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Meta-Legitimierung

Buchautor_innen
Armin Nassehi
Buchtitel
Die letzte Stunde der Wahrheit
Buchuntertitel
Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss
Der Soziologe hält die politische Unterscheidung von links und rechts für unterkomplex – und vereinfacht dabei selbst.

Die Behauptung, die politische Unterscheidung in rechts und links habe jede Bedeutung verloren, ist wahrscheinlich so alt wie die Etablierung dieser Differenz durch die parlamentarische Sitzordnung im 19. Jahrhundert. Seit dem Ende des so genannten real existierenden Sozialismus hat sie eine Hochkonjunktur erlebt. Der Soziologe Armin Nassehi hat ihr nun mit dieser Veröffentlichung eine neue Variante dieser Ent-Differenzierung hinzugefügt.

Häufig handelt es sich bei der Feststellung, dass links und rechts kaum oder gar nicht mehr unterscheidbar seien, um Legitimationsstrategien politischer Akteurinnen und Akteure selbst. Vermeintlich neutrale, pragmatische und technokratische Herangehensweisen an politische Probleme sollen durch diese Ent-Differenzierung plausibel erscheinen. Bei Nassehi allerdings, Professor in München und Herausgeber der Zeitschrift „Kursbuch“, ist es etwas komplizierter. Er spricht nicht als Politikberater, sondern als Sozialwissenschaftler. Als solcher sieht Nassehi die Unterschiede zwischen rechten und linken politischen Strategien und Praktiken durchaus. Als Ausgangspunkte für zeitdiagnostische Aussagen und für Gesellschaftsanalysen hält er sie allerdings für unzureichend. Kurz gefasst lautet sein Argument, die Welt sei dermaßen komplex geworden, dass die gängigen – rechten, bürgerlich-konservativen und linken – Erklärungen zu kurz greifen. Es sei zwar Konsens, dass Gesellschaft funktional differenziert sei. Eine vergleichbare Einigkeit, die die unterschiedlichen soziologischen Ansätze verbindet, existiere hinsichtlich von Komplexität nicht. Hier gebe es keine Beschreibungstradition.

Komplexität als Herausforderung

Vor dem Hintergrund der Systemtheorie Niklas Luhmanns macht Nassehi sich also an die Beobachtung von komplexen Sachverhalten. Und grenzt sich zunächst von denen ab, die er als linke und rechte ausmacht: Linke Beschreibungen würden sich stets auf die „Imagination einer kollektiven Einheit“ (S. 87, Herv. i. O.) beziehen, bürgerlich-konservative auf eine „(moralisch wertvolle) Einsicht“ (ebd.). Nassehi spielt diese Positionen an zwei paradigmatischen Beispielen durch: je einem Zeitschriftenartikel des linken Politologen Ulrich Brand und des konservativen Publizisten Meinhard Miegel. In beiden geht es um Kapitalismuskritik und wie sie begründet sein sollte. Gemeinsam sei ihnen, dass sie „die Erreichbarkeit von Gesellschaft durch zentrale Eingriffe überschätzen“ (S. 135). Schon die Metapher des Umbaus, die Brands Text (und Weltbild) durchziehe, unterschätze beispielsweise Komplexität, stelle sich die Welt aus einem Guss und mit Hebeln zu ihrer Veränderung vor.

Dass Komplexität direkte Kausalbeziehungen unwahrscheinlicher macht, darin kann man Nassehi zunächst durchaus zustimmen. Gemeint ist damit erstens, dass in gesellschaftlichen Teilbereichen sehr verschiedene Logiken walten: Anerkennungs- und Aufstiegskriterien sind im Sport sicherlich andere als im Kulturbereich, moralische Urteile müssen mit rechtlichen nichts zu tun haben, und was sich ökonomisch rechnet, ist keinesfalls per se Maßstab für das politisch Richtige. Zweitens hat jedes beliebige Ereignis dadurch auch unterschiedliche Bedeutungen und unüberschaubare Effekte. Dass Nassehi sich diese Komplexität genauer ansieht und analytisch zu fassen versucht, macht das Buch erst einmal lesenswert. Die unsichtbaren Strukturen und sozialen Gemengelagen, die das alltägliche Leben praktisch bestimmen, beschreibt er nicht ganz unplausibel in technologischen Metaphern.

Die analoge Angesichtsbeziehung ist dabei unterlegt von digitalen Ursachen und Gründen, die nur postum rekonstruiert werden können. Analog und digital werden hier letztlich als Metaphern benutzt. Es geht nicht (nur) um Computertechnologie, sondern um komplexe Ursache-Wirkungsverhältnisse ganz allgemein (digital), die zwecks Handhabbarkeit zu überschaubaren Situationen vereinfacht werden (analog). Diese „soziale Digitalisierung“ (S. 183) beschreibt er als Auseinanderklaffen zwischen dem, „was man in der Gesellschaft sehen kann, und der komplexen Gemengelage der Gesellschaft selbst“ (ebd.). Letztlich ist dies eine Aktualisierung des Problems, mit dem die Soziologie wie auch die politische Philosophie sich seit Generationen herumschlägt. Die Digitalisierungsmetapher lässt allerdings viele der früheren Versuche, dieses Problems habhaft zu werden, wie vereinfachende Modelle erscheinen. Statistische Gruppen würden dabei mit sozialen Gruppen verwechselt, Systeme mit Kollektivität, und dementsprechend löse häufig „analoge Erregungsbereitschaft digitale Analysebereitschaft“ (S. 188) ab.

Er nennt hier den „politischen Feminismus“ (S. 186) als Beispiel, dessen Ringen um eine nicht ausschließende Sprache Nassehi zufolge immer scheitern muss. Weil es einfach zu viele Ursachen für zur viele Ausschlüsse gebe. Empörung statt angemessener Analyse unterstellt er schließlich auch der (rechten) moralischen Haltung und dem (linken) transformatorischen Anspruch auf den Umbau der Gesellschaft. Sie wirken ebenso veraltet wie verfehlt – Nassehi nennt sie oft und gerne „naiv“ (S. 146) und natürlich „unterkomplex“. Nassehi ist die Vorstellung, man könne in gesellschaftliche Praxis und Strukturen eingreifen, dermaßen zuwider, dass er sich zu der gleichermaßen normativen wie pathetischen Behauptung hinreißen lässt, man „muss Soziologie betreiben, gerade um vor solchen Umbaufantasien zu warnen“ (S. 90).

Blinde Flecken

Allerdings ist das, was Nassehi als seine „realistische Diagnose“ (S. 156) ausgibt, die all den anderen Beschreibungen überlegen sei, weil sie Komplexität nicht ausklammere, selbst höchst suggestiv. Sie unterstellt nämlich, dass jeder Versuch, die soziale Welt zu gestalten, davon ausgehen muss, sie sei ein einheitliches Gebilde. Als würden darin Ursache und Wirkung ohne Störung und Eigendynamik aufeinander folgen, und als könne man „zentrale Eingriffe“ (S. 135) vornehmen. Diese pauschal als „latent autoritär“ (S. 286) zu brandmarken, wie Nassehi es tut, ist dann ein Leichtes. In Wirklichkeit allerdings geht kaum jemand noch von dieser Annahme aus (auch Brand und Miegel letztlich nicht). Längst durchziehen Dezentralität und Multiperspektivität linke Sozialtheorie: Selbst Klassentheorien gehen heute nur noch selten von einem zentralen Antagonismus und einer daraus abgeleiteten Forschungsperspektive aus. Eingriffe in die soziale Welt und die Hebel, um sie vorzunehmen, müssen auch theoretisch von jener Einheitlichkeit gar nicht ausgehen. Nur weil es nicht mehr die eine Kausalität und nicht mehr den einen Ort der Repräsentation gibt, heißt das ja nicht, dass es überhaupt keine Effekte bestimmter Praxis gibt. So gesehen sind es vor allem Nassehis eigene Prämissen, die die Komplexität als unbeeinflussbar erscheinen lassen.

Die Praxiseffekte interessieren Nassehi nämlich wenig. Als Systemtheoretiker ist Praxis ihm bloß ein Funktionsbegriff, der routinisierte Abläufe beschreibt, in denen das Tun sich „durch Wiederholung und Bestätigung“ (S. 180) seiner selbst versichert. Auch an Marx interessiert ihn deshalb nur der Theoretiker, der aufgedeckt hat, was gewissermaßen „hinter dem Rücken der Akteure funktioniert“ (S. 148). Demgegenüber hat sich – nicht nur marxistische – Praxistheorie aber mit dem beschäftigt, was Nassehi hier ausblendet: Dass Praktiken die Eigenlogiken der gesellschaftlichen Teilbereiche – nennen wir sie nun Systeme, Felder oder sonstwie – auch verschieben, verändern und durchkreuzen können.

Theoretisch lässt er dies nicht zu und plädiert stattdessen für genauere Beobachtung, für eine Metabeschreibung. Die letzte Stunde der Wahrheit, die der Titel des Buches verkündet, ist demnach die „erste Stunde, in der Wahrheitsansprüche als Wahrheitsansprüche sichtbar werden – und damit als Perspektivität“ (S. 295). Dass diese Stunde angebrochen ist, darauf hat so mancher poststrukturalistische und postkolonialistische Ansatz bekanntermaßen schon vor dreißig oder vierzig Jahren hingewiesen. Nassehi jedenfalls erhofft sich dadurch eine bessere Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Logiken (der Systeme). Diese „Übersetzungskonflikte“ (S. 256) möchte er mittels „Perspektivendifferenz“ (S. 256) ausgleichen: Die „unterschiedlichen Logiken einer modernen Gesellschaft“ (S. 258) sollen dabei für sich betrachtet und dann trotz ihrer Disparatheit ineinander übersetzt werden. (Dass er in jeder siebten Anmerkung, also in 25 von 177, mindestens einen Text von sich selbst zitiert – eine Quote, auf die niemand sonst in seinem Literaturverzeichnis auch nur annähernd kommt – und aus dem maßgeblichen Übersetzungstheoretiker Boris Buden eine „Barbara Buden“ macht, spricht nebenbei bemerkt nicht gerade für Ernsthaftigkeit und Vielfalt, mit der diese Perspektivendifferenz angegangen wird.)

Aufruf zur Gleichgültigkeit

Politisch schließlich muss die Behauptung der Irrelevanz von rechts und links als Interpretationsmuster selbst kritisiert werden. Auch wenn die soziale Welt eine durch und durch widersprüchliche ist, ihre Beschreibung wirkt – und da würde Nassehi wohl nicht widersprechen – auf ihre Konstituierung ein. Ob soziale Ungleichheit als armuts- oder wettbewerbsfördernd beschrieben oder ob die Moderne als Emanzipationsprojekt oder als Komplexitätsdschungel dargestellt wird, führt zu unterschiedlichen Effekten. Das gilt letztlich auch für Nassehis Perspektive, gegen die daher nicht nur soziologisch, sondern auch politisch Stellung bezogen werden muss. Denn sein Plädoyer für Analyse statt Erregung mündet schließlich in einem Aufruf zur politischen Gleichgültigkeit. „Man muss sich damit zufrieden geben“, schreibt der Soziologe, „dass in einer Gesellschaft, in der es unterschiedliche Formen von Ordnung und Unordnung nebeneinander gibt, die wechselseitige Indifferenz auch eine Lösung sein kann“ (S. 134). Man könnte Nassehis Credo also in Abwandlung einer These des wahrscheinlich wichtigsten Soziologen des 19. Jahrhunderts wie folgt formulieren: Die Soziologen haben die Welt bisher nur unterschiedlich interpretiert (nämlich von links oder von rechts), es kommt aber darauf an, sie besser zu beschreiben. So aber kann nur denken, wer das Privileg besitzt, sich selbst in der besten aller möglichen Welten zu wähnen.

Armin Nassehi 2015:
Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss.
Murmann Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-86774-377-8.
344 Seiten. 20,00 Euro.
Zitathinweis: Jens Kastner: Meta-Legitimierung. Erschienen in: Medien und Gegenöffentlichkeit. 41/ 2016. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1362. Abgerufen am: 19. 04. 2024 20:05.

Zur Rezension
Zum Buch
Armin Nassehi 2015:
Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss.
Murmann Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-86774-377-8.
344 Seiten. 20,00 Euro.