Kaputt machen, was den Planeten zerstört?
- Thema
- Essay von Jan Ole Arps und Guido Speckmann
Die Zeit läuft ab, nun debattiert die Klimabewegung über radikalere Aktionsformen. Setzen sie damit an der richtigen Stelle an?
Die Beschlüsse der UN-Klimakonferenz in Glasgow sind eine Katastrophe. Sie besiegeln den Kurs auf eine drastische und nicht umkehrbare Erhitzung der Erde, die das Überleben Hunderter Millionen Menschen und unzähliger Tier- und Pflanzenarten bedroht. Gleich, ob Kipppunkte im Klimasystem in zehn, zwanzig oder erst in 50 Jahren erreicht werden: Wir rasen auf eine Situation zu, die das Leben der allermeisten Menschen und auch die Bedingungen für kommunistische Utopien grundlegend verändern wird.
Angesichts der düsteren Lage ist in der hiesigen Klimabewegung eine Debatte über die politische Ausrichtung in Gang gekommen. Zum einen wird über die taktische Frage der Aktionsformen gestritten, zusammengefasst: Muss die Klimabewegung zu radikaleren Mitteln greifen, um den Druck zu erhöhen? Zum anderen geht es um die strategische Orientierung: An wen richtet sich die Bewegung, wie glaubt sie, die Begrenzung der Erderwärmung erreichen zu können?
Die Forderung nach militanten Aktionsformen wird derzeit vor allem in der Absicht erhoben, den Staat zu wirksameren klimapolitischen Maßnahmen zu drängen. Ihr bekanntester Fürsprecher ist der schwedische Humanbiologe Andreas Malm. Seine Aufrufe zur Sabotage und Zerstörung der fossilen Infrastruktur erscheinen in großen Medien, die Begründung: Wenn jemand in deinem Haus eine Zeitbombe platziert, hast du das Recht, sie zu entschärfen. Wenn also eine Industrie unsere Lebensgrundlage zerstört, haben wir das moralische Recht, sie lahmzulegen.
In Deutschland sorgte Ende November 2021 ein Interview des Spiegel mit dem langjährigen Klimaaktivisten Tadzio Müller für Furore. Darin warnt Müller, dass sich Teile der Klimabewegung angesichts der Untätigkeit der Politik radikalisieren werden, sagt „zerdepperte Autoshowrooms, zerstörte Autos, Sabotage in Gaskraftwerken oder an Pipelines“ für nächsten Sommer voraus und prognostiziert gar die Entstehung einer „grünen RAF“. Andere Protestformen hätten nicht gereicht, nun laufe die Zeit davon.
Sicher spricht viel dafür, dass die Klimabewegung ihr Protestrepertoire erweitert, und ja: Die Zeit läuft ab. Dennoch fällt auf, dass die Forderung nach militanten Aktionen vor allem darauf abzielt, den Staat oder sogar die Energiekonzerne selbst (durch Hochtreiben der Kosten) zum Handeln zu bewegen. In einem Artikel von Andreas Malm im britischen The Guardian heißt es explizit: Wenn der Staat nicht eingreife, müssen es andere tun – „nicht, weil Aktivist*innen die Abschaffung fossiler Brennstoffe erreichen können – die Macht hierzu haben nur Staaten –, sondern weil ihre Rolle darin besteht, den Druck hierfür zu verstärken.“
Diese Aufrufe zu einem, nennen wir es: militanten Reformismus erkennen zwar an, dass der Staat den Interessen der Unternehmen Vorrang einräumt und zum Umsteuern erst gezwungen werden muss. Sie blenden aber aus, dass der Staat gar nicht anders kann, als möglichst ideale Verwertungsbedingungen für das Kapital zu schaffen. Die politische und militärische Macht eines Staates in der globalen Staatenkonkurrenz basiert vor allem auf seiner wirtschaftlichen Macht – und die hängt zum Hauptteil davon ab, dass möglichst große, profitable und innovative Unternehmen und Finanzakteure in diesem Staat beheimatet sind, sodass die Wirtschaft brummt, der Klassenkonflikt befriedet werden kann und die Steuereinnahmen sprudeln. Im Kapitalismus ist daher keine Politik denkbar, die wirtschaftliches Wachstum und steigenden Ressourcenverbrauch verhindert – und das wäre nötig, um den Ausstoß klimaschädigender Treibhausgase zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten.
Die Appelle für radikalere Aktionen gehen somit wichtigen grundsätzlichen Fragen aus dem Weg: Bis zu welchem Grad kann die Klimabewegung beim Klimaschutz auf den Staat hoffen, kann sie es überhaupt? Welcher Druck wäre nötig, um wirksamen Klimaschutz zu erzwingen – und wie soll er mobilisiert werden? Und wenn das Erzwingen staatlicher Maßnahmen keine aussichtsreiche Strategie ist: Was sind die Alternativen? Wir wollen im Folgenden versuchen, einige Antworten zu skizzieren, die in den antikapitalistischen Teilen der Klimabewegung diskutiert werden, und herauszuarbeiten, welche politischen Fragen sich daraus ergeben. Schließlich machen wir einen Vorschlag, wie die Debatte weitergehen könnte. Auf Green-New-Deal-Konzepte gehen wir an dieser Stelle nicht ein, weil sie auf der Illusion eines ökologischen Umbaus bei gleichzeitigem wirtschaftlichem Wachstum aufsetzen und mit ihrem Ressourcenbedarf letztlich auf eine Art grünen Kolonialismus hinauslaufen.
Ökosozialismus
Der zurzeit prominenteste Vertreter der ökosozialistischen Richtung in der Klimastrategiedebatte im deutschsprachigen Raum ist der Wirtschaftsgeograf Christian Zeller. Seine Gedanken hat er in dem Buch „Revolution für das Klima – Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen“ (2020), aber auch in zahlreichen Artikeln dargelegt. Seine Hauptthese lautet, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung dringend eine Strategie entwickeln müsse, „die zur Selbstaktivität und Selbstermächtigung der arbeitenden Bevölkerung anregt“. Nur die Lohnabhängigen in den Betrieben seien potenziell in der Lage, die entscheidenden Fragen, was, wie, wo, für wen und auf welche Weise produziert wird, ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu rücken.
Zellers Definition des Ökosozialismus lautet auf eine Kurzformel gebracht: eine Gesellschaft, die gemeinsam entscheidet, mehr teilt und weniger produziert. Um weniger zu produzieren, sei ein historisch nie dagewesener Um- und Rückbau des industriellen Apparates erforderlich, weil fossile Energien bei weitem nicht durch erneuerbare ersetzt werden können und folglich global mit viel weniger Energie ausgekommen werden müsse. Hierfür sei die Enteignung und Vergesellschaftung der fossilen Konzerne, der Energiewirtschaft sowie des Finanzsektors zu erzwingen, außerdem eine umfassende ökologische Mobilitätswende, die den motorisierten Individualverkehr weitgehend verbannt und eine Stadt- und Raumplanung unter der Prämisse möglichst kurzer Wege einzuleiten. Vom Sozialismus übernimmt Zeller den Fokus auf die Arbeiter*innenklasse, die Eigentumsfrage und den revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus als Voraussetzung für eine Gesellschaft, die die Klimaerwärmung abmildern kann.
Vom traditionellen Sozialismus oder der Gewerkschaftsbewegung grenzt Zeller sich ab, weil diese in produktivistischen Wachstumsvorstellungen verhaftet seien und auf die Entwicklung der Produktivkräfte setzten. Heute jedoch sei der Griff nach der Notbremse die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass sich Produktivkräfte vollends zu Destruktivkräften entfalten. Damit steht bei ihm im Unterschied zu den bisherigen revolutionären Versuchen nicht nur die politische, gesellschaftliche und ökonomische Neuorganisation, sondern die Umgestaltung des gesamten produktiven Apparates der Gesellschaft einschließlich der Reproduktion auf der Tagesordnung. Zeller plädiert deshalb auch für eine strategische Allianz aus feministischer Bewegung, Klimagerechtigkeits- und Arbeiter*innenbewegung.
Er ist sich bewusst, dass es eine gigantische Kluft zwischen den Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, und dem Bewusstsein über die Notwendigkeit dieser Maßnahmen gibt – auch und vielleicht gerade bei den Lohnabhängigen. Die Forderung nach Um- und Rückbau des industriellen Apparates läuft ja darauf hinaus, dass große Teile der Arbeitenden zugespitzt für das Überflüssigmachen ihres eigenen Arbeitsplatzes streiken müssten. Mit Konversion allein ist es längst nicht getan, ganze Sektoren (Rüstung, Auto) müssten radikal schrumpfen.
Zeller erwidert auf den Einwand, dass weder die Klima- noch die Klassenkämpfe auch nur annähernd für die formulierten Aufgaben vorbereitet seien, dass es keinen linearen Fortschritt gebe, die geschichtliche Entwicklung auch Sprünge, Brüche und Verdichtungen kenne. Auf solche abrupten Entwicklungen müsse sich die Linke angesichts der drohenden Klimakatastrophe einstellen. „Das Erdsystem macht gegenwärtig Sprünge, und die Gesellschaften machen das auch“, schreibt er in seinem Buch.
„In wenigen Jahrzehnten werden wir in einer physisch anderen Welt leben. […] Darum braucht es Organisationen, die auch in der Lage sind zu springen. Organisationen, die sich an scheinbar realistische Konzepte anpassen, werden durch den Gang der Dinge mitgerissen werden und kein Potenzial mehr haben, alternative Perspektiven vorzuschlagen.“
Eine Anpassung an das, was derzeit politisch erreichbar erscheine, könne dagegen kein Ausweg sein, da es die Realität des Klimawandels verzerre und damit unrealistisch sei.
Die Idee der Sprünge mag man als geschichtsphilosophische Spekulation abtun. Aber Mitte 2018 hätte sich auch niemand die globalen Streiktage von Fridays for Future vorstellen können, Mitte 2019 niemand eine globale Pandemie. Zeller selbst nennt konkrete zarte Pflänzchen, aus denen sich eine plurale ökologische Massenbewegung der Lohnabhängigen entwickeln könnte: die gemeinsame Tarifkampagne der Gewerkschaft ver.di und von Fridays for Future im Herbst 2020, den von der Gewerkschaft CGT getragenen und von Umweltorganisationen unterstützten Streik der Beschäftigten der Total-Raffinerie in französischen Grandpuits zu Beginn des Jahres, der die Konversion der Erdölindustrie zum Ziel hatte, oder den Bosch-Streik in München. „Ich plädiere dafür, eine Debatte über strategische Optionen des Aufbaus gesellschaftlicher Gegenmacht jenseits der Übernahme von Regierungsverantwortung in bürgerlichen Regierungen zu beginnen“, so Zeller in seiner Artikelreihe bei der Freiheitsliebe.
Allianz zwischen Klima- und Klassenkämpfen
Der Kampf im Bosch-Werk in München ist aktuell eines der wenigen Beispiele für eine Zusammenarbeit zwischen Klimabewegung und Arbeiter*innen der Autoindustrie in Deutschland. Das Bosch-Werk in München soll unter dem Vorwand des Klimaschutzes geschlossen werden. Dagegen haben sich Klimaaktivist*innen und Beschäftigte zusammengetan. Sie fordern die Umstellung der Produktion auf klimafreundliche und gesellschaftlich notwendige Erzeugnisse. Laura Meschede von der Gruppe Klimaschutz und Klassenkampf kritisierte in ak 674, das Teilen der Klimabewegung der Bezug zu Klassenkämpfen fehle, weil sie die Bedeutung des Konsums überbetone. In Wahrheit gehe es um die Frage der Produktion und damit die Eigentumsfrage:
„Die Klasse ist nicht nur aus moralischen Gründen wichtig, sondern vor allem aus strategischen: Der Kampf gegen den Klimawandel ist untrennbar mit der Frage verknüpft, was wir produzieren – und wie. Und Demonstrationen allein können in dieser Frage keinen Druck erzeugen. […] Das ist bei Streiks anders.“
Zudem betreffe der Klimawandel die Lohnabhängigen am stärksten. Deshalb sei es ein „genuines Klasseninteresse“, gegen den Klimawandel vorzugehen – und es müsse ein besonderes Interesse der Klimabewegung sein, das Bündnis mit den Lohnabhängigen zu schmieden (mehr dazu in unserem Interview, Anm. Red.).
Ähnlich argumentierte die Gruppe Angry Workers aus London kürzlich in einer Artikelserie auf ihrer Homepage. Die Angry Workers betonen, dass nur selbstorganisierte Arbeiter*innen die Macht entwickeln könnten, Maßnahmen zur Beendigung der Klimakrise durchzusetzen – nicht, indem sie mehr Druck auf den Staat machen, sondern indem sie dafür kämpfen, die kapitalistische Verwertung aufzuheben.
Im Unterschied zur Initiative Klimaschutz und Klassenkampf bei Bosch, die auf Kooperation mit der IG Metall setzt, sehen die Angry Workers in den Gewerkschaften keine geeigneten Bündnispartner: „Die Existenz der Gewerkschaften ist vom Fortbestand des kapitalistischen Systems abhängig. Sie hängt von ihrer Aufgabe ab, die ‚Jobs und Interessen ihrer Mitglieder zu schützen‘.“
Ihre eigene Rolle sehen die Angry Workers – neben Analyse und dem Knüpfen von Kontakten zwischen Arbeitskämpfen und Klimabewegung – darin, Arbeiterselbstorganisierung zu stärken und Klimaforderungen in betriebliche Kämpfe einzubringen, etwa mit Hitzestreiks gegen steigende Temperaturen.
Worauf bisher weder die Angry Workers noch die Münchener Gruppe eine Antwort haben, ist, wie die Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiter*innen in der knappen Zeit gelingen soll oder wie die Notwendigkeit eines Rückbaus vieler Industrien angegangen werden kann. Auch das Dilemma, dass nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch Arbeiter*innen als Lohnabhängige von der erfolgreichen Verwertung des Kapitals abhängig sind, wird bislang nur in Ansätzen reflektiert.
Einen Ausweg deutete der VW-Arbeiter Lars Hirsekorn an. Er betonte den Lebensqualitätsgewinn, den mehr freie Zeit bedeute, und verwies für den Fall der Autoindustrie auf die Notwendigkeit neuer Mobilitätskonzepte, etwa durch einen massiven Ausbau des ÖPNV. Nur dann seien Einschränkungen des Individualverkehrs überhaupt möglich. Schon an diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig es in der Diskussion um Klassen- und Klimakämpfe ist, von vorneherein zu vermeiden, dass die Perspektive auf den Einzelbetrieb beschränkt bleibt.
Bündnis mit den Bewegungen des Globalen Südens
In ihrem Artikel „Warum sich die Klimabewegung dekolonisieren muss“ in der ak 673 betonen Esteban Servat und Nico Graak die Gefahr einer NGOisierung oder Parlamentarisierung der Klimabewegung. Dagegen fordern sie deren Dekolonialisierung. Sie schreiben:
„Die Fronten befinden sich meist im Globalen Süden, wo die Menschen unter der Zerstörung ihres Landes und der kolonialen Ausbeutung durch meist multinationale Konzerne aus dem Globalen Norden leiden, die sich in ihren Heimatländern als grün präsentieren. Eine Strategie zu entwickeln, kann also nur bedeuten, den Menschen an diesen Fronten zuzuhören und sich von ihnen die Ziele und Schwachpunkte der Industrie und der multinationalen Klimaverbrecher*innen zeigen zu lassen.“
Diese Denkfigur wiederholt einige Probleme, die auch antiimperialistische Konzepte der 1970er und 1980er Jahre kennzeichneten. So fehlt nicht nur der Bezug auf die Ausgebeuteten im Globalen Norden, die ebenfalls verstärkt unter dem Klimawandel leiden (werden), sondern auch auf die Möglichkeit von Kämpfen in den kapitalistischen Zentren – womit auch eine Antwort auf die Frage, wie den Konzernen überhaupt etwas entgegengesetzt werden kann, in weite Ferne rückt.
Trotz dieser Schwachstellen benennt der Appell zur Dekolonisierung zentrale Probleme der Klimagerechtigkeitsbewegung: Dass die Produzent*innen der Klimakrise die Unternehmen im Globalen Norden sind, die Hauptleidtragenden aber in den postkolonialen Gesellschaften vor allem im Globalen Süden leben, ist ein Fakt, den jede klimapolitische Strategie berücksichtigen muss. Und wer sich mit globalen Industrien und Wertschöpfungsketten anlegt, kann dies nur in einer globalen Organisierung tun. Dass in den Protesten gegen das Fracking-Gas-Terminal in Brunsbüttel bei Hamburg diesen Sommer der Versuch unternommen wurde, die globalen Verflechtungen und neokoloniale Verhältnisse in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein guter Schritt. Allerdings gilt für globale Unternehmen das gleiche wie für andere: Die größte Macht, sie unter Druck zu setzen, besitzen deren Arbeiter*innen. Die Frage bleibt: Wie geht eine Bewegung, die global sein muss, mit den Machtverhältnissen, die auch zwischen den ausgebeuteten Klassen im Norden und Süden bestehen, politisch um, ohne sie an den Rand zu schieben oder als moralische Appelle zu verhandeln?
Impulse aus der Degrowth-Bewegung
Die Kernthese der wachstumskritischen Bewegung ist: Es ist unmöglich, Wirtschaftswachstum vom Materialdurchsatz – also dem Verbrauch von Rohstoffen und Energie – so weit zu entkoppeln, dass die Erderwärmung auf ein erträgliches Maß beschränkt werden könnte. Oder eingängiger formuliert: Es gibt kein endloses Wachstum auf einen begrenzten Planeten. Die Konsequenz hieraus ist, dass Produktion und Konsum drastisch zu reduzieren sind. Die notwendige radikale Verringerung des Durchsatzes an Materie, Energie und Emissionen ist in Gesellschaften des Globalen Nordens nur durch eine Reduktion der Wirtschaftsleistung und einen tiefgreifenden Umbau von Produktion und Konsum möglich. Das läuft auf eine Deprivilegierung des Globalen Nordens und insbesondere seiner Eliten hinaus.
Die Wachstumskritik nimmt somit im Gegensatz zu traditionellen linken Strömungen die biophysischen Grundlagen der Ökonomie ernst. Ihre Vorschläge zur Verringerung des Energie- und Materialdurchsatzes sind viel ausgefeilter als etwa in ökosozialistischen oder erst recht den beschriebenen betriebszentrierten Konzepten. Damit verbunden findet sich im Degrowth auch eine gründlichere Kritik der Technik, konkret der Hoffnung, dass Technologien ein Mittel sein können, um effizienter zu wirtschaften und so Emissionen zu senken. Fragen, die in den meisten linken Strömungen kaum diskutiert werden.
Die Degrowth-Bewegung beschränkt sich aber nicht auf Kritik, sondern versucht, eine utopische Dimension aufzuzeigen. Weniger Produktion und Konsum bedeutet eben nicht zwangsläufig weniger Zufriedenheit und Glück, sondern mehr. Zeitwohlstand, Entschleunigung, Entschlackung, Abschaffung von Statuskonsum und Entfremdung sind nur einige Stichwörter. In der Praxis versuchen wachstumskritische Zusammenschlüsse, diese Ziele in Ökodörfern, Kommunen, Urban-Gardening-Gruppen etc. zu verwirklichen.
Aber: In der Abscheu vor dem Industrialismus verwerfen viele Wachstumskritiker*innen auch gleich die Arbeiter*innenklasse als Subjekt der Umgestaltung. Eine Kritik des Zwangs zur Kapitalakkumulation als Treiber des Wirtschaftswachstums und damit von erhöhtem Ressourcenverbrauch und Emissionen wird kaum geübt.
Wie kann es weitergehen?
Von den vorgestellten Ansätzen bietet der ökosozialistische Vorschlag am ehesten die Basis für eine plausible strategische Orientierung. Allerdings muss er ergänzt werden um Fragen, die einige der anderen Vorschläge aufwerfen.
Ein Umsteuern, das die Erderhitzung noch abbremsen könnte, ist mit dem kapitalistischen Wachstumszwang schlicht nicht vereinbar. Zu dieser Erkenntnis muss sich die Klimabewegung durchringen, will sie ihr Handeln nicht an Illusionen ausrichten, die an den Verhältnissen zerschellen und in Enttäuschungen enden müssen.
Die beschriebene Kluft zwischen ökologischer Notwendigkeit und politischer Realität lädt dazu ein, in Apokalyptik und Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Die Forderung nach militanteren Aktionen ist vor diesem Hintergrund verständlich, aber auch sie bleibt ein Akt der Selbstberuhigung durch Radikalisierung der Form. Eine Militanzdebatte kann dann sinnvoll geführt werden, wenn Klarheit über die politische Strategie besteht, in die sie eingebettet wäre.
Ob die Sprünge im gesellschaftlichen Bewusstsein und Handeln möglich sind, auf die Christian Zeller verweist, kann sich nur im praktischen Versuch zeigen. Für einen solchen Versuch ist es zentral, dass sich die antikapitalistischen Teile der Klimabewegung an den Aufbau von Handlungsfähigkeit in Industrien wagen, die die Erderhitzung vorantreiben, und dort politische Erfahrungen sammeln. Das Beispiel von Bosch in München kann hierfür erste wichtige Lektionen bieten, anhand derer Möglichkeiten und Schwierigkeiten eines betrieblichen Klimakampfes ausgewertet werden können. An anderen Orten können ähnliche Versuche unternommen werden. Ansatzpunkte gibt es genug, allein in der deutschen Autoindustrie ist in den nächsten Jahren der Abbau von mehr als hunderttausend Arbeitsplätzen und die Schließung zahlreicher Werke geplant; in vielen Betrieben sind Gewerkschafter*innen und Vertrauensleuten die ökologischen Probleme bewusst.
Auch wenn es im Aktionsrepertoire der linken Teile der Klimabewegung näher liegen mag, Automessen zu blockieren, wäre es von enormer strategischer Wichtigkeit, dass sie die Produktionsorte der klimaschädlichen Industrien aufsucht und dort nach Ansätzen für einen gemeinsamen Kampf mit denen sucht, die dort arbeiten.
Gleichzeitig müssen in diese Kämpfe die Erkenntnisse der Degrowth-Bewegung einfließen, das heißt, die Klimabewegung muss sich am Beispiel einzelner Produktionszweige mit den stofflichen Seiten der Produktion und ihrer Umstellung oder ihrem Rückbau befassen. Generell wären Anregungen zu diskutieren, wie die Utopie einer anderen Gesellschaft oder kollektive Vorstellungen eines guten Lebens unter Bedingungen eines veränderten Stoffwechsels mit der Natur, konkret des drastisch reduzierten Energie- und Ressourceneinsatzes denkbar sind. Unter welchen Bedingungen kann Reduktion so gelingen, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erhalten oder ausgebaut werden – und zwar ohne die post- und neokolonialen Verhältnisse fortzuschreiben, wie es ein Green New Deal im Globalen Norden, der den Zugriff auf Land und Ressourcen im Globalen Süden erfordert, unweigerlich tun würde?
Auch in den nächsten Jahren werden Extremwetterereignisse in gesteigerter Frequenz in vielen Teilen der Welt für Verwüstungen und viel Leid sorgen. Die Beschlüsse von Glasgow haben jede Hoffnung auf ein Vermeiden der Kipppunkte im Klimasystem zunichte gemacht, und die Grünen haben gerade mit großer Mehrheit einem Koalitionsvertrag zugestimmt, mit dem es keine Chance gibt, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Große Teile der Klimabewegung werden sich neu orientieren müssen. Vielleicht stehen die Chancen für eine ökosozialistische Wende der Bewegung, für betriebspolitische Experimente und eine Diskussion über Enteignung, Umbau oder Zerschlagung der deutschen Industrie unter der Kontrolle der Arbeiter*innen ja gar nicht so schlecht.
Anmerkung
Bei diesem Essay handelt es sich um die aktualisierte Fassung eines Artikels, der im Dezember 2021 in der ak 677 erschienen ist. Dort sind auch weiterführende Links und Quellenangaben zu finden.