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Von der bestimmten Negation der klassischen zur neuen Imperialismustheorie

Buchautor_innen
Hans-Holger Paul
Buchtitel
Marx, Engels und die Imperialismustheorie der II. Internationale
Die hierzulande derzeit desavouierte Debatte über den Imperialismus und die Theorien, die ihn auf den Begriff bringen, kann mit solidarischer Kritik der Klassiker und unter Rückgriff auf die logisch-systematische Lesart des „Kapital“ auch heute noch für eine antikapitalistische antiimperialistische Praxis fruchtbar gemacht werden.

Was haben die intensive Werbung des Bundestagsabgeordneten Stefan Liebich und anderer VertreterInnen der LINKEN für die Zustimmung ihrer Partei zu UN-Missionen und der Rekurs unter weiten Teilen des politischen Establishments (inklusive einiger LINKEr) auf Völkermorde und Menschenrechte zur Kriegslegitimation mit der Billigung einer „friedlichen Kolonialpolitik“ (S. 152) und der Unterwerfung der „Wilden“ (Bernstein, zit. n. S. 128) noch vor Wende zum 20. Jahrhundert durch führende Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien zu tun? Nichts?

Der langjährige Gewerkschafter und Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Hans-Holger Paul liefert mit seiner 1978 im VSA-Verlag – damals noch Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung – publizierten Dissertation einige überzeugende theoretische, politische und historische Hinweise und Denkanstöße für eine solche Analogie. Allerdings befasst sich der Autor nicht mit historischen Vergleichen, sondern mit der politisch-theoretischen Genese der Imperialismustheorie der Zweiten Sozialistischen Internationale (1889-1914) und den dabei entstandenen Fehlern.

Die These des Autors lautet zugespitzt: Die theoretischen Interpretationen und Popularisierungen der Marxschen Theorie, insbesondere des Marxschen Hauptwerks – dem „Kapital“ –, durch Friedrich Engels und die daran anknüpfenden führenden TheoretikerInnen haben den RevisionistInnen und ReformistInnen die Möglichkeit gegeben, sich politisch und theoretisch positiv auf die imperialistische Politik ihrer jeweiligen Staaten beziehen zu können. Dies gilt vor allem für die damals theoretisch dominierenden deutschen ebenso wie für die französischen und englischen Sozialdemokraten. Für die KennerInnen marxistischer Debatten ist dieser Vorwurf keineswegs neu. Er gehört in das diskursive Waffenarsenal der sogenannten Neuen-Marx-Lektüre (NML), die seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik entstanden ist und deren VertreterInnen in den Engels'schen Arbeiten den Ausgangspunkt für allerlei theoretische Fehlleistungen marxistischer Theorien ausmachen. Anders als die heutigen Exponenten der NML, die gar nichts mehr mit einer Kritik des Imperialismus, einer klassenkämpferischen und antiimperialistischen Praxis zu tun haben wollen oder sie gar als reaktionär brandmarken, verfolgt Hans-Holger Paul mit seiner bestimmten Negation der klassischen Imperialismustheorien allerdings das Projekt, eine für die damalige Konstellation zeitgemäße antiimperialistische Theorie in Anschluss an eine logisch-systematische Lesart des Werks von Marx und Engels vorzubereiten. Das ist der besondere theoriegeschichtliche Gehalt dieses Buches, das zur Zeit des theoretischen Paradigmenwechsels von der klassischen marxistisch-leninistischen zur NML in der marxistischen Diskussion entstand. Diesen vom Autor gesponnenen Faden gilt es heute wieder aufzugreifen, auch wenn seine Definition des „Imperialismus als Exekution der Bewegungsgesetze kapitalistischer Produktionsweise im Weltmaßstab“ (S. 37) nur den Anfang bilden kann, unter anderem weil sie die Rolle des internationalen Klassenkampfes völlig unberücksichtigt lässt.

Der Knackpunkt: historisierende Kritik der politischen Ökonomie als Einfallstor für die Burgfriedenpolitik

Pauls Kritik an den Schriften von Rudolf Hilferding über Karl Kautsky bis Rosa Luxemburg konzentriert sich auf vier Punkte: 1. die historisierende Interpretation des „Kapital“, 2. den geschichtsphilosophischen Evolutionismus und die in diesem Zusammenhang entstandenen Auffassungen, 3. das „Kapital“ beinhalte eine Revolutions- und 4. eine Zusammenbruchstheorie. Nicht alle klassischen Ansätze zur Analyse und Kritik des Imperialismus vor und während des Ersten Weltkriegs weisen diese Elemente gleichermaßen auf.

Das aus dieser Auslegung der Marxschen Werke resultierende Kernproblem besteht dem Autor folgend darin, dass die ökonomischen Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie Marx im „Kapital“ dargestellt und kritisiert hat, mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Kapitalismus in seiner Geschichte vermengt werden. Aus der Beschreibung historisch-spezifischer Phänomene, wie zum Beispiel der verschärften Monopolbildung vor dem Ersten Weltkrieg, wird auf diese Weise eine „die Gestalt einer neuen, die historisch aktuelle Entwicklungsetappe kapitalistischen Produktionsweise charakterisierende Kapitalismustheorie“ (S. 12, Hervorhebung im Original). Der Imperialismus ist, argumentiert Paul, den Denkern der II. Internationale zufolge also nicht ein notwendig aus der logisch-systematischen Entfaltung des Wertgesetzes abzuleitendes Element des Kapitalismus, das zu ihm gehört wie der Regen zur Wolke, sondern dessen neue Form, die zwangsläufig aus der geschichtlichen Entwicklung hervorgeht. Mit der Beschreibung dieser neuen Form – buchstäblich als „Weiterentwicklung der Marxschen Theorie“ (S. 163) gemeint – steht und fällt in der Konsequenz auch die Position zum Kapitalismus. Erweist sich etwa die Diagnose der finalen kapitalistischen Krise infolge der imperialistischen Widersprüche als unzutreffend, wie zum Ende der „Großen Depression“ von 1873 bis 1895, bieten sich theoretisch Anknüpfungspunkte für revisionistische und reformistische Kapitalismusanalysen. In deren Fahrwasser erodieren schließlich die zentralen Haltungen zum Klassenkampf, zur Revolution und Krise kapitalistischer Gesellschaften. Genau dazu ist es, so Hans-Holger Paul, bereits im letzten Jahrzehnt des 19. und in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gekommen. Eduard Bernstein gelang es, die bis zur Publikation seiner Überlegung in der deutschen Sozialdemokratie geltende Imperialismustheorie mit Bezug auf den wirtschaftlichen Aufschwung nach der großen Krise durch seine Thesen nachhaltig zu schwächen und damit letztlich eine Bresche für die Burgfriedenpolitik der deutschen Sozialdemokratie zu schlagen. Die Erholung der Ökonomie schien zu belegen, dass die letzte Krise der kapitalistischen Produktionsweise keineswegs das automatische Produkt ihrer Entwicklung ist, dass es ebenso wenig zwangsläufig zu einem Zusammenbruch kommen muss und dass sich die Lage der Proletarier – ohne Revolution – auch im Kapitalismus sukzessiv verbessern lässt.

Auch wenn die nachträglich formulierte Kritik an den sozialdemokratischen Imperialismustheorien bis 1914 im Einzelnen von Paul überzeugend dargelegt wird, ist zweifelhaft, ob damit im Umkehrschluss bewiesen ist, dass die Defizite marxistischer Theoriebildung der ausschlaggebende oder der Grund für die Rechtsentwicklung der II. Internationale gewesen ist. Dass es sich um einen der Gründe handelt, ist nicht bestreitbar. Paul erkennt aber für eine historisch angemessene Untersuchung leider nur beiläufig an, dass zum Beispiel die Herausbildung einer Arbeiteraristokratie innerhalb der SPD und der Gewerkschaften sowie die relativen Eigengesetzlichkeiten des Parlamentarismus das Ihrige zum Verfall eines Teils der Sozialdemokratie beitrugen. Es sollte außerdem nicht unterschlagen werden, dass trotz der Mängel auf der Basis der wissenschaftlichen Arbeiten und Erkenntnisse Luxemburgs und Lenins der maßgebliche Widerstand gegen den klassischen Imperialismus geleistet worden ist. Sie haben die Errungenschaften des Marxschen Werks am Leben gehalten und fruchtbar für ein Verständnis der zeitgenössischen Kriegsgefahr gemacht, wodurch sie sich von den ZirkulationsmarxistInnen, den Fetisch fetischisierenden ErkenntnistheoretikerInnen, KathedersozialistInnen und „kritischen Kritikern“ der Gegenwart deutlich unterscheiden.

Aus den Fehlern der Geschichte lernen

Welche Rolle spielt dies alles nun für heutige internationale Konflikte und die Politik zum Beispiel der Linkspartei? Erstens sind ähnliche Tendenzen wie in der II. Internationale – wohlgemerkt von einem historisch und politisch-theoretisch völlig anderem Startpunkt und theoretischem Reflexionsniveau aus – in der Linkspartei offensichtlich. Argumentationen wie August Bebels, „Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein“ (S. 155), oder der noch radikalere Diskurs Gustav Noskes, den Kolonialismus als „ein tragendes Element der wenn nötig auch gewaltsamen Verwirklichung des Zivilisationsgedankens“ (S. 154f) zu porträtieren, erinnern nicht zufällig an die unter Linksparteifunktionären akzeptablen Ideen der angeblich gut gemeinten UN-Missionen zum Aufbau funktionierender Staaten oder zum Schutz vor wild gewordenen Völkermördern und an die Ideologie, man könne den Iran durch Sanktionen erziehen. Die Rolle der Abrüstungspolitik in der parteiinternen Politik der klassischen Sozialdemokratie und der Linkspartei lädt ebenfalls zu Analogien ein. Während Kautsky sie als Abdichtung nach links gegen antikapitalistische antiimperialistische Positionen benutzte, scheint der Abrüstungspolitik in der LINKEN derzeit dieselbe Funktion zuzukommen. Frei nach der Devise: Über Abrüstung und Frieden reden, um über antikapitalistischen Antiimperialismus zu schweigen.

Zweitens lässt sich heute wie 1978 die Frage formulieren, inwiefern die theoretische Debatte zu einer solchen Verbürgerlichung politischer Positionen zu internationaler Politik beiträgt. Denn offensichtlich ist auch das Konglomerat aus NML, klassischem Keynesianismus und anderen bürgerlichen Vorstellungen des 21. Jahrhunderts kein Bollwerk gegen die politische Anbiederung an den neoimperialistischen Kriegskurs der großen Koalition von Grün bis Schwarz. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist daher an der Zeit, Hans-Holger Pauls Grundgedanken aufzugreifen und eine Imperialismustheorie auf der Basis eines logisch-systematischen Verständnisses des „Kapital“ zu entwickeln und die gegenwärtig herrschende Lesart des Marxschen Werks auf ihre Komplizenschaft mit imperialistischer Politik zu untersuchen.

Hans-Holger Paul 1978:
Marx, Engels und die Imperialismustheorie der II. Internationale.
VSA, Hamburg.
ISBN: 9783879751358.
374 Seiten.
Zitathinweis: Christian Stache: Von der bestimmten Negation der klassischen zur neuen Imperialismustheorie. Erschienen in: Kriegerischer Frieden. 24/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1087. Abgerufen am: 29. 03. 2024 08:57.

Zum Buch
Hans-Holger Paul 1978:
Marx, Engels und die Imperialismustheorie der II. Internationale.
VSA, Hamburg.
ISBN: 9783879751358.
374 Seiten.