Stuttgart 21 im Roman: Einsamste Herzen vor einem Wimmelbild
- Buchautor_innen
- Heinrich Steinfest
- Buchtitel
- Wo die Löwen weinen
- Buchuntertitel
- Kriminalroman
Heinrich Steinfest liefert den Umriss einer Zerstörergemeinschaft, die sich für schöpferisch hält. Stuttgart 21 im Blickfeld unbestechlicher Analytiker.
Vor dem Lesen denkt man an all die Demos, in denen Verhasste und Verbundene gleichermaßen untergehen. Sich verlieren, wiederfinden, dem Knast nicht entgehen, auf der Flucht vor Greiftrupps. Nah vor dem Ichverlust. Im gemeinsamen Triumph, in der kollektiven Entrüstung, im erbitterten Ansturm. So felsig die Vereinsamung drückt, es kommt doch zu Überschwüngen, schnapp-seligen Herzensergießungen und sekundenlangem Wir-Gestöhn. Von all dem enthält der Roman Heinrich Steinfests nichts. "Wo die Löwen weinen" hat Stille zu herrschen. Bohrungen vollziehen sich. Im Schweigen. "Hic sunt leones" stand auf mittelalterlichen Karten an der Stelle, wo kein Kartograph sich auskannte. Wüsten wurden so kaschiert und bezeichnet. Und solche Wüsten umgeben die suchenden und forschenden Figuren. Körperkontakte nach Möglichkeit vermieden. Bewegte Massen. Und doch durchwallen sie das Buch. Betrachtet allerdings aus strengster Distanz. Von außen. Steinfest hat den Roman der doppelten Umschließung geschrieben. Umschlossen finden sich die Erregten der glühenden Montage einmal von den planenden Überlegungen der Mächtigen. Der Bahnhofsversenker und ihrer Polizei. Zum zweiten vom forschenden Blick derer, die diese Umschließung erforschen wollen. Den Bann brechen.
Handlungsansätze
Der Roman gibt sich als Krimi aus. Als solcher ist er denkbar einfach gestrickt. Rosenblüt, der nach München verbannte Polizeikommissar, wird nach Stuttgart zurückgeholt. Linear aufgereiht fliegen ihm die Informationen zu. Gauner A gibt Adresse von Gauner B weiter. Dieser in Rätselform den Hinweis auf C: die Löwen. Dankenswerterweise hat der Autor dem Buch ein Personenverzeichnis vorangestellt. Neben Rosenblüt forschen Wolf Mach, Archäologe, und ein Normalstuttgarter namens Tobik, der sich zum Schützen am Präzisionsgewehr geschult hat und jenen Kreaturen Angst einflößen möchte, die jede Angst aus ihrem Hirn vertrieben haben. Dann - sehr wichtig - ein Hund, der Schwanzwedeln so verabscheut wie Treppensteigen und ganz gegen Hundeart auch öffentliches Urinieren zu Markierungszwecken. Offenbar ist dieser eine Wiedergeburt aus einem früheren Roman des Meisters. Sie alle, verbissen im Erkenntniswillen, unter Verlust der bürgerlichen Dressurerscheinungen. Der Kommissar will kein Verbrechen verhindern, Professor Mach keinen Ruhm ernten. Der schweigende Bürger Tobik mischt sich allein zu Tarnungszwecken unter die demonstrierenden Mitbürger. Die erworbenen Reflexe sind abgefallen wie Schorf von tiefen Verwundungen. Mehr soll von der Handlung nicht verraten werden. Wohl aber von den mitgelieferten Erkenntnissen Steinfests.
Spracherotik präzisester Ausprägung
Die Spannung - wie gesagt - im ganzen Roman ist die eines zu oft gewaschenen Unterhosengummis. Lust dieses Schreibers ist die pure Beschreibung. Die aggressive Analyse. So schon zu Beginn in der zusammenfassenden Verurteilung des Kreises der Planungsbesoffenen.
"Bei Stuttgart 21 war alles anders. Endlich einmal sollte die Verschwendung ganz aus sich alleine bestehen und sich nicht erst mittels eines Kerns rechtfertigen. Die Verschwendung sollte völlig frei sein von den Feigenblättern des Sozialen und Demokratischen. Sie sollte nackt und echt sein. Darum war es hier so wichtig, dass die geplanten Zerstörungen an Gebäuden und Natur, das Verpulvern finanzieller Mittel, die zwangsläufige Verschmutzung von Luft und Grundwasser keinem wirklichen Nutzen dienen durften. Sie mussten zweckfrei bleiben, um die Verschwendung in absoluter Reinheit darstellen zu können. Das, was an dieser Stelle entstehen sollte, war schlichtweg ein Kunstwerk zu nennen, nicht wegen der überholten Architektur und kindischen Animationen, sondern weil es den unverfälschten Willen verkörpern würde."(S. 37)
Mappus' und Merkels Weigerung, sich selbst in dieser Beschreibung wiederzuerkennen, darf hier nicht irre machen. In ihren beschränkteren Verlautbarungen haben sie sich so trainiert, dass sie die schnellere Verbindung nach Bratislawa (wo liegt das eigentlich?) ernsthaft für den Zweck des Ganzen ausgeben. Und gläubig einander nachreden. Solche Deformationen im jeweils eigenen Planerhirn gehören aber zu der Erscheinung dazu. Würden die blind handelnden Wesen ihre Verblendung erkennen, stünden sie alle verstört in der Gegend. Im Stillstand. Und der Roman und das Unglück, von dem er handelt, kämen beide nicht mehr zu Stande. In Wirklichkeit finden wir bei Steinfest einfach die Umschreibung des Ideals einer Wirtschaft, wie Keynes sie sich in den dreißiger Jahren ausgemalt hat. Man lasse die eine Hälfte der Arbeitslosen leere Flaschen in einem aufgegebenen Bergwerk versenken, die andere sie wieder ausbuddeln. Ergebnis: Es läuft! Nachfragen, wozu das alles dienen soll, erübrigen sich in diesem Fall wie in jedem anderen eines imaginierten Selbstlaufs. Unter den Peitschen dieser Selbstläufer drehen sich Kreisel. Wenn nur das Unberechenbare - der Zufall - nicht dazwischen träte. Er legt die Berechnung lahm. Er stoppt den ewigen Dreh. Gewährt den scharfsinnigen Gegnern die nötige Pause. Zur Erkenntnis der Leere.
Die schwangere Maschine. Eine sexuelle Abirrung
Der Zufall, Manifestation des Unberechenbaren, ist selbst ein Instrument des Berechnens. Eine vielleicht von Eratosthenes oder sonst einem Wissenschaftler der Antike erfundene Maschine, die Auskunft geben könnte über alles. Wenn man sie nur anzuwerfen verstünde. Eine solche Maschine findet sich genau unter dem Hauptbahnhof und stört. Man kann sie nicht bewegen. Aber sie sperrt genau die Stelle, wo die Planer einen wichtigen Geleiszugang geplant haben. Die Maschine muss also weg! Aber Archäologe Mach weigert sich, das Geringste dazu beizutragen. Insofern als Erfindung sehr schlüssig. Die Spezialisten der Berechnung hassen das Rechenwesen. Es handelt sich - wie Mach traumhaft erkennen soll - um ein wirkliches Wesen. Eine im Schlaf zusammengesunkene schwangere Kriegerin sieht er in dem Ding, das aus Kupfer besteht und voller Zahnräder steckt. Maschine also als Ding, das mütterlich aufs Gebären aus ist - aber in der Welt der Planer nicht zum Zuge kommt. Hier scheint die Phantasie Steinfurts aber ins Leere zu laufen. Das zeigt sich schon daran, dass nach der Sprengung des erwachten Geräts kein Zahnrad, kein Hebel gefunden wird, nichts von der drei Meter überwachsenden Gestalt, sondern nur ein schwangeres Mädchen, wahrscheinlich eine Obdachlose. Herkunft unbekannt. Die ursprünglich gesetzte Bildvorstellung wird kommentarlos zerstört. Und vom Inhalt her gedacht? Zugegebenermaßen habe ich mir auf überlangen Autofahrten auch schon vorgestellt, dass hinten zu eng auffahrende Mit-Autos darauf aus wären, lipizzanerhaft das unsere zu bespringen, um eine Zucht von Nachkommen zu erzeugen, die auf Garagisten und Fabriken nicht mehr angewiesen wären. In Maschinen-Kitas preiswert aufgezogen. Aber die Phantasie führt in die Irre. Im unzüchtigen Halbschlaf stellte ich mir vor, wie Maschinen alles Verknüpfen, Ineinanderstöpseln, Verschrauben keineswegs als Mittel zur Produktion erst zu erwartender Nachkommen empfinden könnten (wenn sie empfinden könnten), sondern den Zusammenschluss, das Ineinanderbrummen selbst, ohne Zeitaufschub als höchste Steigerung wahrnehmen müssten. Gibt es denn für Maschinen etwas anderes als brausende Gegenwart? Eben diejenige, die die planenden Menschen erst zu erreichen suchen. Und ohnmächtig sich dabei Finger verklemmen und Nasen einschlagen.
Roman als Teilerkenntnis
Wenn wir uns fragen, was ein Roman überhaupt zur Vergegenwärtigung aktueller Abläufe beitragen kann, dann muss hier die Antwort lauten: Er greift die Bewegung auf, aber nur im Stillstand. Was nicht gelingt, was auch gar nicht versprochen worden war, ist die Karikatur des "Wutbürgers", wie ihn der SPIEGEL hasserfüllt den Planern zum Gebrauch geliefert hat, so aufzulösen, dass die massenhafte Angst, die berechtigte Empörung, das Umherirren sinnenhaft erscheinen. Was der Roman liefert ist die Erfassung des erniedrigten Stuttgart als Raum, der der Zerstörung ausgeliefert wird - mit all seinen Staffeln, seinen alten Villen in Burschenhand und seinen vornehmen Hotels im Schlosspark. Was er weiterhin liefert: Wortwitz und Sprachvergnügen in immer neuen überraschenden Beschreibungen.
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Die Rezension erschien zuerst im März 2011 auf trueten.de (Update: kritisch.lesen.de, ast, 03/2011)
Wo die Löwen weinen. Kriminalroman.
Konrad Theiss-Verlag, Stuttgart.
ISBN: 9783806224238.
300 Seiten. 19,90 Euro.