Die Erneuerung der globalen Arbeiterklasse
- Thema
- Essay von Beverly Silver
Die Arbeiterbewegung ist keineswegs tot. Vielmehr deutet der seit 2008 zu beobachtende Aufschwung von Arbeiterunruhen und Klassenkämpfen darauf hin, dass wir eine Trendwende erleben.
Seit den 1980er-Jahren hat sich in den Sozialwissenschaften die Ansicht durchgesetzt, dass Arbeiterbewegungen und Klassenkämpfe ein Relikt der Vergangenheit seien. Im Allgemeinen wurde behauptet, die „Globalisierung“ habe einen verschärften Wettbewerb unter den Arbeiter_innen auf der ganzen Welt entfesselt und damit zu einer unaufhaltsamen Schwächung der Arbeitermacht und Verschlechterung der Lebensbedingungen geführt. Die Umstrukturierung der Produktion durch Fabrikschließungen, Auslagerungen, Automatisierung und den Rückgriff auf ein enormes neues Angebot an billiger Arbeitskraft würde die etablierten Arbeiterklassen der Massenproduktion in den Kernländern zersetzen und die erneute Mobilisierung der Arbeiterklasse überall auf der Welt schier unmöglich machen.
Mit dieser These von einem allgemeinen Wettlauf nach unten (race to the bottom) ließ sich dann aber nicht erklären, wie es zu dem weltweiten Aufschwung von Arbeiterunruhe und Klassenkämpfen seit 2008 kommen konnte. Dieser neue Aufschwung fand in verschiedensten Formen statt: eine Streikwelle von Fabrikarbeiter_innen in China und anderen Teilen Asiens, militante wilde Streiks in südafrikanischen Platinminen, die Besetzung öffentlicher Plätze durch arbeitslose und prekär arbeitende Jugendliche von Nordafrika bis in die Vereinigten Staaten sowie Proteste gegen die Austeritätspolitik in Europa. Und dies sind nur einige Anzeichen dafür, dass es zu einer Trendwende gekommen ist. Vermutlich stehen wir sogar erst am Anfang einer neuen Welle von weltweiten Mobilisierungen der Arbeiterklassen.
Ein globaler Aufschwung von Klassenmobilisierungen
Um zu verstehen, was sich vor unseren Augen abspielt, benötigen wir einen Ansatz, mit dem sich begreifen lässt, wie die immer wiederkehrenden Umwälzungen der Produktionsorganisation, die kennzeichnend für die gesamte Geschichte des Kapitalismus sind, nicht nur zur Zersetzung (unmaking) etablierter Arbeiterklassen, sondern auch zur Herausbildung (making) neuer Arbeiterklassen im globalen Maßstab führen.
Diejenigen, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder den Tod der Arbeiter_innenklasse und der Arbeiterbewegungen verkündeten, haben sich meistens einseitig nur auf den zersetzenden Aspekt der Klassenbildung konzentriert. Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Arbeiterklassen und Arbeiterbewegungen der Welt einem ständigen Prozess der Herausbildung, Zersetzung und Neubildung (remake) unterliegen, dann können wir den Fehler vermeiden, den Tod der Arbeiterklasse jedes Mal vorschnell zu verkünden, wenn eine historisch spezifische Form von Arbeiterklasse zersetzt wird. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war schon einmal voreilig vom Ende der Arbeiterbewegung gesprochen worden, als den handwerklichen Arbeiter_innen durch den Aufstieg der Massenproduktion ihre Macht genommen wurde; und in ähnlicher Weise wurde am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erneut ihr Tod verkündet.
Wenn wir uns genauer damit beschäftigen, wie sich Arbeiterklassen herausbilden, zersetzen und wieder umbilden, sind wir in der Lage, das Auftauchen von neuartigen Kämpfen wahrzunehmen – sowohl von sich neu herausbildenden Arbeiterklassen, als auch von Klassen, die zersetzt werden; also derjenigen, die entweder die kreativen oder die destruktiven Aspekte der Kapitalakkumulation erleben. Ich habe diese zwei Formen der Kämpfe als Arbeiterunruhe des marxschen und des polanyischen Typs bezeichnet. Arbeiterunruhe des marxschen Typs bestehen aus Kämpfen neu entstehender Arbeiterklassen, die ihren Status als billige und gefügige Arbeitskräfte in Frage stellen. Zu Arbeiterunruhe des polanyischen Typs kommt es, wenn etablierte Arbeiterklassen ihre bisherige Lebensweise und Existenzsicherung verteidigen, die sie in früheren Kämpfen dem Kapital und ihren Staaten abgerungen hatten.
Im gegenwärtigen Aufschwung begegnen wir beiden Typen der Arbeiterunruhe: Während die Streikwelle der neuen migrantischen Arbeiterklasse in China weitestgehend dem Typus einer sich neu herausbildenden Arbeiterklasse entspricht, verkörpern die Proteste gegen die Austeritätspolitik in Europa im Wesentlichen den Typus einer etablierten Arbeiterklasse, die zersetzt wird.
Kämpfe im Produktionsbereich
Die anhaltende Streikwelle in China ist der jüngste Ausdruck einer Dynamik, die sich auf die kurze Formel bringen lässt: Wohin das Kapital geht, dorthin folgt auch bald der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Anders gesagt: Die seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in aufeinander folgenden Schüben vollzogene geografische Verbreitung der Massenproduktion über die ganze Welt hat zu jeweils neuen Entstehungsprozessen von Arbeiterklassen und von Arbeiterunruhe des marxschen Typs geführt. Wir können darin ein wiederkehrendes Muster erkennen: Auf der Suche nach billigeren und gefügigeren Arbeitskräften wird industrielles Kapital an neue Standorte verlagert. Aber auch wenn dadurch die Arbeiterklassen in den Regionen, aus denen sich das Kapital zurückzieht, geschwächt werden, kommt es nicht zu einem unaufhaltsamen Wettlauf nach unten; an den jeweils neuen, bevorzugten Produktionsstandorten bilden sich jedes Mal neue Arbeiterklassen und starke Arbeiterbewegungen heraus.
Diese Dynamik konnten wir bei den industriellen „Wirtschaftswundern“ in Brasilien und Südafrika in den 1960er-Jahren und in Südkorea in den 1970er-Jahren erleben, auf die jedes Mal, im Zeitraum von nur einer Generation, ein „Wunder“ neu erstarkender Arbeiterbewegungen folgte, die eben jene repressiven Diktaturen beseitigten, die das Angebot an billiger und gefügiger Arbeitskraft garantiert hatten. Und heute können wir dieselbe Dynamik in China erkennen.
Eine Antwort der Kapitalist_innen auf die Welle der Arbeiterunruhe in China besteht darin, die Produktion an Orten mit noch günstigeren Arbeitskräften anzusiedeln. Fabriken werden von den Küstenregionen in das provinzielle Binnenland Chinas sowie in ärmere Länder Asiens wie Vietnam, Kambodscha und Bangladesch verlagert. Aber die Berichte über Streiks an diesen neuen bevorzugten Produktionsstandorten bestätigen wiederum die These, dass wohin das Kapital auch geht, die Konflikte nachfolgen. Mehr und mehr sieht es so aus, als ständen dem Kapital keine Orte mehr zur Verfügung, an die es fliehen kann.
Eine andere Antwort der Kapitalist_innen auf die Arbeiterunruhen bestand darin, den langfristigen Trend zur Automatisierung zu beschleunigen, also das Problem der Arbeiterkontrolle durch die Eliminierung der Arbeiter_innen aus den Produktionsprozessen zu lösen. Aber die Arbeiterunruhe in der Produktion bleiben weiterhin eine wichtige Komponente der Arbeiterunruhe im Allgemeinen. Die vollständige Entfernung der menschlichen Arbeit aus dem Produktionsprozess bleibt eine Illusion. Außerdem hat die postfordistische Reorganisation der Produktion das Störpotenzial der Arbeiter_innen in einigen Sektoren sogar verstärkt – auch wenn in der Literatur meistens ausschließlich die Frage behandelt wird, wie die Arbeitermacht durch diese Veränderungen geschwächt wurde.
Ein Beispiel: In der Automobilindustrie werden die Bauteile „just-in-time“, also genau rechtzeitig, vom Zulieferer an das Montagewerk geliefert. Durch die Beseitigung von Puffern in der Teileanlieferung kann schon ein Streik bei einem wichtigen Zulieferbetrieb die Produktion im ganzen Unternehmen innerhalb weniger Tage oder noch schneller vollständig zum Erliegen bringen. Genau das passierte 2010, als der Streik in einer Fabrik für Bauteile in kurzer Zeit die gesamte Produktion von Honda in China lahmlegte.
Ebenso hat die Globalisierung von Handel und Produktion die Verhandlungsmacht der Arbeiter_innen im Transport- und Kommunikationssektor erhöht, da Streiks in diesen Sektoren das Gespenst einer Störung ganzer regionaler und nationaler Ökonomien oder der globalen Lieferketten heraufbeschwören. So bezieht sich zwar die übliche Erzählung vom ägyptischen Aufstand im Februar 2011 vor allem auf die Proteste auf der Straße und die Besetzung des Tahrir Platzes, aber Mubarak trat erst von seinem Amt zurück, als die Suezkanal-Arbeiter_innen in Streik traten, was weitreichende Folgen für den nationalen und internationalen Handel hatte.
Kämpfe auf der Straße
Auch wenn es also ein Fehler wäre, die gegenwärtige und zukünftige Rolle der Arbeiterkämpfe in der Produktion zu unterschätzen, dürfen wir die Bedeutung der Kämpfe auf der Straße keineswegs ignorieren. Die Verflechtung dieser beiden Seiten des Kampfes lässt sich sogar aus dem ersten Band des „Kapital“ ableiten.
Einerseits konzentriert sich Marx im dritten und vierten Abschnitt des ersten Bandes auf die „verborgne Stätte der Produktion“ in der Fabrik, an der er einen endemischen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital um die Dauer, die Intensität und das Tempo der Arbeit ausmacht und darstellt. Diese endemische Natur des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital in der Produktion ist auch heute noch relevant. Auf der anderen Seite macht Marx im 23. Kapitel deutlich, dass die Logik der kapitalistischen Entwicklung nicht nur zu andauernden Kämpfen am Arbeitsplatz, sondern auch zu einem breiteren Konflikt auf der gesellschaftlichen Ebene führt, da die Akkumulation von Kapital mit einer „Akkumulation von Elend“ einhergehe, vor allem in Form einer expandierenden Reservearmee von Arbeitslosen, Unterbeschäftigten und prekär Beschäftigten.
So betrachtet, ist der historische Kapitalismus nicht nur durch einen zyklischen Prozess kreativer Zerstörung gekennzeichnet, sondern auch durch die langfristige Tendenz, bestehende Lebensgrundlagen schneller zu zerstören, als neue zu schaffen. Das verweist auf die Notwendigkeit, neben dem Protest von Arbeiterklassen, die herausgebildet (marxscher Typ) oder zersetzt (polanyischer Typ) werden, eine dritte Art von Arbeiterunruhe zu konzipieren. Diese dritte Art (für die ich keinen Namen habe) ist der Protest derjenigen Arbeiter_innen, die vom Kapital im Wesentlichen links liegen gelassen oder ausgeschlossen werden: jene Mitglieder der Arbeiterklasse, die über nichts als ihre Arbeitskraft verfügen, aber kaum die Chance haben, sie jemals in ihrem Leben verkaufen zu können.
Alle drei Arten der Arbeiterunruhe ergeben sich aus unterschiedlichen Ausdrucksformen der gleichen Prozesse kapitalistischer Entwicklung. Alle drei sind im gegenwärtigen weltweiten Aufschwung von Unruhen der Arbeiterklassen erkennbar – die Proteste einer großen Zahl arbeitsloser Jugendlicher auf der ganzen Welt sind ein Paradebeispiel für unseren dritten Typ. Und das Schicksal aller drei Arten von Kämpfen ist eng miteinander verwoben.
Die Arbeiterklasse vereinen
Marx’ Optimismus in Bezug auf den Internationalismus der Arbeiterklasse und die transformative Macht proletarischer Kämpfe beruhte zum Teil auf seiner Annahme, dass alle drei Typen von Arbeiter_innen in denselben Haushalten und Nachbarschaften zu finden waren – diejenigen, die als Lohnarbeitende in die neueste Phase materieller Expansion eingegliedert werden, jene, die durch die letzte Umstrukturierung auf die Straße gesetzt wurden, und jene, die für das Kapital überflüssig sind. Sie alle lebten zusammen und kämpften zusammen.
Anders gesagt, Marx hielt daran fest, dass die Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse – zwischen Beschäftigten und Unbeschäftigten, zwischen Aktiven und der Reservearmee, zwischen denjenigen, die in der Produktion kostspielige Störungen für das Kapital verursachen können, und jenen, die nur über die Macht verfügen, den Frieden auf der Straße zu gefährden – nicht deckungsgleich sind mit Differenzen von Staatsangehörigkeit, Hautfarbe, Ethnie oder Geschlecht. Die Arbeiter_innen, welche die drei verschiedenen Arten von Arbeiterunruhe verkörperten, bildeten für ihn eine Arbeiterklasse, die über eine gemeinsame Macht und gemeinsame Anliegen verfügte und die in der Lage war, eine postkapitalistische Zukunft ins Auge zu fassen, die der gesamten Arbeiterklasse der Welt ihre Emanzipation versprach.
Historisch betrachtet entwickelte sich der Kapitalismus jedoch Hand in Hand mit Kolonialismus, Rassismus und Patriarchat. Er spaltete die Arbeiterklasse entlang von Statuslinien (wie Staatsbürgerschaft, Ethnizität und Geschlecht) und blockierte damit ihre Fähigkeit, eine emanzipatorische Perspektive für die Klasse als Ganze zu entwerfen. Heute deutet einiges darauf hin, dass sich diese Spaltungen verfestigen – zunehmende Ressentiments gegen Fremde und Einwander_innen und Bemühungen, Migration einzuschränken und die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Privilegien zu stärken. Aber es gibt auch Anzeichen dafür, dass diese Spaltungen in mancher Hinsicht nicht mehr funktionieren oder sogar überwunden werden könnten. Das würde Mobilisierungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene möglich machen, in denen die Akteur_innen aller drei Arten von Arbeiterunruhe auf solidarische Weise zusammenkommen und Projekte einer transformativen Emanzipation für das 21. Jahrhundert entwickeln könnten.
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Beverly J. Silver ist Professorin für Soziologie an der Johns Hopkins University und Direktorin des Arrighi Center for Global Studies. Sie koordiniert dort die Forschungsgruppe „Global Social Protest“. Ihr Buch Forces of Labor: Workers’ Movements and Globalization since 1870 (Cambridge University Press, 2003), wurde in über ein Dutzend Sprachen übersetzt. Deutsch: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870 (Assoziation A, 2005).
Der Artikel erschien zuerst in englischer Sprache im ROAR Magazine. Übersetzung: Christian Frings.