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Marx' Gespenster

Der übliche schwarze Suhrkamp-Einband, Titel in violetter Druckschrift, kein Bild.
Buchautor_innen
Jacques Derrida
Buchtitel
Marx Gespenster
Buchuntertitel
Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale

Jacques Derridas Auseinandersetzung mit der Theorie von Karl Marx und ihrem Erbe ist einer der meistdiskutierten philosophischen Texte der Gegenwart.

Was macht Philosophie eigentlich, wenn sie gerade nicht prosaisch die Welt interpretiert? Schreibt sie dann Verse? Wie steht es, davon abgesehen, mit der Philosophie der Philosophie – und, wenn es hier eine Pendelbewegung gibt – in welche Richtung schlägt es heute? Was haben Shakespeare und Marx gemeinsam? Ist es ausreichend, wenn die Philosophie manchmal nur kluge Fragen stellt?

Das Buch des französischen Philosophen Jacques Derrida, welches zumindest im angelsächsischen Sprachraum für Wirbel sorgte - mit dem etwas sperrigen Titel Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale - ist das Ergebnis von Vorträgen 1993 in den USA, hat nun doch noch für Diskussionen gesorgt.

„Ein Gespenst geht um in Europa...“, heißt es im Kommunistischen Manifest. Derrida verweist zunächst auf Marx bekannte Vorliebe für Shakespeare, auf Hamlet und Timon von Athen, dessen Metaphern auch Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte und die Deutsche Ideologie bevölkern, liefern dafür Zeugnis. Nur ein Gespenst? Oder gar eine ganze Reihe? Selbst Franz Borkenau, der Herausgeber einer Fischer-Taschenbuchausgabe Marxscher Texte von 1956, die eine ganze Generation der 68er beeinflußt haben dürfte, bemerkte im Vorwort: „Zwar alle eben dargestellten Ideen spukten in Marx‘ Jugend bereits irgendwie in den Köpfen“. Irgendwie? Die Wendungen in Marx‘ Leben und Werk, die er im Großen und Ganzen richtig beschreibt haben allerdings nicht zu einer Aufhebung der „Verelendungstheorie“ geführt, wie Borkenau in der typischen Wirtschaftswunder-Euphorie jener Zeit verkündet. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes waren es sogenannte fränkische Zusammenbruchstheorien die Konjunktur hatten.

„Die kritische Durchdringung der warenförmigen Fetisch-Konstitution ist erst in Ansätzen geleistet, und ein weiteres Fortschreiten auf diesem Weg bleibt notwendig für den Übergang zu einer selbsreflexiven Gesellschaftlichkeit, die gewissermaßen die negative Aneignung der negativen Vergesellschaftung voraussetzt“ (Kurz/ Lohhoff/ Trenkle: Krisis, 1993).

Übergang? Selbstreflexive Gesellschaftlichkeit? Sicher, das Zitat ist dem Krisis-Vorwort entnommen, aber wovon zum Teufel reden die eigentlich, von einem „Hopfenblodersalat“ (eine regionale Spezialität, gegen die sonst nichts spricht)? Der Spuk ist keineswegs vorbei.

„Jetzt, wo Marx tot ist, scheinen manche zu sagen, und wo vor allem der Marxismus in voller Auflösung begriffen ist, wird man sich endlich ungestört mit Marx beschäftigen können – ungestört von den Marxisten und, warum nicht, von Marx selbst, das heißt von einem Gespenst, das fortfährt zu sprechen.“

Aber wie? Heiter soll es vor allem geschehen, objektiv und ohne Vorurteile, nach den akademischen Regeln, wie ein großer Philosoph es verdient eben.

„Der Marxismus ist immer noch notwendig, doch nur unter der Voraussetzung, dass man ihn verändert und an neue Bedingungen und an ein anderes Denken des Ideologischen anpaßt, dass man ihn dazu bewegt, die neue Artikulation der technisch-ökonomischen Kausalitäten und der religiösen Phantome zu analysieren, die Abhängigkeit des Juridischen im Dienst der sozialökonomischen Mächte und Staaten, die selbst niemals vollkommen unabhängig sind im Hinblick auf das Kapital. Doch das Kapital und den Kapitalismus gibt es nicht mehr, hat es nie gegeben; es gab immer nur Kapitalismen - staatliche oder private, reale oder symbolische, immer im Bund mit gespenstischen Kräften -, Kapitalisierungen eher, deren Antagonismen irreduzibel sind.“

Derrida nimmt sich zunächst Fukuyamas Ende der Geschichte vor, ein Bestseller nach dem Ende des Kalten Krieges und vollkommen vom angeblichen Sieg der liberalen Demokratie durchdrungen. Er stellt richtige Fragen: Wie kann man die Wirtschaftskriege ignorieren, die heute zwischen den Blöcken als auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft toben? Wie den Gatt-Konflikt verharmlosen, die darin enthaltenen komplexen Strategien des Protektionismus (eine weise Voraussicht, wie diese immer noch bestehenden Differenzen bestätigen), ganz zu schweigen von dem Wirtschaftskrieg mit Japan, zu dem sich wohl in nicht allzu ferner Zukunft der mit China gesellen wird? Dazu das Phänomen der Pauperisierung und der Grausamkeit der Auslandsverschuldung.

„Mein Untertitel, 'Die neue Internationale', bezieht sich auf eine tiefgreifende, auf lange Dauer berechnete Veränderung des internationalen Rechts, seiner Begriffe und seines Interventionsfeldes.“ Derrida versteht natürlich der Idee des Juridischen zu mißtrauen: Der faktischen Überwachung dieser durch mächtige Nationalstaaten, der Grenzen eines Diskurs über Menschenrechte, der unangemessen, manchmal scheinheilig, auf jeden Fall formal und in sich selbst inkonsequent bleibt. Hier setzt der Vortrag, der nachträglich durch teilweise lange erklärende Fußnoten ergänzt wurde, dazu an, einen bestimmten Geist des Marxismus zu privilegieren. Denjenigen, der auch vor der schonungslosen Kritik vor sich selbst nicht zurück schreckt. Die „magischen Grundrisse“ (Renato Curcio, Mitbegründer der Roten Brigaden) von Marx - in der amerikanischen Ausgabe der semiotext(e) von 1980 (Columbia University, New York) werden daraus sogar unbeabsichtigt „Grundisse“ - und dessen widersprüchliches Erbe, welches phantasievolle Autoren auch schon bewogen hat, nach den verschwunden Seiten der Grundrisse zu suchen, welche den Begriff des variablen Kapitals genauer erklären und in den blauen Bänden nicht enthalten sein sollen. Es spuckt also gewaltig! Und zwar schon in den Übersetzungen, Derrida verweist auf einige Doppeldeutigkeiten von Marx in der französischen Übertragung, aber auch bei Shakespeare, man vergleiche nur die Auseinandersetzungen des Herrn Wieland mit der von Warburton herausgegebenen Works of Shakespeare. Dass in Hamlets Staate Dänemark etwas faul war, ist ja allgemein bekannt, vor allem Ödipus läßt immer wieder grüßen (der junge Dänenprinz, der sich nie entscheiden konnte, selbst dann nicht, als er den Mörder seines eigenen Vaters umbringen wollte). Timon von Athen war dagegen konsequenter: Bei einem Senator tief verschuldet, nach unzähligen Gelagen mit schönen Frauen und falschen Freunden, von denen keiner bereit ist ihm Geld zu borgen und von heuchlerischen Bediensteten umgeben, verachtet er die Menschen und wiegelt die Sklaven auf: „Stehlt ihr Sklaven; euere ehrsamen Herren sind nur Diebe mit längeren Händen, und stehen unter dem Schutz der Gesetze.“ (nach der Wieland-Übersetzung, nur die Rechtschreibung wurde aktualisiert. Zürich, 1993.) Am Ende bringt er sich um. Natürlich geht es hier um mehr, dass Leben eben..., wie die bürgerliche Platitüde verkündet, ein Mischmasch aus Tragödie und Possenspiel, Farcen ohne Plan und ohne Verbindung der Szenen.

Die neue Internationale

Derrida, in Algerien geboren und in Frankreich aufgewachsen, hat nicht nur sein Leben lang genial mit den Sprachen gespielt, er hat sie auch hinterfragt. Sein häufig freies assoziatives springen über die Schnittpunkte von Politik, Philosophie, Literatur und Psychoanalyse, sind seine unverwechselbaren Markenzeichen – sein Logo.

„Was hier mit dem Namen einer neuen Internationale bezeichnet wird, ist das, was an die Freundschaft einer Allianz ohne Institution zwischen jenen gemahnt, die, auch wenn sie jetzt nicht mehr an die marxistisch-sozialistische Internationale, an die Diktatur des Proletariats, an die messianisch-eschatologische Rolle einer universalen Vereinigung der Proletarier aller Länder glauben oder nie daran geglaubt haben, sich trotzdem weiterhin von wenigstens einem der Geister Marx‘ oder des Marxismus inspirieren lassen (sie wissen jetzt, dass es mehr als einen davon gibt), und zwar um sich in einer neuartigen, konkreten, realen Weise zu verbünden, auch wenn diese Allianz nicht mehr die Gestalt der Partei oder der Arbeiter-Internationale annimmt, sondern die eine Art Gegen-Verschwörung in der (theoretischen und praktischen) Kritik des Zustands des internationalen Rechts, der Begriffe von Staat und Nation usw.: um diese Kritik zu erneuern und um sie vor allem zu radikalisieren.“

Möglicherweise ein frühes Statement einer anderen Globalisierung, der von unten. Im Gespräch mit dem afro-amerikanischen Jazzmusiker Ornette Colemam für das französische Musikmagazin Les Inrockuptiples (deutsch: Spex, Okt. 97), welches sehr persönlich gehalten ist – völlig atypisch für einen Philosophen übrigens – geben beide einen kleinen Einblick in ihre Biographie. Und manchmal ist nicht einmal klar, wer da gerade was erzählt, so überschneiden sich die Lebensläufe – des schwarzen Amerikaners, und des jüdischen Franzosen. Durchkreuzt eine unbekannte Muttersprache die Gedankenproduktion?

„Das ist ein Rätsel für mich. Ich kann es nicht wissen. Ich weiß, dass etwas durch mich hindurch spricht, eine Sprache, die ich nicht verstehe und manchmal mehr oder weniger einfach in meine 'Sprache' übersetze. (…) Wir wissen oder glauben zu wissen, was wir sind, durch die Geschichten die man uns erzählt.“

Und erzählt wird bekanntlich viel! Die englische Band Scritti Politti hat 1982 auf der LP Songs to Remember ein Stück für den Professor geschrieben, und wer kann das von sich behaupten?

Von Marx zu sprechen heißt also von seinem Erbe zu reden, seinen Wiedergänger, dem Testament, den oft schwer zu entschlüsselnden Verfügungen einer Vaterfigur. Hier kommt, wie so oft bei Derrida, König Ödipus ins Spiel (am schönsten in Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, Berlin 1987 und am deutlichsten in Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse!, Frankfurt am Main 1998). Immer die Väter, deren Geister ewig neue Gespenster zeugen! Von Freud über C.G. Jung, Otto Rank, schließlich die Schule um Jacques Lacan, der wie viele vor ihm, wegen seinen unkonventionellen Methoden aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde. „Was soll Lacan nicht alles gesagt haben!“ Mit diesem Ausruf beginnt ein Vortrag Derridas von 1990 eines Kolloquium am Collège International de Philosophie. Die kleinkarierten Umstände dieses Kolloquiums, wie auch zur Frage, wer bei wem in Analyse gegangen sei, ob man ohne Lehranalyse überhaupt über die Psychoanalyse sprechen könne, sind in einem seltsamen Nachwort von Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! festgehalten. Man kann allerdings davon ausgehen, dass Derrida wußte wovon er sprach, seine Frau war Analytikerin. Die literarische Vorlage könnte Anthony Burgess Erlöse uns, Lynx (1982) geliefert haben. Das zwanzigste Jahrhundert auf den Bildschirmen des einundzwanzigsten, einer Biographie Freuds mitsamt den Fraktionierungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Jung / Adler), ein Musical über Leo Trotzki und eine Hommage an Orson Welles. Doch zurück zu Marx:

„Im Verlauf derselben Jagd, derselben Verfolgung, derselben infernalischen Hatz. Revolution gegen die Revolution, wie es die Figur aus Les Misérables (des Roman von Victor Hugo über die französische Revolution von 1848, A.Q.) nahelegt (...) Und es gibt in dieser Tragödie, in den Leichengruben aller Lager, so viele Gespenster, dass niemals jemand sicher sein kann, auf ein und derselben Seite zu stehen. Es ist besser, man weiß das.“

Kommen wir zum Stühle- und Tische rückenden Marx im Kapital. Der Waren-Tisch, der störrische Hund, der Holzkopf, „ein sehr vertracktes Ding“.

„Zum Beispiel – und hier betritt der Tisch die Bühne – bleibt das Holz, wenn man einen Tisch daraus macht, immer noch Holz: Der Tisch ist dann 'ein ordinäres sinnliches Ding'. Ganz anderes geschieht, wenn der Tisch zur Ware wird, wenn der Vorhang über einem Markt sich öffnet und der Tisch Schauspieler und gespielte Figur in einem wird, wenn der Waren-Tisch, sagt Marx, 'auftritt' und zu gehen beginnt und sich als Waren-Wert geltend macht. Coup de théâtre: Das ordinäre sinnliche Ding 'verwandelt sich', es wird jemand, es nimmt Gestalt an. Diese hölzerne und starrköpfige Dichte verwandelt sich in ein übernatürliches Ding, in ein sinnliches übersinnliches Ding, sinnlich, aber unsinnlich, sinnlich übersinnlich: 'Aber sobald es als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding'.“

Diese hier skizzierten Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert ist nicht nur problematisch, wenn sie auf den Wert der Ware Arbeitskraft selbst übertragen wird, hier wird das Wertgesetz von Adam Smith und Ricardo einfach übernommen. Das hatte schon Ahlrich Meyer in der Autonomie/Neue Folge # 14 von 1985 erkannt: „Die Werttheorie, angewendet auf die Arbeitskraft, definiert die Reproduktion nur als Bewegung im Kapital und nicht mehr als bewegende, von unten her antagonistische Seite.“ Und: Das Kapital ist keine Revolutionstheorie, sondern allenfalls eine schonungslose Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, in der die Exploitation der Arbeitskraft dargestellt, in der aber die subjektive Seite – das Proletariat als revolutionäres Subjekt – nur als Chiffre vorhanden ist. Meyer schlägt stattdessen eine an E.P. Thompson angelehnte „moralische Ökonomie der Armen“ vor. Dieser Artikel ist damals zwar in der Linken diskutiert worden, allerdings mit schlechten Ergebnissen – und ohne den Niedergang der Autonomie als Projekt aufzuhalten.

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Die Rezension erschien zuerst im Februar 2006 auf stattweb.de (Update: kritisch-lesen.de, sfr, 03/2011)

Jacques Derrida 2004:
Marx Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-29259-4.
300 Seiten. 10,00 Euro.
Zitathinweis: Adi Quarti: Marx' Gespenster. Erschienen in: . URL: https://kritisch-lesen.de/s/p5MVm. Abgerufen am: 21. 11. 2024 16:56.

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Jacques Derrida 2004:
Marx Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-29259-4.
300 Seiten. 10,00 Euro.