Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung
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- Wolfgang Streeck
- Buchtitel
- Gekaufte Zeit
- Buchuntertitel
- Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus
Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung gibt sich in seinen Adorno-Vorlesungen radikal, kommt aber gedanklich über den Kapitalismus nicht hinweg.
Wolfgang Streeck hat zwar noch bei Adorno studieren können und auch ein paar Vorlesungen besucht, aber, so gibt Streeck in der Einleitung von „Gekaufte Zeit“ zu, wenig verstanden. Streecks Vorlesungen sind hingegen einfach geschrieben und gut zu verstehen – dafür über weite Strecken problematisch.
Streeck hat sich vorgenommen, die gegenwärtige „Finanz- und Fiskalkrise des demokratischen Kapitalismus der Gegenwart im Lichte der Frankfurter Krisentheorien der späten 1960er und frühen 1970er“ (S. 9) zu behandeln. Dabei will er „unter Rückgriff auf ältere, vor allem marxistische Theorietraditionen“ (S. 10) die Krise interdisziplinär analysieren, das heißt nicht nur als ökonomisches Phänomen oder wie die krisentheoretischen Ansätze der 1960er und 1970er Jahre (Jürgen Habermas, Oskar Negt und Claus Offe) als technokratisches Problem.
Von der Krise des Fordismus zum europäischen Konsolidierungsstaat
Den Schlüssel für die gegenwärtige Krise sieht Streeck in den 1970ern, denn „wir neigen dazu, zu unterschätzen, wie lange gesellschaftliche Ursachen brauchen, um gesellschaftliche Wirkungen hervorzubringen“ (S. 14). Auch daher rührt der Titel des Buchs „Gekaufte Zeit“. Die gegenwärtige Krise müsse als „vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung“ begriffen werden, die mit dem „Ende der langen sechziger Jahre, also etwa um 1975 herum“ (S. 23) begann. Im ersten Kapitel rekonstruiert er deshalb den Zusammenhang zwischen der Finanz- und Fiskalkrise und der Krise des Spätkapitalismus in den 1970ern, wie also die Krise bis heute verschleppt, Zeit gekauft wurde – unter anderem durch den Bedeutungsgewinn der Finanzmärkte.
Im zweiten Kapitel stellt er die Krise der Staatsfinanzen dar, um zugleich gängige Begründungsmuster, etwa die Institutionenökonomik zu kritisieren, die argumentiert, dass ein „zu viel“ an Demokratie den Staat überlaste, da er gesellschaftliche Konflikte moderiert und mit Geld schlichtet. Alle Parteien locken bei Wahlen mit Zugeständnissen, ein Wachstum der Staatsquote sei so unausweichlich. Streecks zentrale These ist hingegen, dass der sogenannte Schuldenstaat ab den 1980er Jahren den klassischen Steuerstaat als „reale institutionelle Formation“ (S. 20) abgelöst habe. Dass der Staat sich zunehmend verschuldet habe, sei Ausdruck einer Umverteilung von unten nach oben und Resultat von Klassenkämpfen. Er zeigt, dass der Anteil der Steuern auf Vermögen und höhere Einkommen ab Ende der 1970er Jahre am Gesamtsteueraufkommen sank.
„Wenn es eine ‚Anspruchsinflation‘ gegeben hat, durch welche die Staatsfinanzen in ein strukturelles Defizit geraten sind, dann hat diese bei den Oberschichten stattgefunden, deren Einkommen und Vermögen in den letzten 20 Jahren rapide gestiegen sind, nicht zuletzt aufgrund von Steuersenkungen zu ihren Gunsten, während Löhne und Sozialleistungen am unteren Rand der Gesellschaft stagnierten oder gar sanken“ (S. 111).
Deshalb ist die Staatsschuldenproblematik wesentlich ein Staatseinnahmenproblem. Nicht mehr Steuern, sondern die Finanzierung auf dem Kapitalmarkt wurde zentral, weil hohe Einkommen und Vermögen nicht mehr zur Kasse gebeten wurden. Damit transformiert sich der Steuerstaat: „Der von seinen Bürgern regierte und, als Steuerstaat, von ihnen alimentierte demokratische Staat wird zum demokratischen Schuldenstaat, sobald seine Subsistenz nicht mehr nur von den Zuwendungen seiner Bürger, sondern in erheblichem Ausmaß auch von den Gläubigern abhängt“ (S. 119). Daher thematisiert er im dritten Kapitel den von ihm sogenannten Konsolidierungsstaat.
„Im Gefolge der Finanz- und Fiskalkrise ist der Schuldenstaat, der den Steuerstaat abgelöst hat, dabei, sich in einen Konsolidierungsstaat zu verwandeln und den neoliberalen Abschied des europäischen Staatensystems und seiner politischen Ökonomie von seiner keynesianischen Gründungsphase zu vollenden“ (S. 141).
Das politische Projekt der Konsolidierung der europäischen Staatsfinanzen laufe vor dem Hintergrund der aktuellen Krise, so Streeck, „auf einen von Finanzinvestoren und Europäischer Union koordinierten Umbau des europäischen Staatensystems hinaus – auf eine Neuverfassung der kapitalistischen Demokratie in Europa im Sinne einer Festschreibung der Ergebnisse von drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Liberalisierung“ (S. 164). Durch die europäische Ebene könne Austerität und der Konsolidierungsprozess sichergestellt werden, auch wenn sich in den nationalen Parlamenten keine Mehrheiten finden lassen. Die herrschende Politik scheint alternativlos; bei den Beherrschten wachse das „Gefühl, von ihren Regierungen nicht ernst genommen zu werden“ (S. 219).
Die bürgerliche Demokratie vor der neoliberalen Ökonomisierung retten
Vor diesem Hintergrund kommt Streeck zu seinen Alternativen. Streeck plädiert für eine „Umkehr“ der Trends von Entdemokratisierung und Ökonomisierung, was für ihn bedeutet, „Institutionen aufzubauen, mit denen Märkte wieder unter soziale Kontrolle gebracht werden können: Märkte für Arbeit, die Platz lassen für soziales Leben, Märkte für Güter, die die Natur nicht zerstören, Märkte für Kredit, die nicht zur massenhaften Produktion uneinlösbarer Versprechen werden“ (S. 237).
Die bürgerliche Demokratie vor der neoliberalen Ökonomisierung zu retten, ist für ihn gleichbedeutend mit einer Rückkehr zum Europäischen Währungssystem (EWS), also eine Auflösung des Euro, einem System relativ flexibler Wechselkurse und mehr Nationalstaat, um „die Reste jener politischen Institutionen so gut wie möglich zu verteidigen und instand zu setzen, mit deren Hilfe es vielleicht gelingen könnte, Marktgerechtigkeit durch soziale Gerechtigkeit zu modifizieren und zu ersetzen“ (S. 236). Schließlich
„eliminierte der Euro ganz im Sinne des neoliberalen Programms eine wichtige Version politischer Willkür aus der Verfassung des gemeinsamen Marktes und legte Regierungen von Mitgliedstaaten, denen an Beschäftigung, Wohlstand und sozialer Sicherheit ihrer Bevölkerung gelegen ist, auf das neoliberale Instrumentarium (...) fest“ (S. 237.)
Die „Demokratisierung“, die er als ein Zurück zum Nationalstaat denkt, müsse ökonomisch deshalb von der Auflösung der Eurozone begleitet werden und relativ flexible Wechselkurse zum Ziel haben, weil nur so und mit den damit möglichen Abwertungen von Währungen die Länder wieder Luft holen könnten, die im Vergleich zu Deutschland nicht besonders wettbewerbsfähig seien. „Abwertung als Institution in einem internationalen Wirtschaftssystem funktioniert wie das Handicap in Sportarten wie Golf oder Pferderennen, in denen die Unterschiede zwischen den Teilnehmern so groß sind, dass diese sich ohne Ausgleich in wenige Dauergewinner und viele Dauerverlierer teilen würden“ (S. 248). Was Streeck hier nicht in Frage stellt, ist, dass überhaupt um die Wette gerannt werden muss. Die einzigen Stellschrauben scheinen für ihn zudem der Lohn und der Wechselkurs zu sein.
Bei der Rekonstruktion historischer Prozesse ärgerlich ungenau
Als Adorno-Vorlesung würde Streecks Vorhaben jedoch kaum durchgehen, wenn er nicht auch auf Marx‘ Kapitalismuskritik zu sprechen kommen würde, wobei er weniger auf die Kritik abhebt. Vielmehr unterstellt er eine „Marxsche[] politische[] Ökonomie“ (S. 24), also gerade keine Kritik. Das „Kernstück des Erbes“ sei das Kapital als „politischen Akteur und strategiefähige gesellschaftliche Macht“ (S. 43f.) zu denken, was der Frankfurter Theorie nicht gelänge und das größte Problem sei. Gleichzeitig thematisiert Streeck die Initiativen des Kapitals kaum und spricht vom „politischen Flankenschutz“ (S. 60) für die Kapitalinteressen – ohne staatstheoretische Überlegungen und ohne offen zu legen, wie er sich eine Vermittlung von ökonomischen Interessen und staatlicher Politik denkt. Die Rezeption der materialistischen staatstheoretischen Debatten bis in die Gegenwart wäre hier sinnvoll gewesen.
Streeck gibt sich in vielen Formulierungen radikal, etwa wenn er von der „Revolte des Kapitals gegen die mixed economy der Nachkriegszeit“ (S. 26) spricht oder dass der Neoliberalismus die „Konterrevolution gegen den Sozialstaatskapitalismus der Nachkriegsära“ sei (S. 111). Auch beim Widerstand „von unten“, wenn er mögliche Panikreaktionen an den Finanzmärkten auf den Protest überträgt:
„Schließlich können Bürger ebenso in ‚Panik‘ verfallen und ‚irrational‘ reagieren wie Finanzinvestoren, vorausgesetzt, dass sie sich nicht auf mehr ‚Vernunft‘ verpflichten lassen als diese, auch wenn ihnen als Argumente nicht Geldscheine zur Verfügung stehen, sondern nur Worte und, vielleicht, Pflastersteine“ (S. 223).
Er führt zudem die Occupy-Bewegung, die Empörten und den Anarchisten David Graeber als Referenz dafür an, dass es durchaus auch politische Akteure gibt, die noch nicht die Flagge der Alternativlosigkeit gehisst haben.
Allerdings ist Streeck bei historischen Prozessen oft ärgerlich ungenau. Sowohl was die Strategien der Kapitalfraktionen (in den wichtigsten Industriestaaten) und deren interne Widersprüche angeht als auch den Widerstand „von unten“. So behauptet Streeck, dass in der Folge von 1968 „sich immer mehr Unternehmen, Industrien und Verbände zu einem neuen gemeinsamen Ziel [bekannten]: der Liberalisierung des Kapitalismus und der Expansion seiner Märkte nach innen und außen“ (S. 55). So einfach war das nicht. In Großbritannien wurden die Finanzmärkte schon in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre liberalisiert, um unter anderem den Sozialstaat zu retten. Das Ziel der Liberalisierung war also ein durchaus anderes als eine neoliberale Offensive loszutreten. In den USA mussten sich in den 1960er und 1970er Jahren die exportorientierten Kapitalfraktionen erst gegen auf den Binnenmarkt ausgerichtete Kapitalfraktionen und ihrem Bündnis mit der Arbeiterklasse durchsetzen – also auch hier gab es zunächst kein gemeinsames Ziel. Ähnlich in Europa, wo die Liberalisierung erst nach dem Scheitern von Frankreichs Versuch des Keynesianismus in einem Land 1983 mit dem Binnenmarktprojekt ab Mitte der 1980er richtig Fahrt aufnahm und zudem zwei Projekte miteinander konkurrierten, ein neoliberales Projekt und ein neomerkantilistisches Projekt. Auch hier wäre es angemessen, das Kapital als gestaltende, in sich widersprüchliche Kraft zu verstehen. Streeck klagt das zwar ein, kommt dem aber selbst nicht nach.
Die analytische Aufarbeitung der Krise bleibt oberflächlich
Von seinem akademischen Elfenbeinturm aus konnte Streeck wohl auch die subalternen Kräfte nicht sehen, die dem Angriff auf ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse Widerstand entgegensetzten. So behauptet Streeck, dass die „lange Wende zum Neoliberalismus (…) in den reichen Gesellschaften des Westens auf bemerkenswert schwachen Widerstand“ (S. 58) stieß. In Großbritannien stieß Thatchers Politik auf schwachen Widerstand? Selbst wenn man die These als zielführend annimmt, sollte doch die häufig gestellte Frage anschließen, warum das neoliberale Projekt für die breite Masse nach und nach an Attraktivität gewann. Dabei war es gerade eine Problematik, die die Frankfurter Schule um Adorno interessierte: Warum unterwerfen sich Menschen „freiwillig“ Zwang, Herrschaft und Ausbeutung?
Aber auch das Verhältnis von strukturellen Zwängen und der veränderten Macht von AkteurInnen muss vor dem Hintergrund unbefriedigend bleiben. Streeck müsse „offen lassen, ob und mit welchen Mitteln es national organisierter Politik in einer immer internationaler gewordenen Wirtschaft überhaupt hätte gelingen können, Entwicklungen wie diese unter Kontrolle zu bringen“ (S. 112). Der Grund ist, dass es immer wieder einen „Organisationsvorsprung global integrierter Finanzmärkte gegenüber nationalstaatlich organisierten Gesellschaften“ (S. 126) gebe. Hier zeigt sich, dass es Streeck eben nicht gelingt, ökonomische Zwänge (des Weltmarkts) und die gestaltende Kraft sozialer Akteure (Klassen, Klassenfraktionen) im Rahmen von politischen Projekten, mit deren Hilfe es gelingt, Kräfteverhältnisse zu verändern, ins Verhältnis zu setzen.
Überhaupt bleibt die analytische Aufarbeitung der Krise – trotz Marx-Bezug – sehr oberflächlich. Streeck präsentiert Allgemeinplätze, etwa, dass zu viele Banken zu viele Kredite vergeben hätten, ohne zu klären, was dieses „zu viel“ ist, was mit Marx´ Begrifflichkeiten von fiktivem Kapital und fiktivem Geld (Kreditgeld) durchaus möglich wäre. Streeck kokettiert aber nur. Auch scheint er die Debatte um die marxsche Ökonomiekritik kaum mehr zu verfolgen, schließlich fehlen viele wichtige Beiträge zu Krise und monetärem Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, die durchaus dazu beitragen, die auf Kredit basierende Ökonomie und die wichtig gewordenen Finanzmärkte besser zu verstehen.
Streeck polarisiert mit seinem Buch die Sozialdemokratie, ähnlich wie der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, das konservative Lager spaltet. In den Blättern für deutsche und internationale Politik gab es bereits mehrere Beiträge, in denen Streeck selbst zu Wort kam. „Gekaufte Zeit“ ist aber auch Thema in der Zeitschrift Sozialismus oder dem wichtigen Internetportal Nachdenkseiten. Während die einen Streeck mit offenen Armen empfangen, weil er den Neoliberalismus kritisiert und den Euro für gescheitert erklärt, ist ein anderer Teil gekränkt – schließlich war es Streeck, der schon vor dem Antritt von Rot-Grün 1999 das propagierte, was schließlich in die Agenda 2010 mündete. Streeck macht in seinem neuen Buch die Hartz-IV-Politik zwar mitverantwortlich für Einkommensspreizung und Verarmungsprozesse – selbstkritische Töne sind allerdings nicht zu hören. Wie von der ganzen sozialdemokratischen Politikspitze, die zwar „Korrekturen“ für richtig hält, die Agenda 2010 aber nach wie vor als ein richtiges und wichtiges Projekt ansieht. Während Streeck also inzwischen die „marktförmige Sozialpolitik“ kritisiert, war gerade er es, der deren Einführung in Deutschland intellektuell begleitet hat. Das wollen ihm nicht alle durchgehen lassen.
Streeck behauptet zwar, dass niemand nach dem, „was seit 2008 geschehen ist, Politik und politische Institutionen verstehen“ könne, „ohne sie in enge Beziehung zu Märkten und wirtschaftlichen Interessen sowie den aus ihnen erwachsenden Klassenstrukturen und Konflikten zu setzen“ und deshalb der „Gebrauch bestimmter auf Marx zurückgehender Schlüsselbegriffe“ (S. 17f.) nötig sei. Er landet dann doch als sozialdemokratischer Bettvorleger: „Die Alternative zu einem Kapitalismus ohne Demokratie wäre eine Demokratie ohne Kapitalismus, zumindest ohne den Kapitalismus, den wir kennen“ (S. 235). Kein Kapitalismus ist für Streeck schließlich auch keine Lösung.
Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 978-3-518-58592-4.
271 Seiten. 24,95 Euro.