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Sterben, um sich zu gehören

Auf dem Buchcover ist in Form eines mittig platzierten, gemalten Bildes der Hinterkopf eines Menschen zu sehen. Dieser Mensch schaut auf ein ruhiges Meer. Das die Schultern bedeckende Jacket ist grün. Durch die ebenfalls grünen Haare des Hinterkopfes hindurch blickt ein ernstes Gesicht, das dem Betrachtenden sehr eindringlich entgegenschaut. Der Grund um das Bild herum ist in hellem grau gehalten. Auf einem schwarzen Balken steht darunter in weißer Schrift der Name des Autor, darunter in schwarz der Buchtitel. Das gesamte Cover ist von einem gefleckten dunkelgrauen Rahmen umgeben.
Buchautor_innen
Jean Ámery
Buchtitel
Hand an sich legen
Buchuntertitel
Diskurs über den Freitod

Jean Améry illustriert in seinem Essay von 1976 die Annäherung an einen frei gewählten Tod. Frei, weil mit ultimativer Konsequenz und aus der Unfreiheit heraus handelnd. Ein gescheiterter Mensch erhält damit einen Ausweg.

Améry möchte mit diesem Text eine Phänomenologie der Suizidant_innen schreiben. Dafür stellt er deren mögliche subjektive Gedankenwelt in den Vordergrund. Er verzichtet dabei ganz gezielt auf eine verallgemeinerbare wissenschaftliche Methodik. Wir sollen denjenigen Menschen kennenlernen, der „seinen Freitod“ sucht (S. 11). Am Anfang steht die Überlegung des „échec“; auf Deutsch ‚Scheitern‘ oder ‚Misserfolg‘. Eine persönliche Reaktion auf ein wie auch immer geartetes Scheitern in oder an der Welt ist nicht durch Sachverhandlungen objektivierbar. Die Beurteilung „einschneidende[r] Lebensereignisse“ (S. 66) sei ihrer Schwere nach subjektiv. Ein Scheitern mit der Folge des Freitodes wäre dabei ein „l'échec ultime“, also ein Leben, das zu einem gänzlichen Misserfolg werde. Problematisch dabei sei, dass die moralische und politische Tabuisierung des Suizids bei den Gescheiterten zu einer inneren Zerrissenheit führe. Sie könnten sich nicht recht zwischen den jeweils tautologischen „Lebenslogiken“ (Ziel: Leben) und den „Todeslogiken“ (S. 29) (Ziel: Tod) entscheiden. Die von Améry beschriebene „Lebenslogik“ führt stets zu „wilder Gegenrede“ gegen alle Formen des Todes, ebenso wie bei der „Trauer, die abnimmt mit der Zeit, [denn] man kann nicht mit den Toten leben“ (S. 45). Darum würden sich die Suizidant_innen eine eigene „geschlossene Welt“ schaffen.

„[W]enn hier Irresein und Gesellschaft ins Gespräch kamen, so konnte dies ja nur geschehen, weil eben die Gesellschaft im Suizidär grosso modo [im Großen und Ganzen, Anm. TS] einen Narren sieht oder Halbirren sieht, weil sie nicht einzutreten vermag in seine geschlossene Welt.“ (S. 63)

Mit dem Eintreten in diese geschlossene Welt ergebe sich aus dem Freitod sowohl ein Urteil über die Gesellschaft als auch eine Form des Existenzialismus. Existentialistisch wird argumentiert, dass ein schmetterndes ‚Nein‘ wegen eines „zerschmetternden Scheiterns“ doch genauso „natürlich“ erscheinen muss – umso ‚eigentlicher‘ – wie das verallgemeinerte „Prinzip Hoffnung“ im Weiterleben:

„[E]in neuer Humanismus, der das Prinzip Hoffnung als gerechtfertigt ansieht, zugleich aber das in sich widersprüchliche und dennoch unausweichliche Prinzip Nihil [heißt: „Prinzip Nichts“, TS] anerkennt, erscheint vor unserem Horizont.“ (S. 68)

Dabei steht das „Nichten“ des Eigenen in einem sich selbst bejahenden Bezug zu den Fragen des Existenzialismus bei Jean Paul Sartre. Das aber nicht als Aufgehen in der Welt, wie es Sartre beschreibt, sondern als bewusster Widerwille vor dem Existieren. Die Libido verschiebe sich, so Améry, etwa durch den Verlust eines anderen Menschen oder etwas anderem auf das Ich. Das zeigt sich beispielsweise am „großen Dialog mit dem Körper“, indem die_der zum Suizid Geneigte sowohl eine Zärtlichkeit gegenüber dem Körper entwickle, als auch die „Amputation“ desselben aus der Welt begrüße (S. 73):

„Ich schneide mir die Gurgel durch. [...] Ich setze das kalte Revolverrohr an meine Schläfe. [...] Ich schraube [...] mit der Rechten den Schraubstock zu, zwischen dessen Blöcken mein Schädel liegt, so daß ich noch das Krachen vernehme, ehe es aus ist.“ (S. 82)

Und „Ich greife mich an, vollziehe also eine Bewegung, die in der täglichen Lebenspraxis sich nur ereignet, wenn ich Fremdes, Störendes wegschaffen, herausschaffen will“ (S. 107). Lediglich den ausgehungerten Insass_innen der deutschen Konzentrationslager fehle angesichts ihrer aussichtslosen Situation die Kraft, der Todesneigung zu folgen. Der Freitod ist nicht nur eine Möglichkeit, die erdrückenden Sorgen nicht mehr bearbeiten zu müssen, sondern steht im Zeichen – und das ist Améry besonders wichtig – der Würde (S. 98).

Freitod und Ethik

Der Zwang zum Kriegsdienst, Arbeitslosigkeit trotz Erziehung zur Arbeit oder Krankheit (S. 99) sind Beispiele des Scheiterns, von denen unsere Gesellschaften gekennzeichnet sind. Trotzdem werde in diesen Gesellschaften entweder eine Pflicht Gott oder „dem Menschen“ (S. 102) gegenüber postuliert und gefordert, diese Widersprüche auszuhalten. Der Autor zeigt das an den prägenden Moralvorstellungen, die aus Religion und Aufklärungsphilosophie entstanden sind. Er skizziert ein beinahe klassisches Dilemma: So habe die Gesellschaft recht gegen uns und die_der Einzelne wiederum recht gegen sie. Die Todesgeneigten aber könnten sich dem entziehen, indem sie diese „Rechtsgültigkeit“ für sich nicht mehr anerkennen. Weil „[d]as Leben […] der Güter einziges“ (S. 103) ist, kann, dieses zu nehmen, einen Ausweg darstellen. Wenn Améry auch explizit keine allgemeine Ethik formulieren möchte, zieht er doch moralische Grenzen: Niemals dürften in Folge der eigenen Todesneigung Mitmenschen gefährdet werden, und das nicht „[...] bis zum Ende und gegen die Todeslogik [...]“ (S. 108). Mehr noch: „Ein Mann,[…] den der Tod versucht oder der den Tod sucht, hat eine kranke, arbeitsunfähige Gefährtin und zwei unmündige Kinder. Er muß der Todesneigung […] wehren.“ (S. 110)

Was die anderen vom Freitod eines ihnen nahestehenden Menschen denken sollten, beantwortet der Autor mit dem Hinweis, dass die Welt der Glücklichen eine andere wäre als die Welt der Unglücklichen. Dabei sei entscheidend, dass die Welt der Unglücklichen in ihrer subjektiven Tragweite nicht vermittelbar sei, wie etwa Liebe oder andere Formen des Glücklichseins.

Nach dem Bruch, der Weg ins Freie

„[W]arum ist mir nicht die Freiheit zugestanden, eine Jacht zu besitzen, durch die Meere zu kreuzen? […] Warum nicht die Freiheit, faul zu sein? Warum nicht, die Bürde meines Leibes, den ich allzu gut kenne, abzuwerfen?“ (S. 128)

Während die Freiheit einer Jacht erlebt und genossen werden kann, ist der Freitod eher ein freier Ausweg mit abruptem Ende. Auf die „Kausalreihen“ (S. 140) von sozialen und gesellschaftlichen Bedingtheiten könnten wir nur begrenzt Einfluss nehmen. Der Freitod sei im Gegensatz zu einem „natürlichen Tod“ ein Bruch mit diesen Kontingenzen und damit auch mit der Gesellschaft. Jean Améry, der sowohl in Österreich als auch in Belgien im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv war, wurde durch die Gefangenschaft in verschiedenen deutschen Konzentrationslagern schwer traumatisiert und suchte in seinen Texten, wie in seiner berühmten Essaysammlung „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ von 1966, die literarische Auseinandersetzung mit den persönlichen Brüchen, welche die Shoah bei ihm hervorgerufen hatte. Im Jahr 1974 versuchte er einen ersten Suizid in Brüssel. Zwei Jahre nach Veröffentlichung dieses Buches 1978 nahm er sich im Salzburger Hotel Österreichischer Hof das Leben.

Ein subjektiv gewendeter Humanismus

Das Verurteilen eines selbst gewählten Freitodes stamme von jenen, die mit dem Lauf der Welt einverstanden sind. Das klingt plausibel, wirkt aber entgegen Amérys selbst gesetztem Anspruch moralisch. Und auch die Erfahrung des ‚échec‘ verhandelt Améry als Frage der Ehre und des Glanzes, was etwas eigentümlich anmutet. Mit höchster Wahrscheinlichkeit aber entspringen diese Überlegungen seinen eigenen Erfahrungen der Ohnmacht in den Lagern und angesichts der Besatzung als ein ‚Nichts‘ behandelt zu werden. Angesichts dieser einschneidenden Verbrechen, durch seine existentialistische Prägung und die emotionale Verhandlung des Freitods als eines ‚Neuen Humanismus‘ behält der Text auch heute noch seine Skandalwirkung, die schon seine Veröffentlichung 1976 ausgelöst hatte. Améry bietet uns einen Einblick in das Denken eines Humanisten im Angesicht dieser Brüche, denn auch ein kritisches „Prinzip Hoffnung“ greift er nie an. Darüber hinaus fesselt das Buch ungemein, weil es vorantreibt und stets einem roten Faden folgt. Neben seinen gewissenhaften Überlegungen haben wir es im Essay auch mit Humor zu tun, der manchmal auch etwas trocken rüberkommen kann. Améry wird gelegentlich auch polemisch; das vor allem angesichts der wissenschaftlichen und volkstümlichen Widersprüche gegen den Freitod. Besonders interessant ist, dass diese subjektiv geführte Diskussion über den Freitod in unserer heutigen Welt nachvollziehbar bleibt. Ein solcher Freitod und der Weg dahin sind nicht in Gänze rationalisier- oder verallgemeinerbar, weil sie einen subjektiven Charakter haben. So bedingt, wie wir zu handeln in der Lage sind, kann es ein emanzipatorischer Akt sein, sich der Todeslogik hinzugeben und den Gang der Welt nicht mehr zu akzeptieren.

Jean Ámery 1992:
Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. 6. Auflage.
Klett-Cotta, Stuttgart.
ISBN: 3-608-95226-8.
155 Seiten.
Zitathinweis: Thomas Stange: Sterben, um sich zu gehören. Erschienen in: Leben und Sterben. 35/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/s/pMVCr. Abgerufen am: 27. 12. 2024 01:58.

Zum Buch
Jean Ámery 1992:
Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. 6. Auflage.
Klett-Cotta, Stuttgart.
ISBN: 3-608-95226-8.
155 Seiten.