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Rassistische Polizeipraxis im demokratischen Rahmen

Buchautor_innen
Francis Henry / Carol Tator
Buchtitel
Racial Profiling in Canada
Buchuntertitel
Challenging the myth of ‚a few bad apples’
Eine grundlegende Studie über den Diskurs um Racial Profiling in Kanada.

Carol Tator und Francis Henry untersuchen in ihrem 2006 vorgelegten bisher nicht in deutscher Sprache erschienen Buch polizeiliches Racial Profiling in Kanada. Anlass war die Veröffentlichung einer Serie von persönlichen Erlebnisberichten Schwarzer Menschen und People of Color mit der Praxis im Toronto Star – eine Zeitung mit langer Tradition in der Berichterstattung über soziale Fragen – zwischen 2002 und 2004. Die Serie provozierte einerseits unmittelbare und feindselige Reaktionen der Polizeiführung in Kanada, andererseits bedienten sich auch Politiker*innen und Journalist*innen anderer Zeitungen der gleichen rhetorischen Strategie, die für Tator und Henry das Zentrum ihrer Analyse bilden: der kategorischen Leugnung von Racial Profiling.

Clash of Frameworks – theoretische Grundlagen zur Erfassung der Praxis von Racial Profiling

Tator und Henry nutzen verschiedene Theorien der Sozialwissenschaften wie Cultural Studies, Kritische Kriminologie, Kritische Rassismustheorie, um sich ein Bild zu machen von den alltäglichen Diskursen, die mit Racial Profiling zusammenhängen. Die Perspektiven, die in der Untersuchung Anwendung finden (Whiteness Studies, Blackness Studies, Danger and Racialisation Theory, Discourse and Discursive Practices) ermöglichen die Aufdeckung des verflochtenen Netzes, das Racial Profiling trägt und das gewebt wird mit dem weißen Blick von Politiker*innen, Polizei und anderen Institutionen. Basierend auf ihren theoretischen Grundlagen adressieren Tator und Henry die Muster, die Gesellschaften konstruieren und prägen: Ideologie und Hegemonie, Macht und Machtlosigkeit, Dominanz und Widerstand, Repräsentanz und Unsichtbarkeit, Normalität und „Veranderung“. Sie verorten Rassismus und Racial Profiling in der machtvollen Zwangsläufigkeit der weißen Deutungshoheit: der Leugnung. Sie behalten dabei die dialektische Natur von Wissen, Wahrheit und „common sense“ stets im Blick und unterstreichen die Wichtigkeit der Analyse von Diskursen.

Schlussendlich bildet ihre Studie eine Auseinandersetzung mit den dominanten Narrativen der weißen Eliten, die von der Leugnung rassistischen polizeilichen Profilings handeln, und den counter narratives (Gegenerzählung), erzählt von Schwarzen Menschen und People of Colour, die laut und beständig die Erfahrungen mit rassistischen Praxen der Polizei in das öffentliche Bewusstsein zerren. Dies ermöglicht es den Autorinnen Konzepte wie Essenzialismus, Differenz, Identität, Subjektivität sowie gesellschaftlich tradierte Deutungen und Legenden einzubeziehen und damit die Dynamiken von Rassismus in demokratischen liberalen Gesellschaften wie Kanada abzubilden.

Das Netz von Racial Profiling

Wenn Tator und Henry über Racial Profiling schreiben, benutzen sie die Sprache der Eliten. Ihr Bewusstsein darüber informiert uns, dass Begriffe mit denen Rassismus gedeutet wird (Kultur, Wahrheit, Schwarz, weiß, Native, Immigrant*in) nicht neutral sind. Sie verweisen vielmehr selbst auf die soziale Stellung und Perspektive derjenigen, die sie benutzen. Bezeichnungen wie Minoritäten, People of Color oder rassialisierte Communities verwenden die Autorinnen in Bezug auf gesellschaftliche Gruppen, die aufgrund rassialisierter körperlicher Merkmale von diskriminierender Behandlung betroffen sind. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass ihr Status das Ergebnis eines Mangels an Macht, Privilegien und Prestige ist und nicht zu finden sei in (kultureller) Andersheit und Delinquenz – beides Phantasien gründend auf rassistischer Veranderung und Kriminalisierung.

Tator und Henry denken Racial Profiling im Bedeutungszusammenhang von strukturellem Rassismus. Damit weisen sie Racial Profiling einen Stellenwert zu, der alle sozialen Institutionen und Aspekte des täglichen Lebens umfasst, die mit Systemen der sozialen Kontrolle und ihrer Darstellung zusammenhängen. In ihrem Begriffsverständnis beziehen sie die verschiedenen Diskurse ein, die von Polizei, Regierungen, Medien und anderen Institutionen geführt werden, um rassistische Praxen zu rechtfertigen. Sie machen damit sichtbar, wie die Idee des Kriminellen hergestellt und diszipliniert wird und diese übereinstimmt mit dem „Wissenstand“ darüber, wer oder was als kriminell zu gelten habe und welche Intervention als angemessen erscheinen.

Racial Profiling definieren die Autorinnen als

„ [a] phenomenon in which certain criminal activities are attributed to a group in society on the basis of skin colour or ethnoracial background; as a result, individual members of that group are targeted. Their physical attributes are being used as markers for criminality. (…) [R]acial profiling is viewed as involving the same processes as racism in all its forms (individual, institutional and systemic).” (S. 211)

Tator und Henry verknüpfen Racial Profiling mit Praxen von Rassialisierung. Rassialisierung wird demnach als Ideologie gefiltert durch alltägliches Handeln, das wiederum mit Diskursen von Polizei, Sicherheitsbeamt*innen, Richter*innen, Journalist*innen, Verleger*innen, Lehrer*innen, Politiker*innen und Verwaltungsangestellten verwoben ist und sich daran orientiert. Dieser Prozess wird deutlich in der negativen Repräsentation von Schwarzen Menschen und People of Color, die als Problembevölkerung gezeigt werden. Dieses Image wird wiedergekäut in populärer Kultur: in Kinofilmen, Fernsehsendungen, in Print- und Newsstories, in Literatur und Werbung oder in Musik. Entsprechend und zwangsläufig ist Rassialisierung damit eingebettet in administrative Texte wie Gesetzen, Regierungsdokumenten und -erlassen und Parlamentsdebatten. Sie ist zudem eingebettet in Wahlen und Umfragen, deren Inhalte die dominanten kulturellen Auffassungen, Überzeugungen und Normen widerspiegeln. Kurzum: Rassialisierung ist offenkundig beteiligt an der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturierung von Gesellschaften, die durch ungleiche Verteilung von wichtigen Spiel- und Sprachräumen (Ressourcen) die Kraft der hegemonialen weißen Kultur aufrechterhält.

Tator und Henry weisen auf die kulturelle Dimension hin, die Racial Profiling umgibt. Häufig werde suggeriert, dass kulturelle Unterschiede einen Grund darstellten für die Häufigkeit krimineller Aktivität. Dann wird die gängige Dichotomie „unserer“ überlegenen, gegen „ihre“ unterlegenen kulturellen Werte und Normen bemüht. Viele Diskurse um kriminelle Handlungen von Minderheitengruppen basieren entsprechend auf essenzialisierten und stereotypen Denken. Das zentrale Thema solcher Diskurse sind die „Anderen“, die als minderwertig und gefährlich konstruiert werden. Sie finden sich in Institutionen der Wissens- und Meinungsbildung (Gesetze, Justiz, Bildung, Medien) und damit den berufsbezogenen Kulturen der Polizei- und Strafvollzugsbehörden.

Racial Profiling begreifen – dominante und oppositionelle Diskurse verstehen

Tator und Henry weisen auf die Schwierigkeit hin, Racial Profiling sozialwissenschaftlich zu erforschen. Insbesondere die Datenerhebung, die in der Regel unterschiedet zwischen Schwarzen und weißen Kriminalitätsraten und die eigentlich einen Beweis führen soll für die rassistische Praxis, festigt den Blick auf die vermeintliche Existenz „Schwarzer Kriminalität“. Denn durch das Wiederkäuen der Vorstellung „Schwarzer Kriminalität“ (oder „Ausländerkriminalität“) verschwindet die Perspektive auf das eigentliche Problem: der Rassialisierung von Kriminalität.

Aus diesem Grund wenden sich die Autorinnen einem anderen Zugang zur Darstellung von Racial Profiling zu: den Erzählungen Schwarzer Menschen und People of Color im Toronto Star, die von der Praxis berichten, sowie den darauf folgenden Reaktionen weißer Eliten – und damit dem oppositionellen und dominanten Diskurs zu Racial Profiling.

In Anlehnung an van Dijk (1993) ist Rassismus nicht nur als ein Symptom oder Signal für das Problem des Rassismus zu verstehen. Vielmehr produziert und reproduziert er rassistische Ideologien wesentlich. Diskurse vermitteln und tragen soziale Praxen, die wiederum die Formen von sozialer Organisation strukturieren (also Aufbau und Organisation von Gesellschaften mit den dazugehörenden (beispielsweise historischen, philosophischen, traditionellen, sozialen, kulturellen) Erklärungen). Dadurch werden die Individuen in den Gesellschaften als denkende, handelnde und fühlende Subjekte geprägt. Diskurse repräsentieren also Formen des Wissens. Durch sie erhält die Organisation von Gesellschaften bestimmte Bedeutungen, die wiederum unsere Welt erklären.

Dominante Diskurse beinhalten soziale Haltungen, Überzeugungen und Normen. Sie repräsentieren die Machtstrukturen einer Gesellschaft und sind insofern häufig politisiert. Polizeipräsident*innen, Politiker*innen, Anwält*innen, Richter*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen, Werbebranche und Wirtschaft spielen eine gewichtige Rolle dabei, Themen mit Bedeutung zu besetzen, sie als wichtig zu pushen oder als unwichtig zu ignorieren, kurzum: die Grenzen des legitimen Diskurs zu identifizieren. Da sie Macht besitzen, können sie Opponent*innen isolieren, marginalisieren und rassialisieren, indem sie sie als „Andere“ identifizieren. Sie können ihnen Label zuweisen, sie als soziale Abweichler*innen, Kriminelle, Immigrant*innen, Aliens, Radikale, Special Interest Groups oder Störenfriede präsentieren. Oppositionelle Diskurse werden auf diese Weise versucht zum Schweigen zu bringen. Ihre Positionen werden als wertlos oder tendenziös gebrandmarkt, ihre Akteur*innen als wenig vertrauensvoll und verlässlich. Machtvolle gesellschaftliche Akteur*innen sind also in der Lage, Diskurse zu nutzen um soziale Problem zu rahmen und somit die Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Gruppen als Ergebnis individueller, denn struktureller Schwäche darzustellen.

Tator und Henry listen eindrucksvoll die rhetorischen Strategien der kanadischen Polizei und Politik, in Reaktion auf die Erfahrungsberichte von Schwarzen Menschen und People of Color mit Racial Profiling im Toronto Star, auf und zeigen die (Be-)Deutungslinien rassialisierter dominanter Diskurse. People of Color und Schwarze Menschen werden als hypersensibel gegenüber Vorurteilen und Diskriminierung dargestellt, die formale Methodologie der Serie angegriffen, ein positives Verhältnis zwischen Polizei und Schwarzen Communities behauptet (wohlgemerkt belegen zahlreiche Studien und Selbstorganisationen das Gegenteil), Diskriminierung umgekehrt und Polizist*innen zu Opfern des Misstrauens der Communities erklärt, die Forderungen marginalisierter Gruppen nach Fairness und Gleichheit als Political Correctness lächerlich gemacht, diskreditiert und zurückgewiesen und Akteur*innen der Schwarzen und Aboriginal Communities rassialisiert über die „Sie“ gegen „Uns“ Polarität.

Darüber hinaus operieren die dominanten Diskurse mit den Vorstellungen von Blackness, die verlinkt sind beziehungsweise verlinkt werden mit „Rasse“, Kultur und Kriminalität. Diese Perzeption führt zur Legitimation weitreichender Überwachung, die ultimativ zu Racial Profiling überleitet. Der „Schwarze Mann“ wird aufgebaut als Verkörperung der ultimativen Bedrohung für Recht und Ordnung. Was folgt ist, dass sich die Überwachung direkt gegen ihn richten muss, um ihn beiderseits – geographisch und sozial – auf seinen Platz zu verweisen. In der öffentlichen Darstellung ist Kriminalität gewalttätig, männlich und schwarz. Diese Konstruktionen haben den „criminalblackman“ erschaffen. Weiße und andere ethnokulturelle Gruppen visualisieren Kriminalität im Gesicht des Schwarzen. Die virtuelle Abstinenz einer Diskussion über weiße Kriminalität suggeriert, dass Weißsein und Kriminalität einfach nicht zusammengehören.

Die veröffentlichten Berichte im Toronto Star und andere Studien bilden einen Gegendiskurs: Sie erzählen Geschichten diskriminierender polizeilicher Stopps, Durchsuchungen, verbaler Beleidigungen, Schikanen und Misshandlungen. Sie zeigen, dass Racial Profiling nicht die Praxis einer einzelnen Polizeibehörde darstellt, sondern ein System im Apparat selbst. Sie begreifen die Notwendigkeit Racial Profiling als Soziales Thema in Chroniken darzustellen. „We cannot manage what we cannot measure, nor can we deny what we have not documented.” (S. 152)

Sie zeigen die Abwesenheit institutionalisierter Rechenschaftspflicht, nicht nur innerhalb der Polizeibehörde, sondern auch innerhalb derjenigen Institutionen, die diese überwachen und kontrollieren sollen. Die frappierenden Darstellungen über rechtswidriges Verhalten der kanadischen Polizei im Kontakt mit Schwarzen Menschen und People of Color lassen zudem den Verdacht aufkommen, dass die Normen, Werte und Rituale von Polizeikultur(en) im Allgemeinen die gesetzwidrige polizeiliche Praxis des Racial Profiling fördern. (In Kanada ist Racial Profiling formal per Gesetz verboten).

Resümee

Tator und Henry gelingt es, Racial Profiling als Logik einer rassistisch strukturierten Gesellschaft darzustellen. Die aufgeheizte Debatte über Racial Profiling im Zuge der Veröffentlichung der Serie im Toronto Star verdeutlicht den tiefen Graben zwischen den dominanten weißen politischen, sozialen und kulturellen Systemen und denjenigen Communities, die Objekte dieser Systeme sind und deren marginalisierenden und diskriminierenden Effekte zu tragen haben. Unzählige Studien in Kanada belegen, dass Schwarze und Aboriginal Communities in einem nahezu permanenten Ausnahmezustand leben. Tator und Henry zeigen, dass Racial Profiling eine Manifestierung des „democratic racism“ (S. 186) darstellt, wo rassistische Diskriminierung verankert ist in liberalen Prinzipien und Werten wie die der Erhaltung des Allgemeinwohls und der Sozialen Ordnung. Die Sorge um die öffentliche Sicherheit verschmilzt mit Begriffen über die Bedrohung durch den „gefährlichen Anderen“.

Kanada präsentiert sich selbst als colour-blind Gesellschaft – ein allgemein gängiger Diskurs in demokratisch liberalen, aber rassialisierten Gesellschaften. Dieser Diskurs wird angeboten, um zu beweisen, dass Rassismus in bestimmten Handlungsabläufen (beispielsweise denen der Strafvollzugsbehörden) keine Rolle spielt. Das Ergebnis ist, dass polizeiliche Haltungen und Praxen nicht als basierend auf Rassialisierung verstanden werden, sondern umgedeutet bleiben als notwendig zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und zur Sicherstellung des Schutzes der Bürger*innen vor kriminellen Elementen.

Tator und Henry erkennen mit ihrer Analyse die Wichtigkeit der Stimmen Schwarzer Menschen und People of Color im Kampf gegen Rassismus. Sie stärken mit ihrem Buch die oppositionellen Diskurse in Kanada. Es ihnen gleich zu tun und die Lücke an systematischer Dokumentation von Berichten über Racial Profiling und anderen rassistisch diskriminierenden Praxen in Deutschland zu schließen, kann als Appell mitgenommen werden.

Zusätzlich verwendete Literatur

Teun Van Dijk 1993: Elite Discourse and Racism. Sage, Newbury Park

Francis Henry / Carol Tator 2004:
Racial Profiling in Canada. Challenging the myth of ‚a few bad apples’.
Toronto UP, Toronto.
ISBN: 0802086667.
304 Seiten. 25,20 Euro.
Zitathinweis: Johanna Mohrfeldt: Rassistische Polizeipraxis im demokratischen Rahmen. Erschienen in: Polizei im Rassismus. 21/ 2012. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1054. Abgerufen am: 24. 04. 2024 23:15.

Zum Buch
Francis Henry / Carol Tator 2004:
Racial Profiling in Canada. Challenging the myth of ‚a few bad apples’.
Toronto UP, Toronto.
ISBN: 0802086667.
304 Seiten. 25,20 Euro.