Sorgenvoll optimistisch
- Buchautor_innen
- Bernard Stiegler
- Buchtitel
- Die Logik der Sorge
- Buchuntertitel
- Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien
Das Buch beschreibt, wie der digitale Kapitalismus die Menschen fest im Griff hat, ohne dass sie es merken.
Bernard Stiegler, Leiter der Abteilung Kulturelle Entwicklung am Centre Georges Pompidou und Begründer der Ars-Industriaris-Konferenzen, die sich mit dem Einfluss der neuen Technologien auf die Gesellschaft beschäftigen, versucht in einer neuen Arbeit seine bisher nicht auf Deutsch vorliegenden Schriften zusammen zu fassen und eine Technologiefolgenabschätzung zu liefern, die umfassend ist.
Doch zunächst liefert der Autor eine gnadenlose Analyse der Strafrechtsreform der französischen UMP-Regierung aus dem Jahre 2007, welche die Strafunmündigkeit für jugendliche Straftäter abschaffte und diese dem Erwachsenenstrafrecht anglich. Gleichzeitig entwickelten Fernsehsender, besonders krass etwa Canal J, oder verschiedene Blogs im Internet, regelrecht Kampagnen zur Kontrolle des jugendlich-psychischen Apparats. Es ist klar, dass Stiegler hier auf seine umfangreichen Bücher zum Thema anspielt, die leider (noch) nicht auf Deutsch zugänglich sind (ausgenommen das gemeinsame Buch mit Jacques Derrida „Echographien. Fernsehgespräche“, das 2006 beim Passagenverlag erschien).
„Diese psychotechnologischen Apparate sind Bestandteil einer Psychomacht, die die Formierung der von Michel Foucault analysierten Biomacht vervollständigt, zugleich jedoch deren Schwergewicht verlagert. Kontroll- und ‚Modulations'-Gesellschaften, bei denen das Marketing zur zentralen Funktion der sozialen Entwicklung geworden ist, ersetzen die Foucaultsche Disziplinargesellschaft.“ (S. 28).
Hier gehe es schließlich um nichts Geringeres als um die Zerstörung der Sorge als Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Anerkennung. An dieser Stelle werden mehrere neuere Studien erwähnt, etwa die von Frederick Zimmermann und Dimitri Christakis, welche die kognitiven Verhaltensänderungen durch die neuen Technologien untersuchen. Diesen zufolge seien in den Vereinigten Staaten ab dem zweiten Lebensjahr Kleinkinder regelmäßig Fernsehprogrammen ausgesetzt. Diese Personengruppe sei besonders gefährdet im Alter von sieben Jahren an Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu erkranken.
Dazu sei auf einen Film verwiesen, der nicht dieser Regel folgt: „Heute trage ich Rock!“, Buch und Regie Jean-Paul Lilienfeld (2008). Sonia (Isabelle Adjani), eine Lehrerin an einer „Problemschule“ in einer Pariser Vorstadt, deren Direktor ihr rät, keine Röcke in der Schule zu tragen, weil diese bei den SchülerInnen eine gewisse Nähe zu sexuellen Dienstleistungen assoziieren (!). Offensichtlich von ihrer Rolle zwischen Direktorium, Kolleginnen und Schülern ziemlich überfordert, erwischt Sonia ihre Schüler, wie sie einen Revolver tauschen. Unversehens wird sie selbst Geiselnehmerin der Klasse und spielt die eben auch bei den Jugendlichen vorhandenen Klischees gnadenlos gegen diese aus. Der Film jongliert aber auch mit den Widersprüchen innerhalb der Kommandostruktur der Spezialeinheit, welche die Schule stürmen will. Tolles Kino, welches keineswegs nur von der wunderbaren Adjani lebt.
Zurück zum Buch: Stiegler wendet sich nun der digitalen Aufrüstung des Neoliberalismus zu, welche nahezu absurde Formen angenommen hat. Doch alle Cyber-Abwehrzentren und Digitale Therapien dieser Welt zusammengenommen wären nicht in der Lage dieses System zu regenerieren, welches durch Apparate zur Kontrolle der Bewegungsabläufe, die als Werkzeugmaschinen die Eliminierung des Arbeitenkönnens und somit einen immensen Produktivitätszuwachs realisieren, dennoch auf eine Grenze trafen: den von Marx analysierten tendenziellen Fall der Profitrate. Die westlichen Gesellschaften hätten durch den Export ihrer Technologien neue Konkurrenten erzeugt und einen weltweiten Wirtschaftskrieg entfesselt. Wir alle hätten schließlich das TINA-Prinzip verinnerlicht: „There is no alternative“, weil wir alle mehr oder weniger dem Einfluss der Psychotechnologien ausgesetzt seien, welche unsere Mündigkeit zerstören. Insofern wird hier ein kollektives Krankheitsbild mit verheerenden Folgen diagnostiziert, dessen Therapie nur von völlig neuen politischen, ökonomischen und staatlichen Mitteln zu bewältigen ist. Ein Zurück zu den „guten alten Zeiten“ kann es nicht geben.
Bernard Stiegler, der sich öffentlich dazu bekannte von 1978 bis 1983 wegen eines bewaffneten Raubüberfalls eine Haftstrafe abgesessen zu haben, pendelt ständig zwischen den Schnittpunkten von Philosophie, Pädagogik und Kognitionswissenschaften. Dies macht es nicht gerade einfach ihn zu lesen, spannend ist das, was er schreibt, allemal.
Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien.
Suhrkamp, Frankfurt am Main.
ISBN: 978-3-518-26006-7.
190 Seiten. 10,00 Euro.