Zum Inhalt springen

Kritik der „Islamkritik“

Buchautor_innen
Thorsten Gerald Schneiders (Hg.)
Buchtitel
Islamfeindlichkeit
Buchuntertitel
Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen

Wer sich in der gegenwärtigen Islamdebatte nicht integriert fühlt, dem_der zeigt der Sammelband „Islamfeindlichkeit“, dass er_sie damit nicht alleine ist. 30 Wissenschaftler_innen legen darin Grundlegendes zum Thema antimuslimischer Rassismus dar.

Meistens scheint sich die deutsche Islamdebatte nur um „Kopftuchmädchen“, Integrationskurse und „Ehrenmorde“ zu drehen. Der von Thorsten Gerald Schneiders herausgegebene Sammelband zum Thema „Islamfeindlichkeit“ beleuchtet die andere Seite der sogenannten „Islamkritik“. Die vier Kapitel des Bandes befassen sich mit historischen Grundlagen des Feindbildes, der aktuellen Lage und der empirischen Belegung antimuslimischer Einstellungen, Fällen institutionalisierter Islamfeindlichkeit und schließlich mit personeller Islamfeindlichkeit am Beispiel prominenter Islamkritiker_innen. Diese Aufschlüsselung schärft den Blick für die Mehrdimensionalität und die historische Verankerung antimuslimischer Haltungen, die in aktuellen Debatten oft unbeachtet bleibt.

Das erste Kapitel bietet einen interdisziplinären Überblick über die historische Dimension islamfeindlichen Denkens. Thomas Naumann zeigt „historische und theologische Konstellationen“ von der islamischen Expansion im 7. Jahrhundert bis zum europäischen Kolonialismus, die eine Konstruktion des Islams als Gegenbild christlicher Identität bedingten. Dabei identifiziert Naumann verschiedene Stereotype in der europäischen Wahrnehmung und zeichnet deren Wandel nach. Diese Wahrnehmung verändert sich beispielsweise zwischen früher Neuzeit und dem 19. Jahrhundert von Despotie und sexueller Zügellosigkeit osmanischer Herrscher über den Exotismus der Aufklärung hin zu dem Bild vom Orient „als rückständige, träge Barbarei, als eine Kulturstufe, die die Europäer längst hinter sich gelassen haben“. (S. 32) Nicht hinter sich gelassen wurden europäische Erzählmuster über den Islam in Schulbüchern – dies zeigt Gerdien Jonker in ihrem Beitrag und kritisiert auch die unbedarfte Reproduktion von Klischees in heutigen Schulbüchern:

„In Österreich hat seit 2003 die Erzählung Hilfe, die Türken kommen! Eingang gefunden. In den polnischen Geschichtsbüchern schauen neben Usama bin Laden die schwarz verhüllten Frauen von den Seiten hoch. In Russland rösten die Tataren nach wie vor die armen Russenkinderchen am Spieß. In England stellt man Muslime gleich mit dem Mittelalter.“ (S. 77)

Auf zentrale Inhalte und Entstehungsbedingungen des medialen Islambildes geht Kai Hafez in seinem Beitrag ein und betont in dieser Hinsicht die wechselseitige Abhängigkeit von Medien, Politik, Bildungseinrichtungen und Kirchen, die dazu führen, dass mediale Darstellungen „lediglich ein Baustein einer kompletten Wissensgesellschaft sind“ (S. 109), die insgesamt eine Tendenz zur Konservierung des Feindbildes Islam besitze. Diese Einordnung bestätigt auch die Themenvielfalt des zweiten Kapitels.

Zwischen strategischen Allianzen und der Kulturalisierung von Konflikten

Mit 13 Beiträgen ist das zweite Kapitel zur aktuellen Lage der Islamfeindlichkeit das bei weitem umfangreichste. Y. Michal Bodemann und Gökce Yurdakul konstatieren bezüglich der deutschen Juden und Türken ein „triadisches Verhältnis“ (S. 240) zur Mehrheitsgesellschaft. Dieses sei von einer Orientierung der deutsch-türkischen Minderheit an der deutsch-jüdischen Minderheit geprägt, wenn es um eine Etablierung eigener Institutionen, den Umgang mit Rassismus und die Durchsetzung von Forderungen bei Behörden gehe. Interessanterweise prognostizieren die Autor_innen im Kontext von Rassismus und Antisemitismus und anderen Ausgangsbedingungen eine Stärkung dieses Koalitionstyps. Ganz anders als diese zu gelingen scheinende Allianz stellt sich der internationale Dialog zwischen „westlichen“ und „muslimisch“ geprägten Gesellschaften im Beitrag von Jochen Hippler dar. Der Autor analysiert den Pauschalismus „westlicher“ Wahrnehmung in Form von verschiedenen Mechanismen wie der religiösen Interpretation säkularer Politik, Geschichtslosigkeit, Verzicht auf die Analyse von Interessen und Psychologisierung. Yasemin Karakasoglu widmet sich unter dem Titel „Islam als Störfaktor in der Schule“ den zunehmenden Versuchen, rechtliche und politische Institutionen als Vermittler bei Konflikten zu Themen wie Koedukation oder der Präsenz des Kopftuchs in Schulen einzuschalten und plädiert für eine diskursive Austragung solcher Konflikte. Karakasoglu zeigt auch auf, wie Lehrkräfte teilweise reflexartig Probleme „als interkulturelle respektive islamische Konfliktsituationen deuten“ (S. 310) und wie antimuslimischer Rassismus in der Schule als Ausübungsort von Hierarchien und struktureller Gewalt besonders wirksam werden. Diese Feststellung lässt die Kulturalisierung islamischer Religiosität und die damit einher gehende Problematik des Kulturbegriffs sowie die Notwendigkeit eines reflektierten Umgangs damit deutlich werden. Das Fehlen solcher Reflexionen in der deutschen Medienlandschaft zeichnet sich in Siegfried Jägers Beitrag zum Karikaturenstreit in der deutschen Presseberichterstattung ab. Jäger zeigt in seiner kursorischen Diskursanalyse, dass die mediale Abdeckung des Ereignisses sich „in die rigidere Konturierung eines Feindbildes Islam“ (S. 335) im Einwanderungsdiskurs einreiht.

„Islamkritische“ Blogger, der Papst und authentische Stimmen

Weblogs, rechts-konservative Parteien, die evangelische und die katholische Kirche sind Gegenstände von vier Beiträgen zu institutionalisierter Islamfeindlichkeit im dritten Kapitel. Untersuchungsmaterial sind dabei die Blogs Politically Incorrect und Akte-Islam (Sabine Schiffer), die Rolle von CDU und CSU in legislativen Prozessen, ihre Programmatik und persönliche Stellungnahmen (Mohammed Shakush) sowie die 2006 erschienene Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Wolf-Dieter Just) und die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI (Jobst Paul). Intensität und Form des antimuslimischen Rassismus unterscheiden sich dabei stark: Während genannte Weblogs unter anderem Nazi-Vergleiche und Verschwörungstheorien nutzen, schielen CDU und CSU neben der Unterstützung von Kopftuchverboten und Gesinnungstests auch stellenweise auf das Potenzial konservativer muslimischer Wählerschichten – Shakush weist auf einen „Boden für eine Art symbiotische Beziehung“ (S. 378) hin: die gemeinsame Religiosität.

Prominente haupt- oder nebenberufliche „Islamkritiker_innen“ – das zeigt das letzte Kapitel „Personelle Islamfeindlichkeit“ – einen nicht nur gemeinsame Argumentationsstrategien, sondern auch Solidarität bei öffentlicher Kritik gegenüber Einzelpersonen und gegenseitige Zitation (vgl. S. 434 f.), wie zum Beispiel Thorsten Gerald Schneiders anschaulich darstellt. Mit „muslimische[n] Antimuslime[n]“ als „authentische[n] Stimme[n]“ (S. 462) der Islamkritik setzt sich Birgit Rommelspacher am Beispiel von Necla Kelek und Seyran Ates auseinander. Diese spielen auch für die Nicht-Anerkennung rassistischer Strukturen eine Rolle, indem sie zum Beispiel das Deutsch-sprechen als Gegenmittel zu Diskriminierung darstellen und mangelnden Nationalstolz unter „den Deutschen“ feststellen (vgl. S. 461, 464).

Anknüpfungspunkte

Das Phänomen, dass Frauen, die in ihren Familien oder in ihren Herkunftsländern Unterdrückung erfahren haben, zu Kronzeuginnen der Anklage gegen den Islam werden, erfordert auch in Zukunft eine genaue Analyse der beteiligten Akteur_innen sowie der dahinter stehenden Allianzen und Motivationen. Denn die Präsenz ihrer Lebensgeschichten und Haltungen zum Islam in der Öffentlichkeit hängt auch von den Interessen der Mehrheitsgesellschaft ab, die mit ihrer Vorherrschaft in den Redaktionen der Medien und in politischen Ämtern die Verteilung von Aufmerksamkeit beeinflussen und kontrollieren. Dabei geht es vor allem um Definitionsmacht - welche Lebensentwürfe und -erfahrungen werden als repräsentativ und damit in gewissem Sinne als „wahr“ und „authentisch“ betrachtet, welche werden der Kategorie „Ausnahmefall“ zugeordnet und welche Meinungen als „subjektiv“ diskreditiert? Letztere Erfahrungen mussten und müssen besonders muslimische Frauen machen, die zum Beispiel während der Sarrazin-Debatte versuchten, in Talkrunden, Podiumsdiskussionen und Zeitungsartikeln mit ihren Standpunkten gegen das herrschende Klischee der unterdrückten und rettungsbedürftigen muslimischen Frau vorzugehen.

Es zeigt sich, dass zur Benennung antimuslimischer Haltungen und Handlungen ein breites Spektrum an Begriffen kursiert – diese umfassen zum Beispiel auch Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Bezeichnung „antimuslimischer Rassismus“ bleibt leider im akademischen Mainstream zu Gunsten der Verwendung anderer Begriffe oft im Hintergrund.

Die interdisziplinäre Aufstellung der Beitragenden dient einerseits der Darstellung des Spektrums islamfeindlicher Haltungen, andererseits stehen einige Beiträge eher unverbunden nebeneinander und wirken auf Nicht-Kenner_innen des jeweiligen Wissenschaftsbereichs zunächst sehr abstrakt. Um mögliche Zusammenhänge zwischen historischer (christlicher) Islamfeindlichkeit, Orientalismus und gegenwärtigem antimuslimischen Rassismus aufzuzeigen, bleiben weiterführende zusammenfassende Analysen notwendig - zu beachten wären dabei die Verbindungen zum Themenkomplex Integration (- an dieser Stelle sei auf die lesenswerte Ausgabe von Widerspruch („Integration und Menschenrechte“ - Nr. 59, 2/2010) verwiesen).

In einigen Beiträgen werden antimuslimische Haltungen auch als „Ängste“ beschrieben – das zeigt, dass die psychologisierenden Tendenzen der Rassismusforschung auch beim Thema antimuslimischer Rassismus wirken. Die Funktionen der Marginalisierung von Muslim_innen bleiben dadurch oft unsichtbar. Neben dem Konstrukt von Fremdheit und Bedrohung gibt es handfeste Interessen an dieser Marginalisierung, die, bewusst oder unbewusst, eine Absicherung der eigenen Privilegien zum Ziel hat. Die sogenannte ethnische Unterschichtung durch „Gastarbeiter“ ist dafür ein Beispiel aus der deutschen Einwanderungsgeschichte. Werden diese Funktionen nicht ausdrücklich benannt, kann auch der erste Schritt - eine Anerkennung eben dieser existierenden Privilegien – nicht stattfinden.

Insgesamt ist „Islamfeindlichkeit – Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen“ weniger als eine Analyse von Überschreitungen feststehender Grenzen zu lesen, sondern als eine notwendige Anerkennung der historischen und institutionellen Ausgangsbedingungen der Islamkritik und der asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Kritisierenden und Kritisierten – denn letztendlich sind die vorherrschenden Ausformungen gegenwärtiger „Kritik“ am Islam nicht zu trennen von der Diskriminierung deutscher Muslim_innen. Trotzdem können besonders die in mehreren Beiträgen dargelegten Entlarvungen der angewendeten Argumentationsstrategien in der Praxis hilfreich sein, um Darstellungen und Behauptungen als antimuslimischen Rassismus zu erkennen. Der Band ist daher auch für die Konzeption eines Bullshit-Bingos zum Thema Islam zu empfehlen. Denn die nächste Podiumsdiskussion oder Talkshowrunde mit dem Titel „Gehört der Islam zu Deutschland?“, „Wie viel Islam verträgt Deutschland?“ oder „Ist die Integration gescheitert?“ kommt bestimmt.

Thorsten Gerald Schneiders (Hg.) 2010:
Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. 2. Auflage.
VS Verlag, Wiesbaden.
ISBN: 978-3-531-17440-2.
498 Seiten. 49,95 Euro.
Zitathinweis: Hannah Schultes: Kritik der „Islamkritik“. Erschienen in: Antimuslimischer Rassismus. 1/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/s/pWiZ6. Abgerufen am: 10. 11. 2024 02:59.

Zur Rezension
Zum Buch
Thorsten Gerald Schneiders (Hg.) 2010:
Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. 2. Auflage.
VS Verlag, Wiesbaden.
ISBN: 978-3-531-17440-2.
498 Seiten. 49,95 Euro.