Wenn jungen Menschen Hoffnungen genommen werden
- Buchautor_innen
- Stefan Wellgraf
- Buchtitel
- Hauptschüler
- Buchuntertitel
- Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung
Das Buch verdeutlicht die gesellschaftliche Stigmatisierung von Hauptschüler_innen und ihren aktiven Umgang mit Diskriminierung.
Es ist paradox: Junge Menschen besuchen eine Schule, arbeiten – neoliberal ausgedrückt – an ihrer Qualifizierung, aber in der Gesellschaft und in der Schule selbst werden sie dafür stigmatisiert und es wird ihnen täglich Chancenlosigkeit prognostiziert. Die Rede ist von Hauptschüler_innen. Wie diejenigen, die einen anderen Schultyp besuchen, handelt es sich um Menschen mit ganz konkreten Hoffnungen und Erwartungen. Sie werden als Gruppe zusammengefasst; anstatt Wertschätzung und Anerkennung ihrer Fähigkeiten erfahren sie Verachtung, schon sobald sie sich als Hauptschüler_innen zu erkennen geben. Pädagogisch wird für sie auf problematische disziplinarische Konzepte zurückgegriffen, bei denen selbst geringe „Vergehen“ scharf geahndet werden sollen („konfrontative Pädagogik“, S. 246ff). Wie wird ein Mensch werden, der von klein auf mit solchen Stigmatisierungen konfrontiert ist?
Ich bitte um eine kleine Nachdenkpause – über dich selbst.
Stefan Wellgraf hat in seiner Studie „Hauptschüler – Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“ den Umgang der Gesellschaft und auch der Lehrer_innen an den Hauptschulen mit Hauptschüler_innen aufgenommen und gleichzeitig – und als Fokus der Arbeit – qualitativ-soziologisch erhoben, wie Hauptschüler_innen die Stigmatisierungen erleben, mit ihnen umgehen und welche Hoffnungen sie an ihre Zukunft stellen. Und die formulierten Hoffnungen sind dabei keineswegs abgehoben, sondern beschreiben die Suche nach ein wenig Sicherheit und Anerkennung:
„Wenn Berliner Hauptschüler sich ihre Zukunft vorstellen, formulieren sie meist recht bescheidene Wünsche nach einer gesicherten Existenz. Ein sicherer Beruf, der hoffentlich Spaß macht, ein festes Einkommen, mit dem man sich kleine Annehmlichkeiten leisten kann, und eine eigene Familie, in der man sich gegenseitig liebt und viel Zeit miteinander verbringt – die Zukunftsträume vieler Hauptschüler klingen fast ‚spießig’ oder ‚kleinbürgerlich’, sie scheinen seltsam aus der Zeit gefallen und sind doch gleichzeitig die Ausdrucksformen von sozialen Situationen, in denen die Sicherung grundlegender ökonomischer und sozialer Existenzbedürfnisse infrage steht.“ (S. 107)
Diskriminierung durch Lehrpersonal
Solche bescheidenen Wünsche und Hoffnungen sind vor dem Hintergrund eines alltäglichen Erlebens von Verachtung zu erklären, wie Wellgraf exemplarisch für Berliner Hauptschüler_innen beschreibt, die er mehr als ein Jahr begleitet hat. Zu diesen alltäglichen Erlebnissen von Verachtung gehören diejenigen, die durch die Lehrer_innen an diesem Schultyp getätigt werden. Von oft wiederholten beiläufigen Hinweisen, dass die Schüler_innen ohnehin keine Chancen hätten, bis hin zu einer „Bewerbungsunterstützung“, in der der betreuende Sozialpädagoge auch noch den letzten keimenden Funken Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz raubt, reicht die Verachtung, die die Schüler_innen in der Schule erleben müssen. Sie kann aber auch in offener vulgärer Beschimpfung gipfeln, wie als Beispiel Frau Schnur zeigt, sie ist eine der Lehrerinnen: „Der deutsche Staat (…) ist nur eklig, weil er Leuten, die nicht arbeiten wollen, Geld in den Hintern steckt. Aber bald könnt ihr nur noch zu Hause sitzen und schlafen.“ (S. 290) An anderer Stelle reagierte die gleiche Lehrerin in einer Schulstunde auf die Erfahrungen eines Schülers:
„Mehmet: ‚Ich habe heute Morgen wegen Praktikum angerufen und sie haben erzählt, es gibt Praktikumsplätze, aber als sie bemerkt haben, ich bin Ausländer, haben sie gesagt, die sind schon vergeben. Das war nur, weil ich Ausländer bin.‘ (…) Frau Schnur: ‚So etwas gibt es sicher, aber auch wegen der schlechten Erfahrungen der Betriebe. Sogar manche ausländische Betriebe stellen deswegen keine Ausländer mehr ein. Wenn ihr euch nicht benehmt, müsst ihr eben von Hartz IV leben.“ (S. 94)
Ein Schüler beendet diese Situation, in dem er ein Lied auf Hartz IV anstimmt.
Wieder sei die Frage aufgeworfen, was machen solche Anfeindungen mit Menschen? In dieser Situation wurde von einem Schüler das Erleben von rassistischer Diskriminierung geschildert. Anstatt dass die – möglicherweise gelernte – Pädagogin versucht, diesen Schüler zu stützen und Perspektiven zu eröffnen, beschreibt sie sogar das Verhalten des Betriebes als berechtigt und macht deutlich, dass der Schüler – repräsentativ für Hauptschüler_innen mit Migrationshintergrund – diese Benachteiligung vermeintlich zu recht erfahre. Und sie beschließt ihr Statement mit einem Hinweis auf Hartz IV, dass an der Schule sowohl unter den Lehrer_innen als auch unter den Schüler_innen als angstmachende und äußerst abschreckende Perspektive erlebt wird, wie Wellgraf in seiner Studie pointiert herausarbeitet.
Durch diese kurzen Passagen wird bereits vielerlei deutlich: Es wurde mit Hartz IV offensichtlich das erreicht, worauf Befürworter_innen neoliberaler Prekarisierung abzielten: Es macht Angst. Gleichzeitig wird klar, wie sehr die Hoffnungen und Lebensperspektiven von Schüler_innen ökonomisch bestimmt sind. Eine Arbeit, die vielleicht sogar Spaß macht, die Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz oder – wie bei Mehmet – zunächst auf ein oft unbezahltes Praktikum bilden den zentralen Ankerpunkt der Schüler_innen.
Hauptschulen als Negativbild
Wellgraf wirft auch einen Blick darauf, wie Hauptschulen medial repräsentiert werden. Und dabei werden, ähnlich wie bei den Berichten zur Rütli-Schule, Horrorszenarien gezeichnet. Aber auch hier ist ein Blick auf die Berichterstattung zur Rütli-Schule interessant. So zeigte sich im Nachgang der Berichterstattung – und lange nicht so prominent berichtet –, dass die erschreckenden Bilder eigens für die Journalist_innen inszeniert worden waren. So waren die Schüler dafür bezahlt wurden, dass sie für publikumswirksame Bilder Stühle aus dem Fenster warfen (S. 204). Bilder über Hauptschulen werden etabliert – und diese Etablierung hat Bedeutung und zeigt Wirkung.
So wie Hartz IV als Negativfolie für eine gelingende Existenz geschickt etabliert wurde und Menschen damit zur Annahme auch der miesesten Tätigkeiten zu geringsten Löhnen gezwungen werden, so funktioniert auch die Hauptschule als Negativbild. Wellgraf musste aus Interviews mit den Lehrkräften zu einer der Hauptschulen berichten, dass dort keine_r der Schüler_innen nach dem Schulabschluss einen Ausbildungsplatz erhielt. Die dort lernenden Kinder erscheinen damit schon als gesellschaftlich „verloren gegeben“. Hingegen funktioniert die Hauptschule als Negativfolie bei Schüler_innen anderer Schultypen – diesen kann immer eine als ausweglos etablierte Perspektive vorgeführt werden und sie werden sich bedroht fühlen (und das ist auch beabsichtigt).
Aber auch die Schüler_innen an der Hauptschule müssen einen Umgang mit solchen Stigmatisierungen finden. Das kann einerseits auf ironische Weise geschehen: „Der Witz ermöglicht es Freud zufolge einerseits Lächerliches am Gegenüber preiszugeben und sich gleichzeitig vom psychischen Druck einer deprivilegierten Lage emotional ein Stück weit zu befreien.“ (S. 219) Wellgraf stellt ein hohes Bewusstsein der Schüler_innen für das Stigma „Hauptschule“ heraus. Auf ein sozialwissenschaftliches und psychologisches Fundament aufbauend erläutert er, dass jeder Mensch Anerkennung und Wertschätzung benötigt, um eine Identität und eine eigene Persönlichkeit aufbauen zu können. Wird diese Anerkennung im allgemeinen gesellschaftlichen Umgang durch Verachtung verhindert, so wird sie auf andere Weise, zum Beispiel in Gruppen Gleichgesinnter, hergestellt. In diesem Sinne sind auch „miteinander rumhängende“ junge Leute nicht als problematisch einzuschätzen, sondern kann genau dies eine Möglichkeit darstellen, Anerkennung und Wertschätzung untereinander zu erfahren und damit der gesellschaftlichen Verachtung zu begegnen (S. 21ff). Soziales Verhalten wie Unterstützung und Freundschaft können hier erlernt werden. In eine solche Richtung, einen positiven Selbstbezug zu gewinnen, können auch Spielereien mit gesellschaftlichen Klischees gehen. Damit kann eine Bestätigung einer Gruppen-Identität und damit auch eine positive Bewertung der eigenen Identität erreicht werden. Auch der Habitus – nach Pierre Bourdieu – gibt diese Positionierung wieder: Kleidung, Verhaltensweisen, geschlechtlicher Umgang, Gesten und Codes können zur Selbstidentifikation genutzt werden.
Perspektiven
Wie Menschen in einer Gesellschaft behandelt werden, ob sie Perspektiven haben oder solchen Stigmatisierungen unterliegen, dass sie keinerlei Aussicht auch nur auf minimale ökonomische Absicherung haben, prägt sie. Wellgraf zeigt in seiner reflektierten Studie für Hauptschüler_innen, wie diese jungen Menschen keine Perspektive erhalten und dass auch die Lehrenden an den untersuchten Schulen in vielen Fällen nicht in der Lage waren, einerseits Anerkennung und Unterstützung gegenüber den Schüler_innen zu formulieren, andererseits an die individuellen Stärken der einzelnen Schüler_innen anzuschließen. Und dabei sollte es vordringliches Ziel von Bildungseinrichtungen sein, Menschen einen Raum zur individuellen Entfaltung zu bieten, in der Wissensvermittlung auch an die Interessen der Lernenden anzuschließen und ein Miteinander, geprägt durch Wertschätzung und Anerkennung, erfahrbar zu machen.
Mittlerweile hat sich in Berlin die Situation geändert. Die Hauptschule wurde dort abgeschafft und es wird mehr Wert auf längeres gemeinsames Lernen von Kindern gelegt. Stigmatisierungen können damit zurücktreten. Gleichzeitig ermöglicht das längere gemeinsame Lernen eine größere Durchmischung gesellschaftlicher Schichten und damit verbundene Wertschätzung der Kinder untereinander. Damit könnte ein Problem angegangen werden, dass mit den PISA-Studien immer wieder beschrieben wurde: In der Bundesrepublik Deutschland ist die soziale Durchmischung besonders gering. Insbesondere arme Kinder und Kinder aus Familien mit „Migrationshintergrund“ werden durch Benachteiligung (unter anderem kostenpflichtige Schulmaterialien und Hausaufgabenbetreuungen) und nicht gewährte Unterstützung daran gehindert, weiterführende Schulen zu besuchen.
Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-2053-5.
334 Seiten. 24,80 Euro.