Militär, Geschlecht, Desertion
- Buchautor_innen
- Ralf Buchterkirchen
- Buchtitel
- "… und wenn sie mich an die Wand stellen"
- Buchuntertitel
- Desertion, Wehrkraftzersetzung und «Kriegsverrat» von Soldaten in und aus Hannover 1933-1945
Ausgehend von Geschlechterforschung wird versucht, das Militärische zu verstehen und Desertion zu würdigen.
Desertion wird noch immer als Vergehen gegen den „eigenen Staat“ betrachtet, Menschen werden verfolgt, nur weil sie selbst leben und nicht auf andere Menschen schießen wollen. Deserteure gelten so den Einen als „Drückeberger“, als „Stachel“ – eben Menschen, die nicht mehr Gehorsam sein wollen oder können. Den Anderen gilt Desertion als Widerstand und ihnen gelten nur diejenigen Deserteure als des Gedenkens würdig, die sich politisch Gewalt und Töten widersetzten. Einfach das Töten nicht mehr sehen zu können oder überleben zu wollen, erscheint auch dieser zweiten Richtung nicht als ehrbar.
„Manneszucht“ und Ungehorsam
Erst im Jahr 2009 wurden bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts auch die letzten rehabilitiert, die auf Grund von Ungehorsam durch Militär- und zivile Gerichte des Dritten Reiches ermordet wurden – die sogenannten Kriegsverräter. 2009, das ist zeitlich spät und macht deutlich, warum erst heute ein solches Buch, wie das von Ralf Buchterkirchen, möglich wird und eine breite Aufmerksamkeit erfährt. Hinzu kommt ein neuer Blickwinkel, für den das Buch Buchterkirchens gewürdigt wird – er wendet sich aus Richtung der Männlichkeits- und Geschlechterforschung dem Thema Desertion zu. Ulrich Finckh – langjähriger Vorsitzender der Zentralstelle der Kriegsdienstverweigerer und damit einer der exponiertesten Unterstützer kriegsdienstverweigernder Initiativen – urteilt so in einer Besprechung im Friedensforum: „Wer nicht die umfangreichen Arbeiten von Wette, Wüllner, Messerschmidt und anderen studieren will, findet hier eine vorzügliche Einführung und Übersicht über die verbrecherische Tradition der Militärjustiz.“ (Finckh 2012) Auf dem Mädchenblog wird dagegen der Geschlechterblick vorangestellt:
„Ralf Buchterkirchen gelangt in seinem (...) Buch (...) auf einem ganz anderem Weg zum Thema Desertion als sonst üblich. Er wählt den Ausgangspunkt Männlichkeitsentwürfe und macht deutlich, wie anknüpfend an Drangsalieren von jungen Männern in Preußen, im Nationalsozialismus ‚Manneszucht‘ zentral gesetzt wurde.“ (Maedchenblog.blogsport.de 2012)
Beide Bewertungen sind vollständig korrekt: Buchterkirchen liefert eine gut strukturierte Arbeit, in der er, ausgehend von Betrachtungen zu „Manneszucht und Wehrwürdigkeit“ (S. 15), die konkreten Rahmenbedingungen beschreibt und diskutiert, mit denen Gehorsamsverweigerung in der Deutschen Wehrmacht verfolgt wurde. Er würdigt dabei die Orte der Verfolgung, die Straftatbestände die unterschieden wurden; er bespricht die Gerichtsverfahren, die oft – und nicht nur in den letzten Tagen des verbrecherischen deutschen Krieges – jede Verteidigungsmöglichkeit der Angeklagten ad absurdum führten. Und schließlich – und das ist einer der wichtigen Punkte – stellt er als „persönliche Autonomie“ die sehr individuellen „Motive für Ungehorsam“ (S. 55) vor. Nicht nur Angst, wie die Einen sagen, oder politischer Widerstand, wie die Anderen meinen, waren die Gründe für die Entscheidung zu desertieren, sondern die Sehnsucht nach Leben, die Erkenntnis, das Töten nicht mehr ertragen zu können, aber auch eine unbeabsichtigte zeitweise Abwesenheit, die ausgedehnt wurde, um der daraufhin drohenden Strafe zu entgehen. Dabei hatten Deserteure stets die Strafe im Blick: Denn in häufigen Appellen wurde in den militärischen Einheiten auch immer wieder darüber informiert, dass Desertion und Gehorsamsverweigerung hart geahndet, mit dem Tod bestraft werde. Dass so oft über die Folgen der Gehorsamsverweigerung informiert wurde, macht wiederum auch deutlich, dass die Befehlshaber wohl Angst davor hatten, dass Menschen sich dem Töten entziehen könnten. Überraschend deutlich wird aber auch, wie Männlichkeitsnormen und Verständnisse von Heldentum – genannt sei hier nur der Begriff der Manneszucht – normierend und disziplinierend auf Soldaten wirken sollen und auch effektiv wirken. In einem zweiten Teil wendet sich der Autor den konkreten biographischen Beschreibungen Hannoverscher Deserteure zu, bevor er mit der zögerlichen Aufarbeitung der Verbrechen der Militärjustiz in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik, schließt.
Handeln vor Ort
Und an diese Aktualität schließt der Autor auch durch politisches Handeln an: Das lahmende Gedenken und politische Streiten in Hannover waren die Ausgangspunkte für Ralf Buchterkirchen, dieses Buch zu schreiben und damit, aufbauend auf Vorarbeiten von Klaus Falk, die regionale Geschichte von Deserteuren, die aus Hannover kamen oder dort ums Leben kamen, aufzuarbeiten. Die regionale Geschichte ist auch daher so wichtig, weil Hannover, im Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Rüstungsstandorte und zentralen Orte der Militärgerichtsbarkeit, sich nur sehr zaghaft mit dieser Geschichte auseinandersetzt. Wo man immer mit der aktuellen Ersten Panzerdivision der Bundeswehr als Stadt den Schulterschluss sucht, fällt die Aufarbeitung der Vergangenheit und das Gedenken an die ermordeten Deserteure schwer. Ein Gedenken am Hinrichtungsort der Deserteure wurde so vom Kommandanten der Emmich-Cambrai-Kaserne in diesem Jahr verhindert – er gab vor, nichts von dieser Geschichte der Hinrichtungen auf dem Kasernengelände zu wissen, was Hiltraud Agternkamp, eine mittlerweile alte Hannoveranerin, die die Zeit erlebte, so aufregte, dass sie – obwohl sie so lange geschwiegen hatte – sich jetzt, 2012, in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung zu Wort meldete (Haz 2012). Und auch wenn der Bezirksbürgermeister des hannoverschen Stadtteils Südstadt/Bult, Lothar Pöllähne (SPD) das Buch von Ralf Buchterkirchen als „beispielhaft“ würdigt, da an „vielen Orten im Lande (…) nach wie vor, die Geschichte und Geschichten von vielfach immer noch unbekannten Deserteure[n]“ (SPD 2012) aufgearbeitet werden sollten, setzte auch er nicht durch, dass es in Hannover einen Ort des Erinnerns an Deserteure und der politischen Auseinandersetzung mit Desertion gibt. In Hannover läuft es nun darauf hinaus, dass das Gedenken auf einen Friedhof abgeschoben wird – ein Friedhof ist kein Ort der Auseinandersetzung. Aber auch in anderen Orten sieht es kaum anders aus: Erst in wenigen Städten gibt es Denkmale für Deserteure und finden Debatten über ihre Anerkennung statt – eine Rehabilitation, die entsprechend auch in die Städte getragen würde und nicht klammheimlich stattfindet. Dazu leistet das Buch einen wichtigen Beitrag und stellt auch abschließend die Frage, was Verweigerung von Gehorsam für eine moderne zivil organisierte Gesellschaft bedeuten kann und muss. Wie gehen wir jetzt mit denen um, die sich als Soldaten und Soldatinnen dem Krieg verweigern? Da wo aktuell Individualisierung als wichtiges Ziel von Demokratie beschrieben wird, reicht es dennoch nicht dazu aus, Desertion straffrei zu stellen und wirksam als ein Mittel anzuerkennen, sich dem Töten von Menschen zu widersetzen, also selbst menschlich zu sein. Als solches Mittel wird Desertion nur anerkannt und befördert, wenn Soldat_innen der „gegnerischen Seite“ desertieren – so unterstützte die Europäische Union dies in den Jugoslawien-Kriegen. Doch ein Recht auf Desertion gibt es noch nicht – und dafür ist viel zu tun.
Zusätzlich verwendete Literatur
Finckh, Ulrich 2012: Buchbesprechung „…und wenn sie mich an die Wand stellen“. Online hier
Mädchenblog 2012: Deserteure, Wehrkraftzersetzer und Männlichkeiten. Online hier
Haz 2012: Die Geschichte vom Matrosen Ritter. Online hier
SPD-Ortsverein Südtstadt-Bult 2012: Vergessene Morde. Online hier
"… und wenn sie mich an die Wand stellen". Desertion, Wehrkraftzersetzung und «Kriegsverrat» von Soldaten in und aus Hannover 1933-1945.
Verlag Arbeitskreis Regionalgeschichte e. V., Neustadt.
ISBN: 978-3-930726-16-5.
178 Seiten. 13,90 Euro.