Sehhilfe für Vielschichtigkeit des Anarchismus
- Buchautor_innen
- Uri Gordon
- Buchtitel
- Hier und jetzt
- Buchuntertitel
- Anarchistische Praxis und Theorie
Der Aktivist und Publizist Uri Gordon legt mit „Hier und Jetzt“ eine Bestandaufnahme gegenwärtiger anarchistischer Bewegungen vor.
Zu Beginn des Jahrtausends wehte ein frischer Wind antikapitalistischer Perspektiven. Der Widerstand gegen das WTO-Treffen in Seattle im Dezember 1999 mobilisierte viele Menschen, die die Verhältnisse nicht mehr einfach hinnehmen wollten, sondern aktiv an Ort und Stelle ihrer Wut Ausdruck verliehen. Aus dem Wind wurde zwar kein Sturm, aber die globalisierungskritische Bewegung war weit mehr als ein laues Lüftchen. Seattle war kein Ausnahmefall, auch kurz vorher in Köln, in Prag 2000, in Genua und Göteborg 2001, in Gleneagles 2005 und – vielleicht als bisher letzter größerer Ausdruck der Bewegung – in Heiligendamm im Juni 2007 trafen tausende Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Vorstellungen und Aktionsformen zusammen, um sich gemeinsam zu widersetzen oder zumindest ihren Protest auszudrücken. Einer von ihnen war Uri Gordon. Er kam im Oktober 2000 nach Europa, eigentlich um eine Doktorarbeit über Umweltethik zu schreiben. Doch ihm kam beim Schreiben die weltweite antikapitalistische Bewegung dazwischen. Pragmatisch brachte er sowohl sein Promotionsvorhaben als auch seine politische Arbeit zusammen und schrieb seine Doktorarbeit kurzerhand über die aktuellen Formationen des Anarchismus. Herausgekommen ist das 2010 in deutscher Übersetzung bei Nautilus erschienene Buch „Hier und Jetzt“, das in englischer Sprache unter dem Titel „Anarchy Alive!“ bereits 2008 bei Pluto Press erschien.
Anarchismus als politische Kultur
Es geht dem Autor weniger darum, Antworten auf die brennenden Probleme der anarchistischen Bewegung zu liefern, vielmehr möchte er die entscheidenden Fragen mit ihren Hintergründen und Facetten formulieren. Er versucht, das wabernde, manchmal endlos verknotet zu scheinende Verwickelte zu entwirren. Zur Entwirrung und -wicklung soll zunächst die viel gestellte und noch häufiger beantwortete Frage nach dem, was Anarchismus eigentlich ist, beitragen. Anarchismus wird von Gordon als politische Kultur gefasst, weil Anarchismus so verstanden weniger als theoretische Einheit mit ideologischer Konformität oder als lineare Struktur erscheinen kann. Anschaulich, verständlich und hervorragend strukturiert teilt Gordon die anarchistische Kultur in vier Bereiche auf: Organisationsformen, Aktionsrepertoires, gegenkulturelle Ausdrucksformen und politische Sprache. In der knappen, aber dennoch erhellenden Nachzeichnung zentraler Diskussionen innerhalb der anarchistischen Bewegung kommt der Autor auf den Konflikt zwischen „altem“ und „neuem Anarchismus“ zu sprechen. Während beim „alten Anarchismus“ weniger Wert auf herrschaftsfreie Strukturen in der Gegenwart und stattdessen auf Mehrheitsentscheidungen und Hierarchien (zum Beispiel in konkreten Positionen in Organisationen) gesetzt wird, zeichnet sich der „neue Anarchismus“ durch Breite und Diversität aus – mit horizontalen Strukturen, schwer eingrenzbar und offen. In „Hier und Jetzt“ wird – wenig überraschend – die „neue Schule“ fokussiert, zugleich aber auf die Künstlichkeit der Unterteilung hingewiesen, denn die Grenzen sind nicht nur schwer zu ziehen, sondern es gibt breite Solidaritäten zwischen den „Schulen“ und weitreichende Überschneidungen.
Markierungen anarchistischer Inhalte
Was sind die wichtigsten Themen anarchistischer Aktivist_innen? Gordon benennt drei zentrale Inhalte. Zu bekämpfen ist erstens jede Form der Herrschaft – und damit ist nicht ausschließlich die von Staat und Kapital gemeint. Vielmehr sind die verschiedenen Formen der Unterdrückung zusammen zu denken. Diese Perspektive geht zum Beispiel auf die Kämpfe Schwarzer Feministinnen in einer an der weißen Norm orientierten Frauenbewegung in den 1970er Jahren zurück. Es zeigt(e) sich deutlich, wie sich strukturierende Kategorien wie „Rasse“, Klasse und Gender nicht nur in der „Mehrheitsgesellschaft“ widerspiegel(te)n, sondern auch innerhalb linker Kreise. Daran zeigt sich, dass Herrschaft viele Facetten hat: das System der Entlohnung, das Patriarchat und die weiße Vorherrschaft etwa (vgl. dazu auch ausführlicher den kritisch-lesen.de-Schwerpunkt von Ausgabe 10).
Zweitens bestimmt Gordon die „vorwegnehmende Politik“ als wesentlichen Bestandteil anarchistischer Kultur. Demnach werden Vision und Praxis zusammen und nicht getrennt gedacht und die freie Gesellschaft nicht auf die Zeit „nach der Revolution“ vertagt. Vorwegnehmende Politik bedeutet aber nicht allein, sich im Individualismus und endlosen Reflexionsschleifen zu verlieren (eine Gefahr übrigens, die Gordon zu wenig ausführt), sondern sowohl das Selbst als auch das Ganze zu denken, sowohl die persönliche Befreiung in einer unterdrückenden Gesellschaftsordnung als auch die Zerstörung und Überwindung ebendieser.
Drittens wird bei der Frage nach dem, was werden soll, auf Vielfalt und Ergebnisoffenheit gesetzt. Revolution wird also als Prozess verstanden, auch weil sich nicht einfach nach geglückter Revolte plötzlich Unterdrückungsstrukturen in Luft auflösen. So muss davon ausgegangen werden, dass auch in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft patriarchale und rassistische Strukturen vorhanden sind.
Diese beiden dargestellten Kapitel umfassen etwa das erste Drittel des Buchs und haben einleitenden Charakter. Ich halte diesen einleitenden Teil für den stärksten des Buchs, denn es gelingt Gordon ausgezeichnet, auf etwa 70 Seiten zentrale Diskussionslinien des Anarchismus nachzuzeichnen und zugleich durch eine weite Fassung von Anarchismus aufzuzeigen, dass wir es mit der vielleicht größten weltweiten anarchistischen Bewegung seit den 1930er Jahren zu tun haben. Die weite Definition – und vielleicht sogar die damit verbundene Vereinnahmung vieler Teile von Bewegungen, die sich selbst nicht als anarchistisch fassen – ist sicher kritikwürdig und problematisch, aber dennoch zeugen die „politischen Kulturen“ gegenwärtiger Bewegungen durchaus von anarchistischen Praxen. Ob sich nun alle als Aktivist_innen unter der schwarz-roten Fahne und dem A im Kreis sehen oder nicht – so ist es zumindest bemerkenswert, dass es ein breites Verständnis von politischem Aktivismus fußend auf Freiwilligkeit und horizontalen Strukturen gibt und somit autoritärem Avantgardismus etwas entgegengesetzt wird.
Zurück zu „Hier und Jetzt“. Im Hauptteil versucht Gordon aus der Praxis heraus Perspektiven, Dilemmata und Kontroversen auszuloten, die in anarchistischen Kämpfen für Veränderungen auftreten. Im Sinne eines vorwegnehmenden Aufbaus einer Rezension sei an dieser Stelle bereits gesagt, dass Gordon dies nicht immer überzeugend gelingt.
Macht und Gewalt
Zunächst geht es um die Frage nach Macht innerhalb anarchistischer Zusammenhänge. Macht zeigt sich etwa bei der ungleichen Verteilung von politischen Ressourcen. Dieses Problem sei jedoch relativ einfach zu lösen, wenn Ressourcen konsequent geteilt und kollektiviert werden. Problematischer wird es bei den unsichtbaren Mechanismen von Macht, wenn sich in informellen Strukturen Führungsklassen entwickeln. Wie soll aber eine Kontrollinstanz geschaffen werden, wenn gerade in informellen Strukturen (also in der Unsichtbarkeit) auch sinnvolle Aspekte liegen? Über einige – nicht immer nachvollziehbare – Umwege schlägt Gordon eine „Kultur der Solidarität“ vor, die er jedoch nur sehr knapp auf zwei Seiten ausführt – und dabei kaum den Allgemeinplatz verlässt.
Mehr Erkenntnisgewinn liefert das Kapitel, das sich mit der unangenehmen Frage nach der Gewalt auseinandersetzt. Gordon meint, dass es sich bei dem weitgehendenden Konsens der „Vielfalt der Taktiken“ nur scheinbar um eine Errungenschaft handelt. Gewalt – wie auch immer definiert – als politischer Ausdruck werde innerhalb pazifistischer und nicht-pazifistischer Anarchist_innen zwar akzeptiert, jedoch sei der Konsens „um den Preis einer Leugnung der Spannungen erzielt worden, die unter der Oberfläche nach wie vor bestehen“ (S. 122). Gordon möchte sich weder für noch gegen Gewalt aussprechen, sondern die Debatten und Argumente aufdröseln, damit sich Aktivist_innen individuell mit der Gewaltfrage auseinandersetzen können. Er untersucht kritisch verschiedene Gewaltdefinitionen und entwirft einen eigenen, eher weiten Begriff von Gewalt: „Ein Akt ist als Gewalt zu bezeichnen, wenn ihn derjenige, gegen den er sich richtet, als Angriff oder absichtliche Gefährdung erlebt.“ (S. 140) Die für Anarchist_innen entscheidende Frage ist die nach der Vereinbarkeit von vorwegnehmender Politik und Gewaltanwendung, geht es doch um die Herbeiführung einer grundsätzlich anderen (gewaltfreien) Gesellschaft. Gordon individualisiert die Frage nach der Gewaltanwendung, die jede_r für sich entscheiden müsse. Wenn die Entscheidung reflektiert getroffen wird und ein offener Umgang mit der Frage stattfindet, komme doch wieder das Prinzip von der „Vielfalt der Taktiken“ zu tragen. Ausgesprochen schwach ist ein Zusatz des Kapitels, in dem es um Ermächtigung, Rache und den bewaffneten Kampf geht. Das Unterkapitel verharrt auf einer sehr oberflächlichen und spekulativen Ebene und hat im Grunde nichts mit dem ansonsten weitgehend schlüssigen Argumentationsstrang zu tun.
Technik und schließlich: Israel/Palästina
Gordon widmet sich anschließend dem Thema Technologie, genauer gesagt dem Verhältnis von anarchistischer Praxis zum Thema Technik. Er gesteht eingangs, dass er zwar Sympathien mit anarcho-primitivistischen Strömungen hegt, sich aber aufgrund der kontroversen Debatten innerhalb der anarchistischen Bewegung weniger auf solche Perspektiven beziehen möchte. Der Autor schlägt drei Stränge für eine anarchistische Technologie-Politik vor: Erstens müsse es darum gehen, „auf alle mögliche Arten neuen technologischen Wellen einen Widerstand entgegenzusetzen, wenn sie darauf ausgerichtet sind, Machtkonzentration und soziale Kontrolle, Ungleichheit und Umweltzerstörung zu verstärken“ (S. 188). Zweitens biete zwar das Internet vielseitige Möglichkeiten der Kommunikation und des Informations- und Wissensaustausches, dennoch sei das Netz skeptisch zu betrachten, da nicht nur ungleiche Zugangsmöglichkeiten bestünden, sondern die Technologie trotz aller vermeintlicher Dezentralität eine im hohen Maße zentralisierte sei, deren Produktion, Instandhaltung und Weiterentwicklung autoritative Koordination voraussetze. Außerdem beute die Computer-Industrie sowohl Mensch als auch Umwelt aus. Schließlich appelliert Gordon drittens für eine Verlangsamung vielfältiger Low-Tech-Innovationen. Auch wenn ich mit Gordons Technikskeptizismus wenig anfangen kann, regen mich einige seiner Ausführungen zu diesem Thema vielseitig an, handelt es sich doch um eine Frage, bei der innerhalb der Linken beinahe nur Pole sichtbar scheinen: Ein unnachgiebiger Fortschrittsglaube auf der einen Seite und eine primitivistische Vorstellung auf der anderen. Zwar ist Gordon auch entsprechend angepolt, aber Positionen fern der Binarität erscheinen zumindest in Umrissen.
Schließlich widmet sich Gordon der Frage nach den nationalen Befreiungsbewegungen am Beispiel Palästina/Israel. Anhand einer Kritik an Wayne Price, der der Meinung ist, der erste Schritt sollte immer der sein, sich auf die Seite der Unterdrückten zu begeben, führt Gordon aus, dass eine solche unreflektierte Positionierung eine typisch linke Form von Judeophobie und Antisemitismus in Nordamerika und Europa sei. Aber anders als einige andere Linke (besonders im deutschsprachigen Raum), hört er nach dieser Erkenntnis nicht auf zu denken (und zu handeln). Als Aktivist von Anarchists Against the Wall weiß er sehr genau zu differenzieren. Selbstverständlich befinden sich Anarchist_innen in einem Widerspruch, wenn sie einerseits anti-national eingestellt sind, sich auf der anderen Seite aber mit Palästinenser_innen, die für einen eigenen Staat kämpfen, solidarisieren. Gordon merkt dazu an: „Zunächst einmal, denke ich, sollten wir dazu stehen, dass hier tatsächlich ein Widerspruch besteht, dass aber in der Situation, wie sie ist, Solidarität – auch zum Preis der Inkonsequenz – unumgänglich ist.“ (S. 224) Letztlich ist die Debatte über die Frage, ob Anarchist_innen einen palästinensischen Staat unterstützen sollen, nicht mehr als eine akademische Übung:
„Der alltägliche Widerstand, an dem sich Anarchisten in Palästina beteiligen und den sie verteidigen – durch das Wegräumen von Straßenblockaden oder den Schutz von Bauern vor den Siedler-Attacken bei der Olivenernte und vieles mehr – trägt dazu bei, das Überleben und die Würde von Menschen zu bewahren und nicht, sie einem eigenen Staat näher zu bringen.“ (S. 226)
Fazit
„Hier und Jetzt“ wurde mittlerweile breit rezipiert und von vielen Seiten gefeiert. Die meisten Rezensent_innen sehen in Gordons Buch keine Einführung zum gegenwärtigen Anarchismus, sondern eine Sammlung durchschlagender Positionierungen in Bezug auf die Streitthemen anarchistischer Theorie und Praxis. Für mich ist „Hier und Jetzt“ jedoch an den Stellen besonders lesenswert, an denen Entwicklungen und Diskussionen gebündelt zusammen getragen und Strukturierungen vorgenommen werden. In den Ausführungen zu den Streitthemen verzettelt sich Gordon hin und wieder oder bearbeitet Themen zu oberflächlich (was angesichts der vielen angesprochenen Grundsatzdebatten auf knapp 250 Seiten kaum zu vermeiden ist).
Leider ist in der Version von Nautilus nicht ganz ersichtlich, auf was sich Gordon stützt. Der Verlag hat sich für eine Fassung entschieden, in der nur unzureichend (häufig auch fehlerhaft) und grundsätzlich ohne Angabe der Seitenzahl nach den vielen verwendeten Zitaten die Quellen angegeben werden. Das verringert den Nutzen von „Hier und Jetzt“ als ansonsten ausgezeichnetes Nachschlagewerk.
Die hier formulierten Kritiken sollen jedoch auf keinen Fall das Verdienst des vorliegenden Buchs schmälern! Uri Gordon schafft mit seiner tiefgreifenden Befürwortung von Vielfältigkeit einen Blick auf Anarchismus im Hier und Jetzt, der optimistische Perspektiven ermöglicht. Es gelingt vorzüglich, das weite und umfassende Feld anarchistischer Theorie und Praxis darzustellen. Ein Feld, das aufgrund der Vielschichtigkeit oft unsichtbar erscheint.
Hier und jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie.
Edition Nautilus, Hamburg.
ISBN: 978-3-89401-724-8.
256 Seiten. 18,00 Euro.