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Schwule in der Nazi-Zeit

Buchautor_innen
Michel Dufranne / Milorad Vicanović / Christian Lerolle
Buchtitel
Rosa Winkel
Die Graphic Novel „Rosa Winkel“ beschreibt das Schicksal des Werbezeichners Andreas Müller, der Opfer der Nazis wurde, das KZ überlebte und nach 1945 verfolgt blieb. Seine Erfahrung lässt sich aber nicht als „kollektive“ „der Schwulen“ im NS-Staat stilisieren.

Der Situation von Schwulen in der Nazi-Zeit wendet sich die aus dem Französischen übertragene Graphic Novel „Rosa Winkel“ zu. Berichtet wird die Geschichte des Werbezeichners Andreas Müller, der in den 1930er Jahren Anfang 20 ist und schwul. Er kommt in den Blick der Nazi-Justiz, schließlich ins Gefängnis und – nach einer vorübergehenden Entlassung – ins Konzentrationslager. Als einer der wenigen Überlebenden der Konzentrationslager Sachsenhausen und Neuengamme erhält er in der frühen BRD keine Entschädigung. Wegen der Verurteilung nach Paragraph 175 gilt er als Krimineller und ist bedroht, erneut verurteilt zu werden. Und selbst in den 1980er Jahren, nun lebt Andreas Müller in Frankreich, muss er Vorurteile der nicht-homosexuellen Menschen weiterhin ertragen. Seine Mutter hält hingegen zeitlebens zu ihm.

Durch die individuellen Beschreibungen ermöglichen es die Verfasser Michel Dufranne, Milorad Vicanović und Christian Lerolle dem Lesenden mit dem Protagonisten mitzufühlen. Empathie wird gestärkt und so leistet diese Graphic Novel Erinnerungsarbeit, die gerade vor dem Hintergrund der immer weniger noch lebenden Zeitzeug_innen wichtig ist.

Die allgemeine Einbindung der Arbeit erweist sich hingegen als problematisch, weil sie ein vermeintlich uniformes Bild der männlichen Homosexuellen in der NS-Zeit liefert. Die Graphic Novel erzähle „vom lange tabuisierten Schicksal der Homosexuellen zur Nazizeit“ – so heißt es im Klappentext –, verweist auf ein allgemeines Schicksal, was Schwule in der NS-Zeit ereilt habe. Diese Sichtweise wird mittlerweile von Wissenschaftler_innen differenziert. Wurde eine Weile, auch als Reaktion auf die Verfolgung der Homosexuellen in der BRD, eine schwule Erinnerungskultur etabliert, die homosexuelle Männer als Gruppe konstituierte, die wie die Jüd_innen verfolgt worden sei, so muss diese Sichtweise heute revidiert werden. Im von Burkhard Jellonnek und Rüdiger Lautmann herausgegebenem wissenschaftlichen Sammelband „Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle“ (2002) hält etwa John C. Fout fest: Im „Vergleich zum jüdischen Holocaust [hat es] trotz der Verfolgung, trotz der Konzentrationslager, trotz der Ermordung von Schwulen in der NS-Zeit nie eine totale Ausmerzung der Homosexualität und keine systematische Verfolgung der Schwulen gegeben“ (Fout 2002, S. 169). Auch James D. Steakley schließt sich hier – mit Bezug zu den renommierten Homosexuellen-Forschern Günter Grau und Rüdiger Lautmann – an. Er schreibt mit Verweis auf diese Wissenschaftler im selben Band:

„‚Die Gruppen, welche die Nazis als Staatsfeinde, aber nicht als rassisch minderwertig betrachteten, wurden nicht restlos zusammengetrieben, sondern nur selektiv gefangengenommen.‘ Dies unterscheide sich grundsätzlich von der NS-Judenverfolgung, die bis auf den letzten Mann, die letzte Frau, das letzte Kind durchgeführt werden sollte.“ (Steakley 2002, S. 66)

Anders als bei den Jüd_innen, die bis auf den letzten Menschen verfolgt wurden, war die Verfolgung männlicher Homosexueller nicht so stringent. Zwar wurde der Paragraph 175 durch die Nazis verschärft, aber er wurde eher angewandt, um unliebsame Gegner auszuschalten als alle Schwulen zu verfolgen. Und Fout weist nach, dass von den in Hamburg verurteilten homosexuellen Männern 50 Prozent NSDAP-Mitglieder waren. Und 90 Prozent derjenigen, „die sich im KZ, in Heilanstalten und Zuchthäusern befanden [...] stammten aus der Arbeiterschicht“ (Fout 2002, S. 172). Die übrigen 10 Prozent seien demnach Bürgerliche gewesen, die wegen Paragraph 175a – so genannter „Unzucht mit Minderjährigen“ – verurteilt wurden.

Die Forschung geht mittlerweile davon aus, dass in der NS-Zeit 50.000 Männer wegen Paragraph 175 verurteilt worden seien. Von ihnen wurden bis zu 10.000 (aktuelle genauere Schätzung sprechen von etwa 6.000) später als Rosa-Winkel-Häftlinge in ein Konzentrationslager eingeliefert – zwei Drittel überlebten es nicht. Diesen Opfern muss gedacht werden – den Überlebenden und Hinterbliebenen muss Entschädigung zukommen. Und dabei müssen auch die weitere Verfolgung von homosexuellen Männern in der BRD aufgearbeitet und die Opfer rehabilitiert und entschädigt werden.

Gleichzeitig ist die Mehrheit der Schwulen in der NS-Zeit von einer Mittäterschaft im Nazi-Staat nicht freizusprechen. Manfred Herzer hielt 1985 fest, dass

„die große Mehrheit [der Schwulen, Anm. HV] unter anderem wegen ihrer äußerst effektiven Tarnung genau wie die anderen deutschen Männer und Frauen zu den willigsten Untertanen und Nutznießern des Nazistaates gehörte.“ (zit. nach: Steakley 2002, S. 65)

Dieser Feststellung ist gerade in der schwulen Forschung und Diskussion in der Community Rechnung zu tragen. Sich stets als „kollektive Gruppe“ und zudem Opfer zu stilisieren und damit die Mittäterschaft von Schwulen im NS-Staat zu ignorieren, verfälscht die Tatsachen. Einen wissenschaftlich hervorragenden Ausgangspunkt für die Debatte bietet sich mit dem bereits 1977 veröffentlichten weithin reflektierten Beitrag „Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ an, der im von Rüdiger Lautmann herausgegebenem Suhrkamp-Sammelband „Seminar: Gesellschaft und Homosexualität“ veröffentlicht ist. Dieser kann etwa mit den hervorragenden Arbeiten von Steakley und Fout und von Claudia Schoppmann – zu lesbischen Frauen im NS-Staat – erweitert und differenziert werden. Interessant ist so etwa die Klassen-Frage: Warum waren im NS-Staat die meisten der wegen Paragraphen 175 und 175a verurteilten Männer aus der Arbeiter-Klasse und hat es sich bei dem Protagonisten Andreas Müller der Graphic Novel also um eine bürgerliche „Ausnahme“ gehandelt?

Gleichzeitig sollten sich Schwule ins Gedächtnis rufen, dass am ehesten an Shoa-Mahnmalen der ermordeten Homosexuellen gedacht werden kann. Denn unter den ermordeten 6.000.000 Jüd_innen waren – gemäß dem oft postulierten Proporz von 5 bis 10 Prozent Lesben und Schwulen in der Bevölkerung – viele ermordete Lesben und Schwule, die bislang in der schwulen Erinnerungskultur nicht thematisiert werden.

(Ich danke Salih Alexander Wolter und Ralf Buchterkirchen für zahlreiche gute thematische Diskussionen.)

Zusätzlich verwendete Literatur

Jellonnek, Burkhard / Lautmann, Rüdiger (Hg., 2002): Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn.

Lautmann, Rüdiger / Grikschat, Winfried / Schmidt, Egbert (1977): Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. In: Lautmann, Rüdiger (Hg.): Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Suhrkamp, Frankfurt a. M. S. 325-365.

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Die Rezension erscheint parallel auch in dem Oldenburger Magazin für Lesben und Schwule "Rosige Zeiten", Nr. 142. Online unter www.rosige-zeiten.net.

Michel Dufranne / Milorad Vicanović / Christian Lerolle 2012:
Rosa Winkel.
Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin.
ISBN: 3-941787-79-9.
144 Seiten. 18,00 Euro.
Zitathinweis: Heinz-Jürgen Voß: Schwule in der Nazi-Zeit. Erschienen in: Ökologie und Aktivismus. 22/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1069. Abgerufen am: 19. 04. 2024 19:29.

Zum Buch
Michel Dufranne / Milorad Vicanović / Christian Lerolle 2012:
Rosa Winkel.
Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin.
ISBN: 3-941787-79-9.
144 Seiten. 18,00 Euro.