Zur Kritik zeitgenössischer Literatur
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- Enno Stahl
- Buchtitel
- Diskurs-Pogo
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- Über Literatur und Gesellschaft
Der Band bündelt Enno Stahls Beiträge zu einer gesellschaftskritischen Theorie der Gegenwartsliteratur – eine Debatte, die bemerkenswert selten geführt wird.
Seit sich gesellschaftskritisches Denken mit Kunst- oder Kulturgütern beschäftigt, spielt die Literatur eine besondere und nicht immer leicht zu bestimmende Rolle. Da ist zunächst eine formale Nähe im Medium des geschriebenen Wortes: Marx’ Kritik ist so sehr Text, wie es auf den ersten Blick auch auf Harry Potter zutrifft. Auch in unseren Köpfen finden Denken und Kritik in Worten statt. Ähnlich wichtig ist die ausdrückliche politische Positionierung vieler SchriftstellerInnen innerhalb ihrer Werke, die auch ohne große Interpretationsleistung greifbar ist. Natürlich gab und gibt es sozialistische MalerInnen, MusikerInnen, auch die ungezählten Stalin-Büsten hat irgendwer aus dem Stein geschlagen. Die linke Literatur war der linken Theorie aber immer näher als andere Kunstformen und nie reiner Schmuck der Bewegung: Heinrich Heine, Oscar Wilde oder Bertolt Brecht werden wegen ihrer Inhalte diskutiert, nicht als kulturelles Rahmenprogramm. (Die rein männliche Besetzung dieser Liste ist keine Unachtsamkeit des Rezensenten, sondern den Verhältnissen der frühen Linken geschuldet. Als Schriftstellerin, die jenseits des sozialistischen Kerns einen erheblichen Einfluss auf soziale Bewegungen hatte, sei beispielhaft Virginia Woolf genannt.)
Trotz formaler Nähe und Tradition ist die linke Auseinandersetzung mit Literatur heute weit weniger angesagt, als jene mit Malerei, Musik oder Film. Die oben angerissenen AutorInnen gehören immer noch zum Pflichtprogramm sich kritisch gebender StudentInnen, inhaltliche Debatten aber vermag ein Buch erst anzustoßen, wenn es gerade frisch verfilmt wurde. Das gilt insbesondere für die Gegenwartsliteratur, die einen Kassenschlager nach dem nächsten zu verbuchen weiß, während sich das linke Feuilleton an historischen Avantgarde-Bewegungen abarbeitet. Eine der wenigen Ausnahmen in Theorie und Praxis ist Enno Stahl, dessen Aufsatzsammlung „Diskurs-Pogo. Über Literatur und Gesellschaftskritik“ im Verbrecher Verlag erschienen ist.
Die 16 Texte stammen aus den vergangenen zehn Jahren und sind größtenteils in ihren jeweiligen Debatten verhaftet. Sie legen keine geschlossene Literaturtheorie vor, sondern äußern sich diskursiv zu verschiedenen AutorInnen und Strömungen. Da Enno Stahl die Gründe seiner Urteile gründlich und transparent darlegt, sind die Texte auch noch nachvollziehbar und mit Gewinn zu lesen, wenn auch die Konflikte inzwischen abgekühlt sind. Die Texte sind in drei Bereiche sortiert: Kritik des „realistischen Romans”, der Themenkomplex Popliteratur und eine Verortung der Gegenwartsliteratur in der jüngeren linken Bewegungsgeschichte. Dass es innerhalb der Texte zu Überschneidungen und Wiederholungen kommt, ist nicht überraschend.
Junger deutscher Realismus
Enno Stahls Begriff der Gegenwartsliteratur meint ihren gerade noch als ernsthaft durchgehenden Teil und ignoriert die durchhängenden Regalbretter der Fantasy- und Vampir-Abteilungen im Buchhandel. Was dann noch bleibt, zeichnet sich durch den Anspruch aus, die Wirklichkeit abzubilden und sie weder phantastisch noch sozialkritisch zu transzendieren: Junge AutorInnen schreiben viel über ihr wildes Leben und wenig über Arbeit.
Und genau da setzt Stahls wichtigster Kritikpunkt an. Einleitend schreibt er, Literaturkritik habe sich zu positionieren und ihre Grundannahmen offenzulegen – er nennt das die Bestimmung ihrer „Wertungsdispositive” (S. 10). Seine eigene Perspektive ist eine mit Marx „materialistisch ideologiekritische” und stellt damit die Frage nach der Abbildung der ökonomischen Produktionsverhältnisse in dem Bild, das die Literatur von der Gesellschaft entwirft. Mit dieser Fragestellung im Hinterkopf stellt er fest, dass die Figuren deutscher Gegenwartsliteratur in den meisten Fällen überhaupt nicht arbeiten.
Noch mitten in der Eurokrise handle die Literatur von Problemen der Innenwelt und ringe mit ihren (meta)literarischen Verweisen, ohne sich sonderlich für die Verschärfungen der Lebensbedingungen zu interessieren. Und das betrifft nach Stahl nicht nur die AutorInnen selbst, sondern auch die andere Seite des Kulturbetriebs: Die Wertungsdispositive der Feuilletons seien „idealistisch-romantische” und pochten auf Werkimmanenz, statt auf die Bezüge zur sozialen Wirklichkeit. Auch wenn dieses Missverhältnis eine lange – romantische – Tradition hat, betont Stahl, dass große Literatur die Wirklichkeit zu deuten habe, anstatt sie naiv abzubilden, oder platt an der Oberfläche zu politisieren.
Aber nicht nur historisch ginge es anders: „Man kann ohne Übertreibung sagen, dass eine Daily-Soap wie ‚King of Queens’ mehr gesellschaftliche Relevanz aufweist als die meisten deutschen Gegenwartsromane” (S. 95). Und wenn die soziale Wirklichkeit dann doch einmal Niederschlag in der deutschen Unterhaltung findet, erfahren die Problemfelder eine derartige Individualisierung, dass sie auf diesem Wege entpolitisiert werden. Anstatt Ausbeutung sichtbar zu machen, werde sie im deutschen Drama schnell zum Nebenaspekt einer allgemeinen Leidensgeschichte von Elend, Krankheit und Schicksal.
Stahl zeigt hier Tendenzen auf, für die sich unzählige Belege finde lassen. (Dass diese Rezension auf deren Nacherzählung verzichtet, liegt an Stahls verallgemeinerndem Anspruch.) Ob und inwieweit das der deutschen Gegenwartsliteratur als Ganzes gerecht wird, ist zwar streitbar, aber auch nicht Stahls Anspruch im Sinne seiner Wertungsdispositive.
Der leere Pop
„Popkultur ist in etwa alles außer Arbeit” (S. 128). Nach dieser Zwischeneinschätzung versucht Stahl, zentrale Begriffe des zeitgenössischen Literaturbetriebs zu klären. „Popliteratur” in seiner heutigen Bedeutung sei vom Feuilleton erfunden und später von der Literaturwissenschaft mit Inhalt gefüllt worden. Die Marketingstrategie überstrahle allerdings den sozialkritischen oder wenigstens subversiven Anspruch, für den der literarische „Underground” einmal stand.
Pop lasse sich nicht über das breite inhaltliche Spektrum definieren, sondern ist notwendigerweise auf die Inszenierung der AutorInnen bezogen. In der Slam-Poetry, die dank Fernsehübertragungen und Wettbewerben in jeder zweiten Kleinstadt längst im Mainstream angekommen sei, werde das exemplarisch deutlich.
In den 80er Jahren wären die ersten Poetry Slams als genuin U.S.-amerikanisches Phänomen ein Aufbegehren von proletarischen und nichtweißen AutorInnen gegen den Literaturbetrieb gewesen. Heute sei es vor allem etablierte Form von Unterhaltungskultur, die den Literaturbetrieb bestenfalls am Rande tangiere.
Stahl war selbst Akteur der frühen deutschen Szene und ist in diesem Themengebiet am überzeugendsten. Sein anekdotisches Schreiben ist kein Namedropping, sondern bietet immer Einblicke in die Strukturen und personellen Bezüge der Szene. Wie ergiebig die Nacherzählung ihrer Ursprünge für die Bewertung der heutigen Slam-Szene ist, mag fraglich sein, eine wichtige Orientierungshilfe sind Stahls Aufsätze aber in jedem Fall.
Literatur und Wirklichkeit
Der theoretische Zusammenhang, in dem die Kernthese der Aufsätze formuliert wird, ist die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und sozialer Wirklichkeit. Dass Pop das Gegebene zumindest dem Schein nach affirmiert, lässt sich kaum bestreiten. In den 90er Jahren hat es in der Musik zahlreiche Versuche gegeben, dieses Bejahen der Verhältnisse ironisch zu wenden: Punks in Anzügen, Glamourmusikvideos zu Krawallmusik, Chumbawamba, Pulp, Marilyn Manson und viele andere haben das mehr oder weniger geschickt versucht.
Für den literarischen Pop lässt sich das so ohne Weiteres nicht behaupten. Die flapsige Sprache und das Unspektakuläre der Handlung verleiten bei der Lektüre von Popliteratur dazu, Ich-ErzählerInnen und AutorInnen gleichzusetzen, die Geschichten also biographisch zu lesen. Das funktioniert nicht immer und Stahl belegt schlüssig, wie (und hier soll nun doch ein Beispiel bemüht werden) geschickt konstruiert die Einfachheit und der Snobismus des Ich-Erzählers in Christian Krachts „Faserland“ tatsächlich sind. Auch wenn LeserInnen zum spontanen Abnicken des Geredes animiert werden, sind es doch Kunstfiguren, die dort entworfen werden. Hier wäre also ein Raum für ironisches Eingreifen. Nur genutzt wird er kaum. „Zwar leuchten solche Momente hier und da in der Popliteratur auf, doch im Großen und Ganzen meinen die Popliteraten alles schon so, wie sie es sagen“ (S. 133f.).
Stattdessen verharrten junge AutorInnen in ihrer Opposition zum „68er Weltbild“. Dass sich gegen linksbürgerliche Vorstellungen von „Political Correctness” auch nach 20 Jahren noch in rebellischem Gestus Herumprovozieren lässt, liegt nach Stahl auch daran, dass sich in den 90ern keine konsistente Gegenbewegung formiert habe. Der Protest gegen den vermeintlichen kulturlinken Mainstream habe sich in zynischen Nebensätzen und mehrdeutigen Anspielungen verrannt – hin und wieder hat mal jemand „Neger” gesagt – aber nichts auf die Beine gestellt, wovon sich der aktuelle Nachwuchs nun seinerseits abgrenzen müsste: Die neuste Generation setze die lahm gewordene Rebellion ihrer VorgängerInnen fort, anstatt gerade deren ironische Antihaltung zu kritisieren. In Zeiten von Krise und Prekariat sei es zumindest bemerkenswert, wie die Gegenwartsliteratur sich mit versnobten Identitätsentwürfen und in die Jahre gekommenen Schattenkämpfen gegen die Elterngeneration abarbeite.
Da lässt sich kaum widersprechen. Und auch sonst ist das Buch gut zu lesen und selbst da informativ, wo die Debatten nicht mehr ganz aktuell sind. Enno Stahls „Wertungsdispositive” sind trotz des foucaultschen Begriffs zutiefst marxistisch – in der Holzhammervariante. Das ist gut und wichtig, wo es die Richtigen trifft, und genau das tut es bei den meisten GegenwartsschriftstellerInnen. Es wäre schön gewesen, ein bisschen mehr auch von den anderen zu hören. Enno Stahls Buch kann aber zumindest dabei helfen, sie von der großen Mehrheit zu unterscheiden.
Diskurs-Pogo. Über Literatur und Gesellschaft.
Verbrecher Verlag, Berlin.
ISBN: 9783943167221.
288 Seiten. 18,00 Euro.