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Lange Linien der Geschichte

Buchautor_innen
Fritz Fischer
Buchtitel
Griff nach der Weltmacht
Buchuntertitel
Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18

Die Lektüre dieser Klassiker über deutsche Machtpolitik ist auch heute lohnenswert – insbesondere im Kontext des Ukraine-Krieges.

Der Umgang der deutschen Linken mit der Ukraine hat gezeigt, dass ihr das Bewusstsein über die Existenz einer nationalen Machtpolitik der BRD abhandengekommen ist. Die einen schlucken unhinterfragt die Erzählung, dem deutschen Staat läge etwas am Wohlstand, der Freiheit und dem Leben der Menschen in der Ukraine – die Deutschen als selbstlose Retter der Ukraine, gar als Schutzmacht ganz Osteuropas. Und was ist schon eine Schutzmacht ohne militärische Stärke? Die anderen erklären Deutschlands Verwicklung in den Ukraine-Krieg nicht etwa aus der wirtschaftlichen und machtpolitischen Bedeutung Osteuropas für seine herrschende Klasse, sondern mit einem vermeintlichen Kadavergehorsam der deutschen Eliten gegenüber den US-Imperialisten. Kein Wort vom deutschen Ostimperialismus.

Ein Blick in den Klassiker „Griff nach der Weltmacht“ von Fritz Fischer bringt hier Klarheit. Fischer hat mit seiner Schrift nicht nur entscheidend in die Kriegsschuld-Debatte eingegriffen, sondern vor allem eine aktive, machtpolitisch motivierte Kriegszielpolitik der Eliten des kaiserlichen Deutschlands nachgewiesen. Dabei liefern Fischers Erkenntnisse über das Deutschland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auch für die Analyse der aktuellen deutschen Machtpolitik wertvolle Hinweise. Denn die geopolitischen Rahmenbedingungen sind auch mehr als hundert Jahre später im Wesentlichen dieselben geblieben: Heute wie damals ist Deutschland eine Mittelmacht mit wenig Rohstoffen und vergleichsweise wenig Territorium, die für sich dennoch eine Weltmachtgeltung beansprucht. Heute wie damals stehen die Strategen der deutschen Machtpolitik im Einflusskampf mit den Großmächten vor der Aufgabe, dem deutschen Größenwahn eine reale Basis zu geben. Über zwei Weltkriege hinweg ist die grundlegende Strategie der deutschen Imperialisten dieselbe geblieben: Erst Europa, dann die Welt.

Mittelmacht mit Größenwahn

Vor mehr als hundert Jahren marschierten deutsche Soldaten das erste Mal in einen Weltkrieg, weil man in Berlin überzeugt war, „zur Stellung einer Weltmacht berufen und berechtigt zu sein“ (S. 136). Viele Deutsche sahen sich „als Träger einer höheren Kultur“ (S. 137) und empfanden deswegen eine expansive nationale Machtpolitik als gerechtfertigt. Bereits damals zeichnete sich die „Entwicklung Deutschlands zu einem hochindustriellen Exportland“ (S. 22) ab. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kam der „Ruf nach Lebensraum“ und „Absatzmärkten“ jenseits der deutschen Außengrenzen. Es herrschte der „Glauben, dass der ungehemmte [wirtschaftliche] Aufstieg in einer fast als wirtschaftsgesetzlich vorgestellten Expansion [Deutschlands] sich weiterentwickeln würde“ (S. 23). Und wo der Markt das mit der Expansion doch nicht von alleine regelte, rollten dann die deutschen Panzer. Die Kriegszielpolitik war der Versuch, die „geopolitische Beschränkung der deutschen Basis“ (S. 21) zu überwinden – der Griff nach der Weltmacht. „Überblickt man die deutschen Ziele […] in ihrer Gesamtheit, so ergibt sich das Bild eines Imperiums von grandiosen Ausmaßen“ (S. 530), resümiert Fischer. Dabei spielten in den strategischen Überlegungen der deutschen Imperialisten die „Kolonialziele nur eine nebengeordnete Rolle“. Im „Vordergrund“ der Kriegszielpolitik habe die Eroberung der „europäischen Basis“ gestanden, die „als die Grundlage jeder Überseepolitik“ und damit der angestrebten Weltmachtstellung angesehen wurde. Die deutschen Strategen gingen davon aus, mit einem Sieg vor allem über die Kolonialmächte England und Frankreich ein umfangreiches deutsches Kolonialreich „fast von selbst erreichen zu können“ (S. 515). Dominanz über Europa sei die „volkswirtschaftliche Grundlage der deutschen Weltpolitik“ (S. 22), äußerte sich damals ein führender deutscher Banker.

Europa den Deutschen

Die europäische Vormachtstellung wollte das kaiserliche Deutschland durch Expansion nach Westen und Osten erreichen. Im Westen plante Berlin unter anderem die „Annexion oder zumindest die wirtschaftliche Beherrschung“ (S. 144) Belgiens aber auch Luxemburgs und der Niederlande sowie die Eroberung von französischem Gebiet, insbesondere des Erzbeckens von Longwy-Briey. Damit hätte Deutschland seine Basis in Europa bereits an der Nordseeküste bis über die französische Grenze hinaus vergrößert und gleichzeitig zwei seiner europäischen Rivalen geschadet: England hätte mit seinem Verbündeten Belgien sein Sprungbrett nach Westeuropa eingebüßt und Frankreich wäre durch den Verlust industriell bedeutsamer Gebiete nachhaltig geschwächt. Sicherzustellen, dass Frankreich „als Großmacht nicht neu erstehen kann“ (S. 98) war für den deutschen Kanzler ein übergeordnetes Ziel des Krieges.

In großen Teilen richtete Deutschland seinen Expansionsdrang nach Osten. Russland müsse „von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden“ (ebd.), so der damalige deutsche Kanzler. Gemeint waren unter anderem die Baltischen Staaten, Polen und die Ukraine, die vor Kriegsbeginn noch ganz oder teilweise russisches Staatsgebiet waren. Nicht nur der deutsche Kaiser sah im ersten Weltkrieg den „Endkampf der Slaven und Germanen“ (S. 38). Anti-slawischer Rassismus war weit verbreitet in einer Zeit, in der der deutsche Imperialismus nach Osten drängte. Damals schon war der Gedanke nach Siedlungsraum im Osten in der deutschen Machtpolitik präsent. Deutschland strebte nach einer regionalen Vorherrschaft im baltischen Raum, inklusive Herrschaft über die Seewege der Ostsee, Annexionen im heutigen Lettland, Litauen und Estland sowie Polen, und darüber hinaus auch die indirekte Beherrschung der nicht offiziell annektierten Teile Polens sowie in Skandinavien. Österreich-Ungarn sollte deutsche Provinz werden, das heißt das heutige Österreich, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien und Bosnien Herzegowina sowie Teile Polens und der Ukraine (Galizien). Auch die Schwarzmeerregion sollte deutsch werden: über die Ukraine und „Restrussland“ bis nach Georgien und über Rumänien, Bulgarien bis in die Türkei, gar bis in den heutigen Iran reichten die Expansionsträume der deutschen Eliten vor und während des Ersten Weltkrieges.

Hauptsache Expansion

Fischer bestimmt nicht einfach das eine statische Kriegsziel der abstrakten Deutschen, sondern zeichnet über mehrere Jahre die Kriegszielpolitik als Prozess politischer Auseinandersetzung unter den Herrschenden in Militär, Staat und Wirtschaft nach. Diese inhaltliche Schärfe macht den ohnehin voraussetzungsreichen und fordernden Klassiker zuweilen zur unübersichtlichen und langatmigen Lektüre. Nur dadurch wird allerdings sichtbar, dass je nach innen- oder außenpolitischer Kräftelage der Expansionsdrang sich mehr oder weniger offen zeigte. Neben den Hardlinern, die auf Expansion durch Annexion setzten, gab es auch damals schon diejenigen, die eine subtilere Expansion durch die vorrangig wirtschaftliche Beherrschung formal selbstständiger Staaten bevorzugten. Der damalige Direktor der Deutschen Bank beispielsweise sprach sich dagegen aus, „blindlings eine Politik der Annexionen zu beginnen“ und forderte stattdessen, „Deutschlands wirtschaftliche Vorherrschaft (in Europa) zu etablieren“ (S. 97). Der deutsche Kanzler strebte in diesem Sinne „die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ an, und zwar „unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung“ (S. 99). Auch in der Belgien-Frage plädierte er statt für offene Annexion dafür, Belgien zu Deutschlands „Tributärstaat“ zu machen, der „der Form nach möglichst frei bleiben, faktisch aber uns [Deutschen] sowohl in militärischer als auch wirtschaftlicher Beziehung zur Verfügung stehen muß“ (S. 105). Fischer spricht in diesem Zusammenhang von „indirekter Annexion“ (S. 106).

Ob indirekte oder offene Expansion, das Ziel war dasselbe: von der Nord- und Ostsee bis zum Schwarzen Meer Europa der deutschen Machtpolitik unterzuordnen. Und auch wenn sich natürlich nicht alles eins zu eins auf heute übertragen lässt, ist es doch erschreckend, wie ungebrochen die langen Linien der deutschen Machtpolitik sich durch die Jahrhunderte bis in den Ukraine-Krieg ziehen. Gerade heute, wo Berlin der direkten, formalen Expansion abgeschworen hat, mahnt Fischers Analyse dazu, die indirekte Expansion Deutschlands in Europa in ihrer machtpolitischen Bedeutung nicht zu unterschätzen. So zu tun als hätte Berlin in Osteuropa keine nationalen machtpolitischen Interessen – ob als selbstlose Schutzmacht der Ukrainer oder willenloser Vasall der USA – ist geschichtsvergessen.

Fritz Fischer 1984:
Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18.
Droste Verlag, Düsseldorf.
ISBN: 978-3-7700-0902-2.
575 Seiten.
Zitathinweis: Merle Weber: Lange Linien der Geschichte. Erschienen in: Bündnisse schmieden. 73/ 2024. URL: https://kritisch-lesen.de/s/4QSTz. Abgerufen am: 30. 12. 2024 18:12.

Zum Buch
Fritz Fischer 1984:
Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18.
Droste Verlag, Düsseldorf.
ISBN: 978-3-7700-0902-2.
575 Seiten.