Vom Gay Pride zum White Pride
- Buchautor_innen
- Koray Yilmaz-Günay (Hg.)
- Buchtitel
- Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre „Muslime versus Schwule"
- Buchuntertitel
- Sexualpolitiken seit dem 11. September
Wie in einem Brennglas erscheinen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 die seit dem Kolonialismus etablierten westlichen Imaginationen über „den Islam“ - Geschlecht und Sexualität waren und sind in diesen zentral. Und es blieb nicht bei Vorstellungen, sondern es wurden in westlichen Staaten demokratische Grundrechte abgebaut und Kriege begonnen – in weiten Teilen begründet mit Argumentationen über Geschlecht und Sexualität.
Die Anschläge des 11. September 2001 („9/11“) auf das World Trade Center und das Pentagon, bei denen mehr als 3000 Menschen starben, haben in der Weltgeschichte der letzten zehn Jahre deutliche Spuren hinterlassen. Demokratische Staaten haben nicht etwa mit den Möglichkeiten ihrer Gesetze reagiert und die Verbrechen nach dem Strafgesetzbuch geahndet. Stattdessen fanden Kriege statt, wurden militärische Drohungen ausgestoßen und im Inneren grundlegende demokratische Rechte für obsolet erklärt bzw. gleich ganz aufgehoben. Begleitet war diese Entwicklung von einer intensiven Diskursivierung des Islam, nicht etwa nur jener Verbrecher, die diese Anschläge verübten. Der Islam erschien nun vielen als bedrohlich. Die emotionale Erregung, die viele Menschen mit den Anschlägen erfasste, kanalisierte sich – westlich – hin zu einer Ablehnung des Islam an sich und zu Vorbehalten selbst gegenüber ganz konkreten Menschen, die als Musliminnen und Muslime erschienen.
Die Konstruktion eines emanzipatorischen Westens
Neben der grundlegenden Verdächtigung von Menschen, die irgendwie als muslimisch erkannt wurden, „Terroristen“ zu sein, was insbesondere in den ersten Wochen nach den Anschlägen zu krassen Reaktionen lediglich auf Grund eines mitgeführten Koffers führen konnte, sind die Debatten nach 9/11 insbesondere geschlechtlich und sexuell aufgeladen. Hier knüpft der nun vorliegende Sammelband „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre ‚Muslime versus Schwule’“ an – zunächst im kostengünstigen Selbstverlag aufgelegt, soll der Band demnächst auch in einem angesehenen linken Verlag als Buch erscheinen, das über jede Buchhandlung zu beziehen sein wird. Der Band fasst die Debatten der letzten zehn Jahre zusammen und arbeitet heraus, wie über diesen Zeitraum hinweg das bereits vorher existierende Bild des bedrohlichen, patriarchalen Anderen gegen eine vermeintlich aufgeklärte und emanzipierte europäische und westliche Identität gestellt wurde. Einleitend für den Band hält der Herausgeber Koray Yilmaz-Günay fest, dass das, was noch in den 1990er Jahren
„für absurd gehalten worden wäre, [...] heute Realität [ist]: Die Debatten über Diskriminierung und Gewalt fokussieren nicht mehr auf Gesellschaft mit ihren wirkmächtigen Institutionen, sondern auf diese vermeintliche Träger_innenschicht, die vermeintlich überkommene Feindschaften wieder ins Land holt.“ (S.7)
Musliminnen und Muslime werden als archaische Bedrohung inszeniert und von einem europäischen und westlichen „Wir“, das emanzipatorisch sei, abgegrenzt. Das trieb die Tageszeitung WELT immerhin in einem Artikel soweit, dass sie in vollkommener Verleugnung der für Homosexuelle so fürchterlichen Adenauer-Zeit, Emanzipation von Homosexuellen für die BRD bis in die 1950er Jahre tradierte:
„Wird Guido Westerwelle deshalb so scharf kritisiert, weil er homosexuell ist? Die Geschichte schwuler Politiker in der Bundesrepublik gibt wenig Anlass zu dieser Vermutung. Denn das Land ist in dieser Frage verlässlich liberal – schon Adenauer war Homosexualität hauptsächlich ‚ejal‘.“ (WELT, 27.3.2010)
Mehrheitsdeutsches schwules Verlangen
Während das „Archaische“ so drastisch abgelehnt wird, dass sogar Krieg und die Tötung von Zivilist_innen gerechtfertigt werden, wird im Bett ganz anderes verlangt:
„Zur gleichen Zeit, da der Migrant dafür gescholten wird, vormodern zu sein und unfähig, sich zu integrieren, wird seine gewalttätige Natur in der mehrheitsdeutschen Schwulen-Community als sexuell unwiderstehlich fetischisiert. Die kolonialistische Imagination des unzähmbaren Primitiven wird im Hinblick auf Integration verachtet, bei einem Sexpartner aber begehrt; ‚Südländer’ dürfen im Schlafzimmer auf keinen Fall zivilisiert sein.“ (S. 40)
Was Jennifer Petzen hier so eingehend zusammenfasst, machte auch Cem Yildiz in seinen aufgeschriebenen Erfahrungen als Escort in dem Buch „Fucking Germany“ deutlich, zu dem sich die fokussierte Rezension von Salih Alexander Wolter im vorgestellten Band findet: „Je krasser die Filme und Klischees, die sie [die Freier, Anm. HV] im Kopf haben, desto höher die Nachfrage nach dem wilden, gewalttätigen Ali.“ (Yildiz, zit. n. Wolter: S.47) Damit kristallisiert sich eine Kernaussage des Bandes heraus: Ablehnung und Angst, verbunden mit Faszination, bilden die Grundlage europäischer und westlicher Vorstellungen über „den Islam“ und über „das Andere“. In „den Islam“ und „das Andere“ wird hineinprojiziert, was westlich abgelehnt wird und was dennoch begehrt wird. Frivoler, lustvoller, nicht kanalisierter gleichgeschlechtlicher Sex gehören dazu, der westlich durch christliche Kirchen und – neuer – durch Eingetragene Partnerschaft so nachhaltig integriert und normalisiert wurde. Diese Charakteristika der Imaginationen zeigen sich bereits in kolonialen Beschreibungen und sie zeigen sich auch bei so bekannten schwulen Autoren wie Jean Genet und Hubert Fichte, die bemerkenswerte und unbedingt lesenswerte Bücher verfassten, aber auch das „lustvolle Andere“ pointierten, darin aber eher eine erstrebenswerte Perspektive für Europa, als eine Bedrohung sahen.
Rassistische schwule Community
Angesichts der Anschläge vom 11. September rückten Bett und begehrenswerter Sex etwas mehr in den Hintergrund – und prägten die Imaginationen von Ablehnung und Angst die Vorstellungen in der mehrheitsdeutschen schwulen Community. Befeuert wurden diese Debatten von einzelnen Initiativen, die „die Migranten“ als die homophobe und übergriffige Bevölkerungsgruppe aufbauten. Obwohl durch die eigenen ermittelten Zahlen nicht zu unterlegen, betonte das „Opfertelefon“ Maneo aus Berlin „Migranten“ als Täter_innengruppe. Der Beitrag „Opferlotto“ von Dirk Ruder (aus dem Jahr 2007, in den Band aufgenommen) liefert eine fundierte Auseinandersetzung mit den Zahlen Maneos. Maneo und der LSVD (Lesben- und Schwulenverband) Berlin-Brandenburg veröffentlichten in der Folge eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, in denen Migrant_innen als besonders homophobe Bevölkerungsgruppe dargestellt wurden – hingegen war ebenso auffällig, dass man sich zu rechtsradikalen Übergriffen überhaupt nicht verhielt. Stattdessen etablierte sich eine Situation, in der das schwule Magazin Siegessäule mit dem Titel „Türken raus“ aufmachen konnte, sich das Magazin Hinnerk mit einer schwarz-rot-goldenen Deutschlandkarte auf dem Titel schmückte. Distanz zu Rassismus und Nationalismus, wie sie die Schwulenbewegung noch in den 1980er Jahren hochgehalten hatte, entsprach nun nicht mehr dem Zeitgeist. Aber selbst eher linke und sich als queer verstehende mehrheitsdeutsche Menschen schlidderten allzu leicht in die Falle, Migrant_innen als homophob und übergriffig zu sehen. Nach einem transphoben Überfall in Berlin erkannte man auch hier sehr schnell Migrant_innen als Täter_innen und das obwohl die Aussagen der Opfer des Überfalls keinerlei Indiz hierfür gaben. Das unter den Opfern Migrant_innen und Israelis waren, spielte ohnehin keine Rolle (Vgl. Haritaworn/Petzen im Band, S.126f). Jin Haritaworn hatte das in dem Band „Verqueerte Verhältnisse“ herausgearbeitet, problematisiert und damit linke Strömungen aufgerufen, selbst zu reflektieren und sich von dem nationalen und rassistischen Zeitgeist in der Bundesrepublik Deutschland abzusetzen.
Zoom: Berlin
Immer wieder Berlin – beim Zoom auf die letzten zehn Jahre zeigt sich Berlin immer wieder als Brennpunkt rassistischer Zuspitzungen aus der schwulen Community (vgl. Wolter im Band). Das bedeutet nicht, dass sich der rassistische Zeitgeist, der Migrant_innen als andere und als Bedrohung (und als faszinierend und sexuell erregend) erkennt, nicht auch in der mehrheitsdeutschen schwulen Subkultur anderer Städte fände. Aber in Berlin, insbesondere in Berlin-Schöneberg, zeigen sich die Entwicklungen fokussiert. So wirken dort die einflussreichsten der rassistischen Protagonist_innen (Maneo, LSVD Berlin-Brandenburg, Jan Feddersen für die taz) und wurden dort zahlreiche Kampagnen entwickelt, die explizit Migrant_innen ansprachen, nicht homophob zu sein – das dann auch gleich auf Türkisch, während man es in der BRD bislang weder bei Kaffeewerbung, noch bei lesbisch-schwulen Aufklärungsbroschüren für notwendig hielt (und hält), diese auch in türkischen oder mehrsprachigen Varianten anzubieten. Nicht zuletzt wandte sich in Berlin die bekannte Philosophin Judith Butler gegen ausgrenzende und insbesondere rassistische Entwicklungen in der lesbischen und schwulen Community – mit dieser Begründung lehnte sie 2010 den Zivilcourage-Preis des dortigen Mainstream-Christopher-Street-Days (MCSD) ab. Während sich die Berliner Szene gerade noch bemühte, deutlich zu machen, wie sich Butler irre, machte der Club Connection Schlagzeilen, da Schwule, die als „asiatisch“ erschienen nicht eingelassen wurden. Die Begründung, die das Connection in einer E-Mail schrieb: „Leider kommen viele Gäste nicht, wenn zuviel Asiaten im Club sind. Wir versuchen, es allen recht zu machen.“ (Vgl. siegessaeule.de)
Der Sammelband: vielstimmig, facettenreich, regional zugespitzt, international eingebunden
Berlin zeigt sich hier als Mikrokosmos, in dem man rassistische Entwicklungen weitgehend nachvollziehen kann, die sich in europäischen und westlichen Gesellschaften vollziehen. Kriege werden mit Menschenrechtsverletzungen unter anderem und insbesondere an Homosexuellen und Frauen begründet. „Westliche Emanzipation“ zu verbreiten wird zentrales Anliegen auch der konservativen und rechten Kräfte; viele Linke bekommen dieses eigenartige Zusammentreffen nicht einmal mehr mit. Schwule, gerade erfreut, nun auch Teil der akzeptierten Gesellschaft zu sein und sich - zwar anders und zurückgesetzter als heterosexuelle Paare - staatlich registrieren lassen zu können, steigen allzu leichtfertig in die Debatte ein und bemerken nicht, wie sie eigentlich Objekt in der Diskussion sind und ihnen „ihr Schwulsein“ nur nachgesehen wird. Damit entgleitet auch, wie Rassismus und Homophobie tatsächlich in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland selbst entstehen und wie ihnen begegnet werden kann. Dass das nicht so bleibt, dafür gibt der Band eine verlässliche, wissenschaftlich fundierte und politisch orientierte Analyse, in der facettenreich und vielstimmig die Entwicklungen der letzten zehn Jahre ausgewertet, regional zugespitzt und international eingebunden werden. Rassismus und Homophobie entsteht genau da, wo ein Mensch, nur weil er möglicherweise dunklere Haare hat, immer „der Türke“ ist, nicht „von hier“ sein und schon gar nicht gleichgeschlechtlich begehren kann. Das Buch kann auf der Homepage http://yilmaz-gunay.de (Kontaktformular) bestellt werden.
PS: In dieser Besprechung ist oft und ausdrücklich von mehrheitsdeutschen Schwulen die Rede. Das geschieht deshalb, da sie einerseits in der aktuellen Debatte sexuell als besonders bedroht inszeniert werden und sich selbst inszenieren, andererseits aber auch, weil in mehrheitsdeutschen lesbischen Szenen sich teilweise eine größere Distanz zu nationalistischen und rassistischen Entwicklungen zeigt. Gleichwohl ist auch in der mehrheitsdeutschen lesbischen Community und in mehrheitsdeutschen feministischen Kreisen Rassismus und Sexismus (u.a. heterosexistische Zuschreibungen an Migrant_innen) verbreitet.
Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre „Muslime versus Schwule". Sexualpolitiken seit dem 11. September.
Eigenverlag, Berlin.
ISBN: ohne ISBN - bestellbar unter: http://yilmaz-gunay.de (Kontaktformular).
209 Seiten. 5,00 Euro.