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Polizei contra Pöbel – Reflexionen mit Hegel

Polizei contra Pöbel – Reflexionen mit Hegel
Thema
Essay von Mesut Bayraktar

Damit das Eigentum in der bürgerlichen Klassengesellschaft geschützt wird und der Pöbel nicht aufbegehrt, braucht man die Polizei. Doch schon Hegel und Marx zeigen Potenziale für den Widerstand.

Essay von Mesut Bayraktar

„Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Begriff der Polizei, daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren.“ - Karl Marx

2005 wurde Oury Jalloh in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers ermordet. Durch die unermüdliche Arbeit der Initiative in Gedenken an ihn wurde bereits damals über Polizei und Polizeigewalt diskutiert. Im Anschluss an die kaltblütige Ermordung George Floyds durch einen Polizeibeamten und den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 entstanden in Minneapolis und anderen Orten in den USA sogar radikale Bestrebungen, die Polizei abzuschaffen. Das verschärfte die Kritik an der Polizei und führte zu weitreichenden Diskussionen. Auch auf marxistische Weise wird wieder über die strukturelle Rolle der Polizei nachgedacht; auch hierzulande, wo etwa der 24-jährige Giórgis Zantiotis im Wuppertaler Polizeigewahrsam im November 2021 ums Leben kam oder der 16-jährige Mouhamed Dramé in Dortmund im August 2022 von Polizisten erschossen wurde – um nur einige Fälle zu nennen.

So rekonstruiert beispielsweise Lea Pilone eine historische Genese der Polizei im Kontext der Entstehung des Kapitalismus und kritisiert liberale Deutungen, die „rassistische Polizeipraktiken“ bloß in „rassistischen Einstellungen“ sehen. Aus einem historischen Blickwinkel zeigt auch Simin Jawabreh Praktiken rassistischer Polizeiarbeit in Berlin auf. Es sind solche jüngeren Analysen, die den rassistischen Charakter der modernen Polizei darstellen und die ganz grundsätzlich die Institution der Polizei in Frage stellen. Der theoretische Bedarf, über die Rolle der Polizei in kapitalistischen Klassengesellschaften zu sprechen, ist unverkennbar geworden.

Erste Hebelpunkte für die systematische Verortung der Polizei als verlängerter Arm des Privateigentums innerhalb der gesellschaftlichen Totalität kapitalistischer Produktionsweisen liefert der Philosoph der Revolution G.W.F. Hegel (1770–1831) in einer materialistischen Auslegung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820/21). Denn es ist gerade seine Philosophie, geschmiedet im Feuer der Französischen und Haitianischen Revolutionen von 1789 und 1791, die Bürgerliche noch heute ebenso rücksichtslos mit ihren revolutionären Wurzeln im Kampf gegen die feudale Ständeordnung wie mit ihrem historischen Vergehen gegenüber dem vierten Stand konfrontiert. Vor allem wenn es um die Polizei geht.

Die Gravitation in der bürgerlichen Moderne

Mit Rückgriff auf Karl Marx und Friedrich Engels analysierte W. I. Lenin am Vorabend der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 das Wesen des kapitalistischen Staates. Ausgehend vom Staat als ein Produkt unversöhnlicher Klassengegensätze macht er das Militär, die Bürokratie und die Polizei als materielle „Hauptwerkzeuge“ der Staatsmacht ausfindig. Sie sind „über die Gesellschaft gestellte und sich ihr entfremdende Formationen bewaffneter Menschen“ (S. 401). Von dieser Einsicht ist schon Hegels Analyse der Moderne getragen. Auch er geht von einer relativen Selbstständigkeit der Gesellschaft im Verhältnis zum Staat und seiner Machtorgane aus. Auf der einen Seite konkurrieren die privaten Interessen der Bürgerlichen, auf der anderen muss die Einheit der Klasseninteressen der Bürgerlichen gewährleistet werden. Beide Denker beziehen sich auf die Aufgabenverteilung innerhalb der bürgerlichen Klasse – eine Aufgabenverteilung zwischen Ausbeutungsordnung und Klassenherrschaft, die auch in Widersprüche und politische Krisen geraten kann.

Hegel erkannte, dass sich die bürgerliche Gesellschaftsformation ohne die Machtorgane des Klassenstaats selbst zerreißen würde. Grund dafür ist vor allem ihre innere ökonomische Dynamik. Zugleich ist es gerade diese Dynamik, aus der nach Hegel der bürgerliche Staat hervorgeht und gleichsam eine bewaffnete Absicherung erforderlich macht. Hegel, der die Klingen der Dialektik an den klassischen politischen Ökonomen Großbritanniens und Frankreichs gewetzt hat, beschreibt deshalb die mit der französischen Revolution angebrochene bürgerliche Moderne als warenproduzierende Arbeits- und Tauschgesellschaft. Jeder ist sich selbst Zweck, aber „ohne Beziehung auf andere, kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck“ der Einzelnen. Dabei beschreibt Hegel die kapitalistische Ökonomie als „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle“ und doch ist in diesem „System allseitiger Abhängigkeit“ eine „innere Notwendigkeit“ am Werk.

In dieser Notwendigkeit sieht Hegel etwas Rationales, denn die kapitalistischen Marktgesetze stellen ein gesellschaftliches Leben her, dem sich niemand mehr entziehen kann. Jeder wird aus seinen feudalen Wurzeln herausgerissen, verliert seinen starr zugewiesenen Platz und gerät in den Strudel der Kapitalakkumulation. Zugleich ist der Warenmarkt von „bewusstloser Notwendigkeit“ getrieben, ein „Not- und Verstandesstaat“, der von staatlichen Machtorganen zusammengehalten werden muss. Hegel erspäht zwar die „Lohnarbeit“ und das „Kapital“, kann sie jedoch aufgrund seines historischen Horizonts am Beginn der politischen Etablierung des Kapitalismus nicht als Kategorien entwickeln – konkret: zu jenen von Ausbeutung und Mehrwehrt.

Der Kampf um die eigene Existenz wird in der bürgerlichen Gesellschaft zum Alltag, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied gegenüber vormodernen Gesellschaften, dass dies unter dem universellen Versprechen der Menschen- und Freiheitsrechte geschieht. Jedem Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft steht es zu, sich durch Arbeit in der Welt zu verwirklichen. Das nennt Hegel Subsistenz, also die Möglichkeit zur Selbsterhaltung und Bejahung des eigenen Lebens oder philosophisch gesagt: Substanzsein in der Realität. Die Gesellschaft, ist sie doch auf dem Prinzip der individuellen Freiheit gegründet, muss jedem Einzelnen die Mittel dieser Subsistenz als Möglichkeit bereitstellen. Sonst verfällt ihre historische Legitimation. Das war der Kuhhandel der Bürgerlichen für den Sturm auf die Bastille durch die hungernden Massen und Sansculotten. Da ist Hegel unmissverständlich.

Genau an dieser Stelle stößt er aber auf eine Leerstelle: Weil „in ungehinderter Wirksamkeit“ die „Anhäufung von Reichtümern“ vermehrt wird, wird auch die „Abhängigkeit und Not der an […] Arbeit gebundenen Klasse“ erweitert. Dabei entsteht die paradoxe Situation, dass der arbeitenden Klasse der „Genuss der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile“ nicht wegen des Fehlens, sondern gerade durch das intakte Funktionieren bürgerlicher Ordnung verweigert wird. Das „Herabsinken einer großen Masse unter das Maß“ des Existenzminimums ist die Folge. Diese Masse fällt in die Subsistenzlosigkeit: in ein Dasein ohne Wirklichkeit, in die begriffslose Realität der Armut, die das Gravitationsfeld der arbeitenden Klasse ausmacht.

Hegel stellt fest, dass „bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist“. Gleichzeitig besitzt sie „an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug […], dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“. Armut ist in der Moderne also nicht der Mangel an Gütern wie in der Vormoderne, sondern die notwendige Kehrseite des Überflusses an Gütern, die die besitzende Klasse ihrerseits anhäuft. Arbeit, die doch die individuelle Freiheit aller verwirklichen sollte, führt die Klasse der Arbeitenden in die Armut.

Pöbel-Potenz der Armut

Dieser ökonomische Tatbestand ist für die Verortung der Polizei fundamental. Nicht zufällig behandelt Hegel die moderne Armut und den Pöbel in dem Abschnitt „Die Polizei“. (Der Begriff Polizei umfasst bei ihm auch den in seiner Zeit gebräuchlichen Begriff „Polizey“, verstanden als die Gesamtheit der Verwaltungsbehörden für öffentliche Ordnung und Sicherheit.) Sie hat in diesem „Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens“ vorrangig die Aufgabe, für die „ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums“ sowie „die Sicherung der Subsistenz und des Wohls des Einzelnen“ zu sorgen.

An diese Passagen denkt später Karl Marx, wenn er schreibt: „Durch den Begriff der Sicherheit erhebt sich die bürgerliche Gesellschaft nicht über ihren Egoismus. Die Sicherheit ist vielmehr die Versicherung ihres Egoismus.“ Genau darin gründet die moderne Polizeiarbeit, die als Institution historisch älter ist als die bürgerliche Gesellschaft, durch sie jedoch einen anderen Hauptzweck erhält, nämlich in der Ver- und Absicherung des Privateigentums, mit Hegel: die Möglichkeit der Subsistenz aller zu schützen. Gerade das ist aber bei den Armen unmöglich. Da sie jedoch für den bürgerlichen Staat notwendige Existenzen sind, kann aus ihnen hervorgehen, was Hegel als Pöbel bezeichnet. Als Möglichkeit ist der Pöbel in der modernen Armut immer schon angelegt. Hierauf kommt es an.

Da das Mensch-Sein des Menschen die Freiheit ist und gerade dies den Begriff der Moderne ausmacht, kommt es dazu, dass die Armen ihre Subsistenz durch Arbeit zu verwirklichen als ein – nach Hegel begründetes – Recht einfordern. Sie berufen sich auf die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft: die Verwirklichung ihrer Freiheit. Im bürgerlichen Zeitalter ist jeder Einzelne dem Begriff nach frei, was sich in der Lebenspraxis der Armen in Unfreiheit umkehrt. Sie werden unfreie Freie – frei als Subjekte, aber unfrei in ihrem Tun. In diesem Widerspruch äußert sich ein „praktischer Mangel“ der bürgerlichen Gesellschaft, der „sogleich die Form eines Unrechts“ annimmt, das „dieser oder jener Klasse angetan wird.“ Erst dieses Unrechtsbewusstsein erzeugt bei den Armen die „Gesinnung“ des Pöbels. Vom Standpunkt der Bürgerlichen greift der Pöbel die Realisierung der Freiheit und damit die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich an. Die Gefahr, die vom Pöbel ausgeht, ist ihre bloße Existenz: In ihr widerspricht sich die bürgerliche Gesellschaft selbst. Und das ruft die Polizei auf den Plan.

Obwohl der Pöbel aus der immanenten Strukturlogik der bürgerlichen Gesellschaft hervorgeht, darf er vom Standpunkt dieser bürgerlichen Gesellschaft gar nicht existieren. Das verdrängen die Bürgerlichen. Ihre Ideologen haben dann auch keine andere Aufgabe, als täglich Theorien zu entwickeln, die diese Verdrängung erleichtern und befeuern. Ungleiche Güterverteilung muss anders denn durch materielle Produktionszusammenhänge begründet werden, damit die soziale Ungleichheit der Klassen gerecht erscheint. Dabei wird am Pöbel die eigene Unfähigkeit zur Ermöglichung der Freiheit eines jeden und die historische Lüge von der Gleichheit aller vor dem Gesetz verurteilt, sodass die bürgerliche Klasse in der Polizei ihr reines Gewissen etabliert: mit Gewalt, direkter mittels Knüppel oder indirekter mittels Verwaltungsakte. In der Polizei exerziert die Klassengesellschaft ihre soziale Vergitterung.

Der Geist des Widerstands

Der systemische Grund der Polizei in der bürgerlichen Gesellschaft liegt in der Möglichkeit, dass sich aus der Armut heraus der Pöbel bildet. Daher ist nach Hegel die erste Gestalt, mit der der Staat materiell in den gesellschaftlichen Verhältnissen auftritt, die Polizei, die wiederum als erstes auf den Pöbel trifft. In der Polizei gipfelt die paradoxe Situation, wonach allen Menschen die Mittel der Freiheit durch Arbeit bereitgestellt sein müssen, dieselben Arbeitsmittel aber durch die Ökonomie der bürgerlichen Klasse den Arbeitenden und Armen verweigert werden, in der Schizophrenie der Bürgerlichen. Sie fühlen, dass ihre Klassenprivilegien jederzeit bedroht sind und erklären es mit einem Ressentiment der Armen. Auf der einen Seite will man der Armut abhelfen, auf der anderen Seite kann man es nicht, ohne sich selbst und die bürgerliche Ordnung abschaffen zu müssen. Pöbel – das ist auch die Chiffre für den Arbeitsplatz der Polizei.

Dem bürgerlichen Bewusstsein erscheint der Pöbel genau deshalb als das „Böse“ schlechthin, wie Hegel andeutet. Im Zeichen dieses anstößigen Bösen fanden kürzlich beispielsweise die Debatten zur Kindergrundsicherung oder dem Bürgergeld statt, ebenso wie seinerzeit die Agenda 2010 vom selben Geist der Arroganz und des bürgerlichen Klassenhasses getragen war. Da das in der Armut sich selbst überlassene, unvermittelte Dasein des Pöbels, der keine Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlich produzierten Reichtum hat, weitgehend ohne Eigentum ist und die Polizei ihre Hauptzuständigkeit andererseits im Schutz des Eigentums und der Eigentümer sieht, ist der Pöbel für die Polizei fortwährend ein inkriminiertes Subjekt. Gegenüber dem Pöbel gilt die Schuldvermutung: im Zweifel gegen den Verdächtigen. Der Pöbel wird nicht aufgrund seiner Taten, er wird aufgrund seiner Existenz verdächtigt, die mit Zwang auferlegte Subsistenzlosigkeit. Seine Straftat ist sein Wesen. Keine Tat ist gut genug, um den Verdacht loszuwerden.

So denkt die bürgerliche Gesellschaft, der Pöbel sei „leichtsinnig und arbeitsscheu“, und dies sei eine individuelle Disposition und ein selbstverschuldeter Zustand – die verkörperte Unmoral. Damit urteilt die bürgerliche Gesellschaft über die Armen und den Pöbel moralisch, weil das bürgerliche Klassensystem sie bereits verurteilt hat. Folglich nährt sich das Verhältnis zwischen Polizei und Pöbel aus Argwohn und Verachtung. Strukturell ruft die Polizei den Pöbel fortwährend zur Räson auf, von Duisburg Marxloh bis Berlin-Neukölln.

Unversöhnliche Widersprüche äußern sich, eben weil sie unversöhnlich sind, gewaltsam. Sie regulieren sich selbst zur objektiven Einheit durch Gewalt. Dies ist die offene Wunde des Systems nach Hegels Rechtsphilosophie. „Meinem Körper von anderen angetane Gewalt“ durch Entzug der Mittel zur Subsistenz „ist Mir angetane Gewalt“, also meinem Mensch-Sein. Der Pöbel ist für die bürgerliche Gesellschaft factum brutum, eine bloße und hinzunehmende sowie unerklärliche Tatsache, obwohl seine Existenz nicht von der eigenen Modernität zu trennen ist. Dieser Abgrund liegt der bürgerlichen Moderne zugrunde.

Hier setzt die Polizei an. Ihre Hauptbeschäftigung zielt auf die Pöbel-Potenz der Armut ab. Armut an sich darf nicht Armut für sich werden – Unrechtsbewusstsein, aus dem das revolutionäre Bewusstsein erwachsen könnte, Teil einer Klasse zu sein, die durch die Gesellschaftsordnung entrechtet wird. So betrachtet, unterliegt die Besoldung der Polizei einer Ewigkeitsgarantie. Solange die bürgerliche Gesellschaft, die den Pöbel erzeugt, existiert, solange wird die moderne Polizei nicht mit ihrer Arbeit fertig.

Im Fadenkreuz der Polizei ist der Körper der Armen nur die Oberfläche. Darunter liegt das eigentliche Material der Polizeiarbeit verborgen: der Geist des Widerstands. Daraus weiß selbst Hegel keinen Ausweg, außer dass durch „diese ihre Dialektik […] die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben“ wird.

Die schlechte Unendlichkeit sozialer Gewalt

Zwei Tage vor dem Beginn des G20-Treffens in Hamburg im Juli 2017 sagte der Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde mit Blick auf die angemeldeten Demonstrationen: „Natürlich kriegen wir das hin. […] Und wenn wir es brauchen, packen wir alles aus.“ Ein Exzess der Polizeigewalt war die Folge. Vorausgegangen waren die seit der Weltwirtschaftskrise 2008 anhaltenden Massenkämpfe gegen das globale Kapital, von New York und London über Paris und Frankfurt bis Brüssel, Rom, Athen und Istanbul. Begleitet vom Hinweis auf die dschihadistischen Terroranschläge in Europa dienten die G20-Proteste in Hamburg der herrschenden Klasse als Begründung der Reform des deutschen Polizeirechts. Sie führte zur zunehmenden Militarisierung der Polizei mit massiver Ausrüstung und erweiterte die Ermächtigung für polizeiliche Maßnahmen.

Dudde behielt also recht. Die politisch getragene und gezielte Entriegelung von Polizeigewalt unter seinem Kommando in Hamburg hatte die gesetzliche Grundlegung und Erweiterung von Polizeimaßnahmen durch die bürgerliche Politik im ganzen Land zur Folge, die wiederum Polizeigewalt befördert und die zyklische Wiederkehr der „law and order“-Unkenrufe konservativer Berufspolitiker und sozialdemokratischer Opportunisten absichert. Innerhalb polizeilicher Logik war Dudde nur konsequent. Wer Tatsachen schafft, macht die Gesetze. Wer alles auspackt – warum sollte der wieder alles einpacken? Der schickt behelmte Polizist:innen vor, um danach für die Monopolkapitalist:innen der Kohlewirtschaft mit Baggern ein Dorf zu zerstören. Der knüppelt Versammlungen für den Frieden und Maikundgebungen für die Befreiung der Arbeit nieder. Der zäunt Armenquartiere ohne jede Kommunikation mit den Bewohner:innen eines Hochhauses wegen Corona-Infektionen ein. Der verbietet rundherum per Allgemeinverfügung propalästinensische Demonstrationen im Namen der Staatsräson. Der poliziert nach der Drehorgel des Wertgesetzes.

Ob in Deutschland oder an den EU-Grenzen, die jüngere Entwicklung der Polizei zeichnet gewaltige Repressionsmaschinen und inneren Militarismus ab. Hegel würde solche Strukturen und Prozesse als „schlechte Unendlichkeit“ beschreiben: Der Arme wird Pöbel, aber der Pöbel ist selbst ein Armer, also wird der Arme gleichfalls ein Pöbel, und so fort ins Unendliche. Die Arbeit der Polizei ist in der bürgerlichen Gesellschaft unendlich. Sie wiederholt auf immer höherer Stufe die Gewalt, die von ihr ausgeht – die Klassengewalt der Bürgerlichen gegen die arbeitende Klasse.

Da die Erzeugung des Pöbels die Freiheit als Ganzes angreift, buchstäblich die Luft zum Atmen nimmt und damit das Leben selbst negiert wird, ist für Hegel der Gesetzesübertritt des Pöbels gerechtfertigt. Er ist der Versuch, einer Situation zu entfliehen, die von „totaler Rechtslosigkeit“ gekennzeichnet ist, gleichbedeutend mit Sklaverei. Das „Notrecht“ der unfreien Freien ist die Konsequenz. Hegels politische Philosophie gibt den Entrechteten und Getretenen Mittel an die Hand, die schlechte Unendlichkeit sozialer Gewalt zu durchbrechen.

Im revolutionären Gehalt dieses Notrechts findet Marx in Hegels „Rechtsphilosophie“ einen Hebelpunkt, die Dialektik materialistisch umzustülpen. „Die Polizeistrafe ist der Ausweg gegen eine Tat, welche Umstände zu einer äußern Unordnung stempeln“ (S. 120), so Marx 1844 in Bezug auf die Besitzlosen, die kriminalisiert werden, weil sie zur Beheizung ihrer Hütten von Bäumen abgefallenes Holz aufsammeln – ein Vorläufer des Containerns. Nach Marx haben die Holzdiebe ein Recht dazu. Das bleibt nicht folgenlos. Aus einem Notrecht wird eine von revolutionärer Theorie geleitete Praxis, die mit jeder Klassenkampferfahrung die Theorie bereichert. Aus Polizei contra Pöbel wird Proletariat contra Polizei.

Zusätzlich verwendete Literatur

Bei Wörtern und Sätzen in Anführungszeichen ohne Quellenangabe handelt es sich um Zitate aus: G.W.F. Hegel [1820] 2017: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Karl Marx 1842: Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz. Rheinische Zeitung Nr. 300 vom 27. Oktober 1842. In: MEW 1. Karl Marx 1844: Zur Judenfrage. MEW 1, 365-6. Lenin. Staat und Revolution. Siehe: LW 25, 401. Lea Pilone 2022: Polizei und Rassismus in Deutschland. Eine historische Genese. In: Die Diversität der Ausbeutung – Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Verlag Dietz Berlin. Simin Jawabreh 2023. Gefährliche Räume? Polizeiliche Grenzziehungen in der Stadt. In: Kritische Studierendenzeitschrift der Humboldt Universität Berlin (HuCH). # 96.

Zitathinweis: Mesut Bayraktar: Polizei contra Pöbel – Reflexionen mit Hegel. Erschienen in: Wer braucht eigentlich die Polizei? 70/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/76zca. Abgerufen am: 04. 10. 2024 14:31.