Solidarität gesucht
- Buchautor_innen
- Amnesty International (Hg.)
- Buchtitel
- Täter unbekannt
- Buchuntertitel
- Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland
Eine der wenigen Publikationen zu Polizeigewalt in der BRD verspielt wichtige Ansätze für eine tiefgreifende kritische Analyse.
Im deutschsprachigen Raum gibt es wenige Veröffentlichungen zu Misshandlungen und Tötungen durch Polizeigewalt. Umso bemerkenswerter könnte der 2010 von Amnesty International (AI) erschienene Bericht „Täter unbekannt“ zu Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei in der BRD sein.
Bei dem Bericht handelt es sich um eine gut hundert Seiten lange Broschüre, die in fünf Abschnitte gliedert ist: Nach der Einleitung geht es um Todesfälle in Gewahrsam beziehungsweise infolge polizeilicher Gewaltanwendung, anschließend um Misshandlungen. Darauf folgt ein Abschnitt zum Mangel an Verantwortlichkeit bei Polizei und Justiz und schließlich werden Empfehlungen von AI formuliert. Der doch eigentlich recht klar gewählt scheinende Aufbau entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als unstrukturiert.
Die Sprache des Berichts stellt den_die Leser_in auf eine Geduldsprobe: Er ist so vorsichtig und distanziert geschrieben, dass eine_m ob der ganzen Konjunktive der Kopf schwirrt. Außerdem stellt AI gleich zu Beginn klar, dass sie im Zweifel aus Gründen der Lesbarkeit nur die männliche Form verwenden. Diese Herangehensweise ist symptomatisch für das Bedienen hegemonialer Strukturen im Bericht. Es wird von einem juristischen Standpunkt aus argumentiert, so stehen Vorschriften und Paragraphen im Vordergrund sowie die Ermahnung, dass diese eingehalten werden müssen, um Menschen zu schützen. Die vielen anderen Wege, auf denen gegen Polizeigewalt vorgegangen werden kann, bleiben unerwähnt.
Bereits in der Einleitung drückt AI Verständnis für die „schwere“ Arbeit der Polizei aus. Die Institution Polizei als staatlicher Träger des Gewaltmonopols wird an keiner Stelle grundsätzlich in Frage gestellt, vielmehr wird dem Ansatz der kritischen Kooperation mit der Polizei gefolgt.
Perspektivenfrage
Im Kapitel zu den Todesfällen bekommen die Leser_innen zunächst eine kurze Zusammenfassung gesetzlicher Grundlagen zum „Recht auf Leben“ sowie Empfehlungen des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT). Anschließend werden drei Geschichten vorgestellt: Oury Jalloh, der in einer Polizeizelle in Dessau an Händen und Füßen gefesselt verbrannte, Adem Özdamar, der in Folge eines Polizeieinsatztes ums Leben kam sowie Jendrik Thiel, der sich im Polizeigewahrsam strangulierte. Dabei werden zunächst die Vorkommnisse geschildert, wobei sich weitestgehend in den Ausführungen auf schriftliche Urteilsbegründungen berufen wird. In keinem der dargestellten Fälle wurden Polizist_innen wegen Totschlags oder Mord verurteilt. Weil AI sich auf diese juristisch festgelegten Deutungen beruft, wird die hegemoniale Perspektive der Gerichte gestützt und keine klare solidarische Positionierung gefunden. Die sehr detaillierte Darstellung der Fälle läuft Gefahr, das Vorgehen der Polizei als teilweise verständlich erscheinen zu lassen. So wird der bittere Beigeschmack von „die Toten haben Mitschuld an ihrem Tod“ erzeugt.
Muster offensichtlich
Im Kapitel zu Misshandlungsfällen durch die Polizei wird eingangs auf wenigen Seiten ein kompakter Überblick über die rechtlichen Grundlagen gegeben. Anschließend wird aufgezeigt, unter welchen Voraussetzungen Gewaltanwendung durch die Polizei rechtlich gestattet ist. Dabei wird an den beiden Parametern „Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit“ festgehalten.
Es werden insgesamt zwölf Fälle „mutmaßlicher Misshandlungen und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch Polizeibeamte“ (S. 38) vorgestellt. Der Fall von JM ist einer von sieben, bei dem es sich um rassistische Polizeigewalt handelt. JM wurde von Mitarbeiter_innen der Ausländerbehörde angehalten und nach seinem Ausweis gefragt und da er glaubte, diesen nicht dabei zu haben, wurde er von Bundespolizist_innen auf eine Polizeiwache gebracht. Kontrolliert wurde JM laut AI, da ein_e Mitarbeiter_in der Ausländerbehörde feststellte, es habe sich „offensichtlich um einen Ausländer“ (S. 46) gehandelt. Woran ein_e Behördenmitarbeiter_in offensichtlich die Staatsangehörigkeit eines Menschen sehen kann, erläutert AI nicht. Außerdem stellt AI nicht in Frage, dass sich ein Mensch, weil er als nicht-deutsch kategorisiert wurde, ausweisen muss.
Doch hier wird es eigentlich interessant: Es handelt sich um die Praxis des Racial Profiling. Menschen werden aufgrund rassistisch aufgeladener Stereotype bestimmte Vergehen unterstellt. Würde AI allerdings diese Praxis benennen, so müsste sie von institutionellem Rassismus innerhalb der Polizei sprechen, was ihrem Ansatz der „bedauerlichen Einzelfälle“ entgegenstünde:
„Amnesty International ist sich bewusst, dass Polizeibeamte in Deutschland eine schwierige, gefährliche und oft mit großen persönlichen Risiken verbundene Aufgabe erfüllen und dass die große Mehrheit von ihnen ihre Pflichten professionell und im Einklang mit dem Gesetz erfüllt.“ (S. 10)
Auf der Polizeiwache wurde JM von Beamt_innen misshandelt (sie schlugen ihn, legten ihm Handschellen an und traten auf ihn ein, als er bereits am Boden lag) und einem Alkoholtest unterzogen. JM erstattete Strafanzeige, die Polizei stellte daraufhin ihrerseits Strafanzeige gegen JM wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Auch in vielen weiteren Fallschilderungen wird erwähnt, dass gegen die Betroffenen Anzeige von der Polizei erstattet wurde – in der Regel wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Es handelt sich hierbei um eine Strategie der Polizei, nach einem gewaltsamen Angriff ihrerseits die Angegriffenen zu Tätern zu machen und ihren Einsatz zu legitimieren. Dieses deutlich anhand der Falldarstellungen sichtbar werdende Muster wird allerdings von AI nicht benannt, geschweige denn einer Analyse unterzogen. Die Ermittlungen gegen JM wurden intensiv geführt, gegen ihn wurde Anklage erhoben, die mit einem Freispruch endete. Erst danach wurden die Ermittlungen gegen die Polizist_innen aufgenommen, die aber eingestellt wurden. Selbst nach Beschwerde und einem Antrag auf Klageerzwingung kam es nicht zu einem Verfahren gegen die Polizist_innen. Das ist gängige Praxis.
Das vierte Kapitel wird mit der Feststellung eingeleitet, dass auch Polizeibeamt_innen nicht über dem Gesetz stünden: Im Folgenden können die Lesenden sich über Beschwerderecht, Strafverfahren und Disziplinarverfahren gegen die Polizei sowie Schadensersatzforderungen gegen die einzelnen Bundesländer informieren. Dieser Teil des Berichts hebt sich positiv vom Rest ab, da hier Wissen vermittelt wird, welches Betroffenen von Polizeigewalt sowie Unterstützer_innen hilfreich sein kann, wenn auf juristischem Weg versucht wird Polizeibeamt_innen zur Verantwortung zu ziehen.
AI stellt klar, dass bei mutmaßlichen Misshandlungen oder unverhältnismäßigen Gewaltanwendungen Polizei und Staatsanwaltschaft verpflichtet sind, von Amts wegen strafrechtliche Ermittlungen aufzunehmen. Diese Verpflichtung ist umso bemerkenswerter, als dass sie in der tatsächlichen Praxis kaum umgesetzt wird. Vielmehr wird versucht, Betroffene von Polizeigewalt beispielsweise durch Einschüchterung daran zu hindern Strafanzeige zu erstatten.
Im Folgenden werden zu allen im zweiten und dritten Kapitel dargestellten Fällen weitere Informationen zu den jeweiligen Ermittlungen zusammen gestellt und mit Menschenrechtsabkommen abgeglichen, Verstöße der Polizei deutlich gemacht und erste Forderungen von AI formuliert. AI befürchtet aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen, dass in Misshandlungsfällen unzureichend ermittelt wird und stellt anschließend die Verpflichtungen der Staaten zur Ermittlung dar, wie sie durch internationale Menschenrechtsbestimmungen festgelegt sind. Diese sollen folgende Merkmale aufweisen: Unverzüglichkeit, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, Angemessenheit und Umfassendheit sowie Einbeziehung der Opfer (vgl. S. 80ff). AI legt diese Parameter an Fälle an, die ihnen bekannt geworden sind und stellt fest, dass die Menschenrechtsbestimmungen nicht eingehalten wurden. Hier findet AI erstmals deutlichere Worte und kommt aus dem Nebel an verharmlosenden Konjunktiven heraus, orientiert sich allerdings wieder ausschließlich an rechtlichen Verfahren.
Täter bekannt?
Abschließend werden zehn Empfehlungen formuliert, die sich aus dem zuvor festgestellten Mangel an Verantwortung ableiten. An erster Stelle fordert AI die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt_innen. Bereits der Titel des Berichts „Täter unbekannt“ bezieht sich indirekt auf diese Forderung. Erhofft wird, dass durch die Kennzeichnungspflicht Polizist_innen nach Misshandlungsvorwürfen identifiziert werden können - Täter bekannt - und so rechtliche Prozesse in Gang gesetzt werden können. Symptomatischerweise sind die Forderungen zu den „Rechten der Opfer“ am kürzesten gehalten.
Verhältnismäßig viel Raum nehmen dagegen die Empfehlungen zur Schaffung unabhängiger Untersuchungsmechanismen der Polizei ein. Hier werden die unterschiedlichen Kompetenzen angerissen, die solch ein Untersuchungsmechanismus haben sollte. Auch auf angemessene personelle und materielle Ressourcen wird verwiesen, dies aber nicht näher ausgeführt. Wie wichtig diese Punkte sind, zeigt sich am Beispiel Hamburgs, wo es zwischen 1998 und 2000 eine unabhängige Polizeikontrollkommission gab. Die Kommission war wegen ihrer totalen Unterbesetzung und fehlender Finanzierung geradezu handlungsunfähig. So wird die Kontrollinstanz zum Feigenblatt: Von öffentlicher Seite kann darauf verwiesen werden, die Polizeiarbeit stünde unter einer unabhängigen Kontrolle, de facto findet aber keine Kontrolle statt, die Arbeit wird fortgesetzt wie bisher - nur scheinbar demokratischer.
Täter unbekannt. Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland.
Amnesty International, Hamburg/Berlin.
116 Seiten. 5,00 Euro.