Mit Verstand gegen neoliberale Ideologie
- Buchautor_innen
- Ha-Joon Chang
- Buchtitel
- 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen
Ha-Joon Chang zeigt mit seiner gelungenen Kritik des Neoliberalismus, wie recht die Linke hat, ohne selbst ein Linker zu sein.
Manchmal ergeben sich Situationen, in denen man Bücher kauft und liest, die man eigentlich nicht kaufen und nicht lesen würde. So beispielsweise, wenn man in einer Kleinstadt in der norddeutschen Provinz feststellen muss, dass man seine für mehrere Tage eingeplante Lektüre einzupacken vergessen hat. Wenn dann der örtliche Buchladen politische Literatur nur sehr eingeschränkt und Angebote guter Verlage überhaupt nicht zu bieten hat, so ist man gezwungen, zum Untypischen zu greifen. Umso schöner ist es schließlich, wenn man seine Vorurteile gegenüber bestimmten Verlagen und gegenüber reißerischen Buchtiteln widerlegt sieht. Genau das ist bei dem hier zu besprechenden Buch der Fall: Was der Goldmann Verlag veröffentlicht hat, ist eine rundum gelungene und gut lesbare Kritik neoliberaler Ideologien –aus einer interessanten Perspektive geschrieben von Ha-Joon Chang, einem südkoreanischen Wirtschaftswissenschaftler, der in Cambridge (England) lehrt.
Das Buch ist in 23 Kapitel gegliedert. Jedes Kapitel widmet sich einem spezifischen Sachverhalt, der im neoliberal geprägten öffentlichen Diskurs als unhinterfragt hingenommen wird – und den es doch kritisch zu hinterfragen gilt. Es würde zu weit führen, hier die Aussagen aller 23 Kapitel genauer zu erläutern. Sie lassen sich allerdings gut zusammenfassen, indem man sie in thematische Gruppen gliedert:
- Chang zeigt auf, was Kapitalismus überhaupt ist (etwa Kapitel 1, 5, 19). Dabei räumt er mit zahlreichen (positiven) Vorurteilen auf, ohne aber eine grundsätzlich antikapitalistische Position im engeren Sinne einzunehmen.
- Chang widerlegt den Mythos, dass freie Märkte vorzuziehen oder überhaupt auch nur möglich sind – und auf der anderen Seite widerlegt er zugleich den Mythos, dass ein starker Sozialstaat oder die umfangreiche staatliche Regulierung der Märkte schädlich seien (etwa Kapitel 1, 2, 6, 13, 16, 20, 21, 22). Er hebt dabei wiederholt auf den Gegensatz von einzelbetrieblicher Logik und gesamtgesellschaftlicher Logik ab. Was für ein Unternehmen gut ist, ist noch lange nicht für die gesamte Volkswirtschaft gut. Erfreulicherweise bleibt Chang bei seinen Ausführungen zum Verhältnis von Markt und Staat nicht bei allgemeinen Schematisierungen stehen. Er geht vielmehr auch auf philosophische Fragen ein, etwa das neoliberale Menschenbild betreffend, das faktisch die Grundlage entsprechender politischer Diskurse bildet, ohne aber tatsächlich thematisiert und hinterfragt zu werden.
- Chang ist Entwicklungsökonom, folglich bilden auch entwicklungsökonomische und -politische Ausführungen einen gewissen Schwerpunkt (etwa Kapitel 3, 7, 11, 12, 15). Wer die Politik vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank der vergangenen Jahrzehnte verfolgt, wird zweierlei feststellen: Erstens, Entwicklung sollte durch die brutale Öffnung der betreffenden Volkswirtschaften – Stichwort Liberalisierung und Privatisierung – sowie durch eine ebenso radikale Rückführung staatlicher Aktivitäten erfolgen. Zweitens, diese Konzepte sind gescheitert. Chang macht an verschiedenen Stellen überzeugend deutlich, dass die heute als Beispiele gelungener wirtschaftlicher Entwicklung bekannten Länder erfolgreich waren, weil dort der Staat eine zentrale wirtschaftliche Rolle einnahm oder noch immer einnimmt. Nicht zuletzt auf Changs eigenes Herkunftsland Südkorea verweist er in diesem Zusammenhang mehrfach. Wirtschaftslenkung, und nicht Liberalisierung, war dort, wie auch anderswo, das Erfolgsrezept.
- Schließlich greift Chang auch wiederholt Themen auf, die je für sich stehen und sich nur indirekt einem größeren Themenkomplex zuordnen lassen. Ein Beispiel hierfür wäre etwa das Thema Bildungspolitik (Kapitel 17). Changs Ausführungen hierzu widersprechen fundamental dem, was seit einigen Jahren von links bis rechts bildungspolitisch angestrebt wird. Er zeigt nämlich, dass ein höherer Bildungsgrad in einer Gesellschaft keineswegs zu mehr wirtschaftlichem Erfolg führt. Es gibt keine Studie, die einen positiven Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und etwa Wirtschaftswachstum empirisch nachweisen konnte. Damit spricht Chang einer guten Bildungspolitik nicht Sinn und Zweck ab, wohl aber mahnt er zu einer realistischeren Betrachtung und einer Abkehr von fetischisierten Kennzahlen wie etwa der AkademikerInnen-Quote.
Changs Buch ist dreierlei: Es ist erstens und vor allem eine Kritik westlich-neoliberalen Denkens aus der Perspektive eines in Südkorea aufgewachsenen und in die USA übergesiedelten Ökonomen mit dem Schwerpunkt Entwicklungsökonomie. Es ist zweitens eine kluge Zusammenfassung kritischen Denkens, in der wieder und wieder die Bedeutung der Regulierung von Märkten, der staatlichen Steuerung der Wirtschaft sowie der Steuerung volkswirtschaftlicher Nachfrage thematisiert wird. Ein Denken übrigens, das weniger auf linken Überzeugungen als vielmehr auf gesundem Menschenverstand beruht – und gerade daher zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Drittens ist Changs Buch schließlich eine nicht minder kluge Analyse der Ursachen, die zur aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise geführt haben.
Nun wird man zugegebenermaßen einräumen müssen, dass mit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise die Kritik an Neoliberalismus und Kapitalismus durchaus eine gewisse Verbreitung gefunden hat – auch über linke Kreise hinaus. Und doch ist vieles, was sich auf dem Buch- und vor allem dem Zeitschriftenmarkt findet, entweder für Laien kaum verständlich oder inhaltlich deutlich unterkomplex. Chang gelingt diesbezüglich die Quadratur des Kreises: Seine Ausführungen sind gut lesbar, nicht zuletzt aufgrund der Einteilung in 23 in sich geschlossene Argumentationen. Zahlreiche klug gewählte Beispiele und Analogien erleichtern das Verständnis. Inhalte reduziert er auf das Wesentliche; der Komplexität des Gegenstands wird er dennoch gerecht: Er flechtet in seine Ausführungen Anmerkungen zu zahlreichen empirischen Studien und theoretischen Ansätzen ein. Er betrachtet über westliche Staaten hinaus auch die jüngere Wirtschaftsgeschichte insbesondere asiatischer und afrikanischer Staaten. Und wo nötig, stellt er in seinen wirtschaftshistorischen Ausführungen auch Entwicklungen zurückliegender Jahrhunderte dar.
Was Chang vorgelegt hat, ist fundierte populärwissenschaftliche Ökonomik im besten Sinne. Ein Kritikpunkt allerdings bleibt durchaus, der gewisse Vorurteile gegenüber manchem Verlag leider auch wieder bestätigt: Buchtitel und Inhaltsverzeichnis sind insofern verwirrend, als sie die Struktur von Changs englischsprachigem Original genau umkehren. Mag sein, dass dies verkaufssteigernd ist, inhaltlich verfälscht es aber den Inhalt des Buches. Der eigentliche und angemessene Titel lautete im Englischen „23 Things they don't tell you about capitalism“. Und genau das macht Chang, wie auch das Inhaltsverzeichnis zeigt: Er benennt „Dinge, die sie uns über den Kapitalismus nicht sagen“. Etwa, dass die „Waschmaschine (...) revolutionärer als das Internet“ war (Kapitel 4). Die im Inhaltsverzeichnis aufgeführten Aussagen sind tatsächlich auch jene, die Chang belegt – es sind eben gerade nicht jene „Lügen“, von denen die deutsche Übersetzung im Titel spricht. „Lügen“ widerlegt Chang zwar durchaus, aber nur in zweiter Linie. In erster Linie belegt er eigene neoliberalismus-kritische Aussagen. Das wird aber erst feststellen, wer das Buch tatsächlich liest. Abschrecken lassen sollte man sich von dieser seltsamen und verwirrenden Verkaufsstrategie des Verlages jedenfalls nicht.
23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen.
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
ISBN: 978-3-570-10060-8.
384 Seiten. 14,99 Euro.