Kritische Reflexionen
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Fast pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum veröffentlichte ReachOut – Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus eine abwechslungsreiche und überaus lesenswerte Broschüre.
Wie Delal Atmaca im Vorwort zu Recht bemerkt, ist ein zehnjähriges Jubiläum der Berliner Opferberatungsstelle kein Grund zu grenzenloser Freude, denn gäbe „es keine rechte, keine rassistische, keine antisemitische Gewalt, dann bräuchte es ReachOut gar nicht“ (S. 4). Aber – und auch da hat Atmaca recht, solange es Rassismus gibt, solange muss es auch Opferberatung geben, solange muss es Orte geben, an denen die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt gerückt wird. Und so kommen in der Publikation etliche Menschen zu Wort, direkt oder indirekt, die Betroffene rassistischer Gewalt wurden. Maria Joao Portugal schildert einen Angriff in einer S-Bahn und einen anderen in Berlin-Spandau, Berliner Stadtteilmütter sprechen zu Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus und zwei „Fälle“ rassistisch motivierter Polizeigewalt werden vorgestellt.
Die Broschüre umfasst neben eben diesen Opferperspektiven, also neben etlichen Schilderungen von rassistischer Gewalt und Ausgrenzung eine Reihe von Artikeln rund ums Thema Rassismus. Yasemin Shooman verdeutlicht in „’Kultur’ statt ‚Rasse’“ das Phänomen des antimuslimischen Rassismus und führt pointiert aus, dass inzwischen das Merkmal „Kultur“ zur Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremdem dient (vgl. S. 19). Manchmal, so Shooman, werde Rassismus via emanzipativer Diskurse vermittelt, beispielsweise wenn er mit dem Thema Frauenrechte verbunden wird. Es gelte also genau hinzuschauen, „wenn Menschenrechte ins Feld geführt werden, um die Ablehnung einer Gruppe als Kollektiv zu legitimieren.“ (S. 20) Koray Yilmaz-Günay schaut genau hin und analysiert in dem Artikel „Frauen und Homosexuelle im Clash of Civilizations“ die Diskursverschränkungen zwischen Rassismus und Sexismus/Homophobie. Yilmaz-Günay zeigt auf, wie diese Verschränkungen bis hin zur Legitimation von Krieg führen können. Dass aber die immanente Selbstzuschreibung von Deutschland als antisexistisch mit der faktischen Wirklichkeit nicht viel zu tun hat, auch das wird benannt, also die „Tendenz, benachteiligte Gruppen gegeneinander in Stellung zu bringen, um mit kleinen Zugeständnissen das große Ganze bestehen zu lassen.“ (S. 33) Es müsse, so Koray Yilmaz-Günay, darum gehen, „gemeinsam gegen Diskriminierung vorzugehen, ohne sich in eine ‚Opfer-Konkurrenz’ zu begeben. (…) Die Überwindung von Sexismus und Homophobie kann sinnvoll nur als antirassistischer Kampf geführt werden.“ (S. 33)
Wie versucht wird, Betroffene zu Täter_innen und eine weiße Mehrheitsgesellschaft zu Opfern umzudefinieren, das zeigt Sebastian Friedrich in dem ausgezeichneten Artikel „Spiele(nd) ernst nehmen! Zum Eliten-Rassismus und dessen Funktion“ auf. Während der jüngsten Integrations-Debatte wurde wenig bis gar nicht über Rassismus und stattdessen über die „Ängste der weißen Bevölkerung“ (S. 25) gesprochen. Dass hier „Rassismus als Folge von Angst verharmlost wird“ (ebd.) ist eine Sache. Die andere ist das damit verbundene „Selbstbild von Teilen der Elite“ (ebd.). Beides benennt Friedrich und führt folgend die Funktionen von Eliten-Rassismus aus. Neben der Feindbildproduktion durch die Konstruktion von Sicherheitsdefiziten besteht eine andere Funktion in der Spaltung von Protestpotential. Zuletzt, so beschreibt es der Autor, geht es um die „Ethnisierung des Sozialen“, die Hand in Hand geht mit „dem verbreiteten Wunsch der Eliten nach der zunehmenden Ökonomisierung des Sozialen.“ (S. 28)
Auch Biplab Basu beschreibt Formen des Rassismus, die meist in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als Teil des Problems gesehen werden. „All das geschieht fast unbemerkt. Friedlich“, so bringt es der Titel auf den Punkt. Es geht hier um institutionellen Rassismus, um Rassismus der Polizei, um Rassismus in Strafanstalten, um den Rassismus in den Medien. Diese Institutionen wirken, so Basu, besonders machtvoll in ihrer „willigen Beteiligung an der Lösung des sogenannten Problems ‚Migration’.“ (S. 39) Was gegen solch machtvolle Institutionen getan werden kann, zeigt der Artikel „KOP. Die Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt stellt sich vor“ exemplarisch auf. Es gilt mit verschiedenen Hilfsangeboten an Betroffene „eine Normalität zu durchbrechen.“ (S. 45) Und so stellt sich KOP gegen die „von Seiten der politisch Verantwortlichen vertretenen ‚Schwarzen Schafe’ und ‚Einzelfall’-Thesen, wonach rassistisch motivierte Polizeiübergriffe eine Ausnahme darstellen, die von einigen wenigen Ausnahmepolizisten verübt werden.“ (ebd.) Neben KOP stellt sich die Psychologische Beratung für Opfer rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt vor, denn für Betroffene dauert ein Übergriff länger als der konkrete Akt. Hier geht es um psychologische Krisenintervention und Traumatherapie. Informationen für Lehrer_innen und Eltern über rassistisches Mobbing in der Schule ergänzen einen Artikel von Sanchita Basu, die sich gegen die Bagatellisierung von rassistischem Mobbing an Schulen richtet und für einen verstärkten Dialog diesbezüglich eintritt.
Timo Lange wendet sich in dem Artikel „Hate Crime“ gegen das Konzept der Hasskriminalität, das u.a. auch vom BKA herangezogen wird um Statistiken über rassistische Straftaten aufzustellen. Er kritisiert einleuchtend, dass bei diesem Konzept die „überindividuelle, gesellschaftliche Dimension von Rassismus oder Homophobie“ verloren gehe. Somit trage die Kategorie Hasskriminalität zur Entpolitisierung rassistischer Gewalt bei. Es geht darum, und das geht aus allen Artikeln evident hervor, Rassismus und andere Ausgrenzungsmechanismen als strukturelle Probleme wahrzunehmen und Machtbeziehungen in die Analyse mit einzubeziehen.
Gut, dass es ReachOut gibt, gut, dass Rassismuskritik so deutlich, offensiv und klug wie in dieser Broschüre vermittelt wird – gerade auch in einer Zeit, in der Extremismusquatsch, Bekenntniszwang und Generalverdacht denen die Arbeit schwer macht, die Rassismus entgegenwirken.
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Die Broschüre ist online verfügbar.
Rassistische Verhältnisse. Ausblicke - Tendenzen - Positionen.
57 Seiten.