Wirtschaftswachstum in dieser Krisensituation nicht zu blockieren. Draghi wird noch bis 2023 Premierminister sein. Er ist totaler Ausdruck einer europäistischen, nordatlantischen Allianz. In diesem politischen institutionellen Setting bewegt sich aber auch unten sehr viel: Die Gewerkschaften haben eine bestimmte Rolle, die Basisgewerkschaften, die etwas in Opposition stehen zu den traditionellen Gewerkschaften, und linke Organisationen. Wir versuchen in diesem Kontext diese Widersprüche zu erklären, also, dass wir eine Krise erleben, die immer wieder einen anderen Ausdruck, eine neue Dynamik bekommt. Das sehen wir aktuell gleich an mehreren Punkten. Der „Kampf gegen das Virus“ – und jetzt der Krieg. Wie erleben eine Phase, die durch Formen der Kriegsführung charakterisiert wird. Das heißt nicht, dass der Krieg in der Ukraine jetzt noch weitere Jahrzehnte läuft. Aber das heißt, dass Militarisierung als politische Antwort ein Thema ist. Die Pandemie und nun der Krieg haben auch die Diskussionen um die ökologische Transition, die grüne Wende, aufgeworfen. Am Beispiel von NextGenerationEU wird das sichtbar, also dem gemeinsamen Programm von der Europäischen Union im Kontext der Pandemie. Es sollte für die europäischen Staaten vor allem für Digitalisierung der Arbeit und ökologische Transition Gelder bereitstellen. Mit der Frage der Energieautonomie von Europa ist das alles von einem Tag auf den anderen nicht mehr wichtig. Wir können plötzlich wieder Kohle abbauen und holen Flüssiggas aus den USA. Eine dritte Sache sind die ganzen Austeritätsprogramme, die dieses Zeitalter determinieren. Die letzten 20 Jahre waren in Italien geprägt von Privatisierung. Italien hatte ein sehr starkes öffentliches Gesundheitssystem, das servizio sanitare nazionale. Alle hatten kostenlos Zugang zu Gesundheitsversorgung. In den letzten Jahren wurde es stark privatisiert. Budgets wurden zu privaten Krankenhäusern verschoben und Bezahlungen für gewisse Leistungen eingeführt: Für einen Arztbesuch wurden beispielsweise 20 Euro fällig. Das hat eine soziale Hierarchie produziert. In den letzten zwei Jahren war natürlich im Bewusstsein der Menschen sehr stark vertreten, dass Italien schon Jahrzehnte lang Fehler gemacht hat und deshalb auch der Pandemie nicht mit den nötigen Instrumenten und Mitteln begegnen konnte. Der öffentliche Tenor war: Wir müssen jetzt das Gesundheitssystem wieder öffentlicher gestalten, die Rolle des Staates gegenüber den Privaten wieder stärken. Die Regierung nahm das aber nicht in Angriff, weil: „Wir müssen das Budgetgleichgewicht garantieren, das kostet zu viel!“ Nun können auf einmal 110 Millionen Euro pro Tag für das Militär ausgegeben werden. Ein vierter Moment, den ich sehr stark spüre, ist der ganze Rassismus. In der Pandemie waren es „die Chinesen“; „China hat ja das das Virus nach Europa gebracht und China will ja die Welt dominieren,“ und so weiter. Und jetzt sind es „die Russen“. Wenn man keine Instrumente hat, um die aktuellen Entwicklungen zu verstehen, dann geht es schnell in Richtung Rassismus. Was ist das Ziel? Eben gerade diesen Feind zu potenzieren. Deutlich zu machen, dass dieser Feind extern ist. Auf einer politischen Ebene dient das dazu, dass man intern weitere sozialpolitische Reformen durchbringen kann. Das sind aktuelle Krisenmomente. Ob man es jetzt als pandemisches Zeitalter oder als das der Totalisierung des Krieges bezeichnet: Mit ihm einher gehen die Militarisierung des Alltags, die Frage der ökologischen Transition und der Neujustierung der weltweiten Produktionsketten, die Sozialausgaben, die eingeschränkt werden, und der Rassismus, der eine neue Form erhalten wird.

Vermutlich kann man sagen, dass diese pandemische Zeit den Linken sehr eindrücklich die Lektion erteilt, nochmal klar ihre Grundpfeiler zu überdenken. Was sind eure Lehren aus der Pandemie?

Viola Die Pandemie hat unsere Organisation verändert, vor allem, weil wir die alltägliche politische Praxis neu denken und erfinden mussten. Nun geht es darum, die Kräfte und Erfahrungen, die wir vor und während der Pandemie akkumuliert haben, effektiv wieder hervorzuholen und zusammenzubringen. Denn es wird nun darum gehen, sich mit einer sozialen Situation konfrontieren zu müssen, die noch prekärer und problematischer ist als vor der Pandemie. Dabei denke ich auch an das Problem, dass die Menschen vermehrt Schwierigkeiten haben, die kollektive Dimension zu denken und zu leben, da diese zwei Jahre nicht spurlos aus ihrem Alltag verschwinden werden. Das wird eine Herausforderung.

Maurizio Da gibt es aber auch Bruch-Momente, an denen wir ansetzen können: Wenn eine Linke fähig ist, dort zu intervenieren und Mobilisierungen herzustellen, dann können wir das Kräfteverhältnis auf unserer Seite verschieben. Dafür ist die Frage der Jugend sehr zentral. Die haben bei so vielen Themen mitgemischt, um die es kurz vor der Pandemie und inmitten der Pandemie ging: Fridays for Future, Black Lives Matter, Streiks der Kurierdienste und so weiter. Insbesondere in denjenigen Staaten, die nicht fähig waren, die Jugend zu respektieren mit dem Prozess des Erwachsenwerdens, war das Zurechtkommen mit der Pandemie und ihren Folgen sehr schwierig. Die Konsequenzen spürt man ja immer noch.

Viola In den jüngeren Generationen ist auch deshalb ein weiteres Thema aufgekommen – nicht nur, oder nicht unmittelbar, als Klassenthema, aber auch: die Repolitisierung der salute mentale, der geistigen Gesundheit. Wieder kollektiv über die mentale Verfasstheit zu sprechen und über die Notwendigkeit der staatlichen Unterstützung von Personen mit psychischen Problemen ist etwas Wichtiges. Nicht nur wegen des Themas per se, das in den Jahren zuvor zur totalen Privat- und Individualsache geworden war, und noch dazu oft auch einen elitistischen Zug hatte. Das Thema spricht auch die Verbindung von Individualismus und Kollektivität an und dieser Aspekt kann fruchtbar sein: das Problem bin nicht ich; es ist also nicht individuelles Versagen, wenn ich eine bestimmte Situation nicht aushalte, weil ich nicht geeignet bin, den Stress nicht aushalte oder so; sondern das Problem ist komplexer und muss politisch gelöst werden. Ich denke, der aktuelle Übergang, der von einem kontingenten Problem – der Pandemie – ausgeht, erlaubt es, komplexere und breitere Themen anzugehen bezüglich der Re-Organisierung der Klasse und der Re-Politisierung von Themen, die bis zur Pandemie noch als Bereiche angesehen wurden, die lediglich zur Privatsphäre gehören.

Maurizio Die ersten, die gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gegangen sind, waren die jungen Leute. Ich glaube, das ist eine zentrale Herausforderung für linke Organisationen: eine Organisationsform und -perspektive zu entwickeln, die all diesen Erfahrungen Rechnung trägt; zusätzlich aber auch den Politisierungsprozess der jungen Generation respektiert. Die jüngere Generation geht auf die Straße, hat aber nicht wirklich alle Kategorien, um zu verstehen, um was es geht. Also ist politische Bildung zentral. Aber wir müssen lernen, dass wir da nicht die gleichen Instrumente anwenden können, wie wir die vielleicht in unserer Generation hatten. Wir müssen der Jugend den Spielraum lassen, selber Forderungen zu formulieren, auch innerhalb der Organisationen. Und wichtig ist auch eine weltweite Vernetzung, dafür haben wir ja eigentlich die Instrumente. Mit der Pandemie haben sich die Lebensrealitäten der Jugend von einem Land zum anderen sehr angenähert. Wir müssen Formen und Wege finden, um diese Realitäten zusammenzubringen; damit ihre Lage von der Jugend selbst diskutiert wird und die Jugend selbst dann auch Strategien und Lösungen entwickeln kann. Da sehe ich ein Riesenpotenzial.

**

Viola Carofalo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Philosophie der Universität „L'Orientale“ in Napoli und Mitglied der nationalen Koordination von Potere al Popolo. Maurizio Coppola ist politischer Aktivist in Neapel.

Das Interview führte Johanna Bröse.
Übersetzung von Maurizio Coppola.

Zusätzliche Anmerkung

Zum Titelbild: Sanacore ist die Essensabgabestelle für prekäre Arbeiter:innen und Armutsbetroffene. Es wurde vom Kollektiv Ex Opg Je so' Pazzo während den ersten Wochen der Pandemie im Jahr 2020 aufgebaut und ist noch heute aktiv. Sanacore verteilt regelmäßig Grundnahrungsmittel an über 100 Familien in der Stadt Neapel - Tendenz steigend.
Zitathinweis: kritisch-lesen.de Redaktion: „Die alltägliche politische Praxis neu denken und erfinden“. Erschienen in: Pandemisches Zeitalter. 63/ 2022. URL: https://kritisch-lesen.de/s/PqBXC. Abgerufen am: 21. 11. 2024 11:34.