Kein Ende in Sicht
- Buchautor_innen
- Wolf-Dieter Narr
- Buchtitel
- Niemands-Herrschaft
- Buchuntertitel
- Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen
Wie etwas loswerden, in das man heillos verstrickt ist? Herrschaftskritik ist ein mühsames Geschäft – und trotzdem bitter nötig.
Geschrieben in den 1980er Jahren, hat Wolf-Dieter Narrs Buch „Niemandsherrschaft. Eine Einführung in Schwierigkeiten Herrschaft zu begreifen“ nun seinen Weg in die Druckereien gefunden. Das ist erfreulich, denn es liefert einen wichtigen Beitrag zur kritischen Herrschaftstheorie, wenn auch mit einigen Problemen. Gleich zu Beginn wird auch die editorische Leistung der Herausgeberin Uta von Winterfeld deutlich. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem an sie übergebenen Manuskript keineswegs um ein fertiges Buch. Gemeinsam mit Narr hat sie den Text erheblich überarbeitet und teilweise auch immer wieder eigene Einschübe formuliert. So erhält der Text eine erfrischend dialogische Form, die teilweise beinahe einem Interview ähnelt.
Herrschaft wird von Narr zunächst provisorisch als „institutionelle Verfestigung von Machtverhältnissen“ (S. 89) definiert. Es lohnt sich, dies im Hinterkopf zu behalten, da sich ein wesentlicher Teil des Buches später um Überlegungen dreht, ob es überhaupt die Möglichkeit eines klaren Herrschaftsbegriffs gibt. Zunächst jedoch stellt Narr angenehm deutlich seinen eigenen Standpunkt dar. Für ihn kann gute Herrschaftstheorie nur in Form einer Herrschaftskritik geschrieben werden, denn „Herrschaft von Menschen über Menschen und deren natürlichen wie sozialen Bedingungen ist und bleibt in allen Formen, Institutionen und Personen ein Ärgernis“ (S. 10). Aus diesem Blickwinkel erklärt Narr den Großteil der entsprechenden Theoriebildung als unzureichend. Zum einen, weil in der politischen Theorie Herrschaft zu großen Teilen schlicht ausgeblendet wird. Zum anderen, weil ein ebenso großer Teil davon ausgehe, Herrschaft sei naturgewachsen und der Begriff damit der Kritik entzogen werde. „Selbst, wenn ‚Herrschaft‘ unvermeidlich sein sollte“, hält Narr dieser Position entgegen,
„selbst dann bestünden Differenzen ‚ums Ganze‘ zwischen einzelnen Herrschaftsformen: in den Ausmaßen ihrer Repression, ihrer internen und externen humanen Kosten. In ihren Prozessuren, Interessen und Inhalten, in ihrer immer erforderlichen, wenigstens rudimentären Legitimation“ (S. 95).
Herrschaft ist also keine universelle Konstante. Stattdessen lässt sich in allen Gesellschaften immer auch nicht-herrschaftlich motiviertes Verhalten nachweisen, das auf Solidarität, gegenseitiger Hilfe und verlässlichen Umgangsformen beruht. „Zwischen verherrschaftlichter und nicht verherrschaftlichter, in diesem Sinne anarchischer Gesellschaft gibt es eine Fülle höchst lebensträchtiger Varianten. Kompositionen aus beidem, mehr oder minder. Das Minder aber zählt“ (S. 95). Diesen graduellen Unterschieden nachzuspüren und „Herrschaft ihrerseits in ihren historischen Formen und Funktionen in skalarer Weise zu ‚identifizieren‘“ (S. 97) macht Narr zur zentralen Aufgabe der Herrschaftstheorie.
Grundprinzipien der Herrschaft
Aus diesem Ansatz resultiert auch sein Anspruch, einerseits die Vielfalt verschiedener Herrschaftsformen abzubilden und andererseits das Gemeinsame letzterer nicht aus den Augen zu verlieren. So changiert das Buch dann tatsächlich zwischen (meta)-theoretischen Überlegungen von erstaunlicher Bandbreite und einer Unzahl anekdotischer politischer Beispiele aus Narrs eigenem Bürgerrechts-Engagement. An einigen Stellen führt dies leider dazu, dass die theoretische Ebene bei reinen Verweisen stehenbleibt und die Bedeutung der jeweiligen Ansätze für eine Herrschaftstheorie kaum sichtbar wird. Die schiere Breite dieses Vorgehens wird unter anderem an dem umfangreichen Kapitel zu den „Instrumenten der Herrschaft“ deutlich, das so heterogene Unterkapitel umfasst wie: Gewaltmonopol, symbolische Gewalt, Grenzen, Sprache, Steuern, Gesetze, Rekrutierung und Partizipation, Parteien, Bürokratie und Technologie. Die letzten beiden werden bei Narr stets in eins gesetzt. Eine Erklärung dafür, bleibt Narr allerdings schuldig. Auch insgesamt gilt: Etwas mehr Tiefe statt Breite hätte insbesondere diesem Kapitel gut getan.
Quasi als Urgrund der Herrschaft identifiziert Narr die gesellschaftliche Arbeitsteilung, mit der historisch immer verschiedene Wertigkeiten und Hierarchien einhergegangen seien. „Differenzierung“ bedeutet für Narr „häufig nichts anderes als eine herrschaftszugewandte Entdifferenzierung und vereinzelnde Fixierung von Unterschieden, die der Assoziation, der sozialen Vereinigung schaden“ (S. 100). So bedingen sich für ihn politische und soziale Einschließung und Ausschließung gegenseitig. Konkret gewendet: Die Schaffung eines National-Kollektivs mit seinen verschiedenen Untereinheiten hat zwangsläufig den Ausschluss der Nichtdazugehörigen und die Auflösung unkontrollierbarer (etwa: aktivistischer und politischer) Gruppen zur Folge.
Auch die Gewaltausübung, die sich durch nahezu alle menschlichen Zeugnisse ziehe, ist für Narr untrennbar mit Herrschaft verbunden. Hier stellt er insbesondere das staatliche Gewaltmonopol ins Zentrum seiner Überlegungen. Gerade dadurch, dass der Staat die Gesellschaft von ihrer Gewalt befreie, sorge er dafür, dass Gewalt überall dort präsent sei, wo er interveniert. Gewaltsamkeit werde damit zu einer notwendigen Bedingung (staatlicher) Herrschaft. Gleichwohl kommt Herrschaft freilich nie ohne Legitimation aus. Diese wiederum gründe sich auf eine allgemeine „Angst vor dem Chaos“, auf deren Grundlage dem „verunsicherten, sicherheitserpichten Bürger glauben gemacht wird, seine ‚Sicherheit‘ sei in der Sicherheit der aktuellen Herrschaft ‚aufgehoben‘“ (S. 100).
Zur zentralen Technik der Herrschaft erklärt Narr die Identifikation, die quasi das Prinzip von Herrschaft schlechthin sei. Durch sie sollen Dinge und Menschen verfügbar gemacht werden, um sie für die Unternehmen der Herrschaft einsetzen zu können, möglichst jederzeit und unbeschränkt. Der spiegelbildliche „Zwillingspartner“ der Identifikation sei dabei die Dissoziation. Nach dem alten „teile und herrsche“-Prinzip geht es dabei darum, widerständige Zusammenschlüsse (von Politgruppen bis Nachbarschaftshilfen) aufzulösen und sicherzustellen, dass nur die bestehenden Institutionen und Prozesse benutzt werden. Das Mittel der Wahl seien dabei Bürokratie und (Informations)-Technologie als zentrale Werkzeuge der Identifikation und Verwaltung der Bürgerinnen und Bürger. Beide – Identifikation und Dissoziation – verkörpern für Narr das Prinzip der Niemandsherrschaft, das von den Personen in den einzelnen „Büros“ völlig unabhängig ist. Immer wieder betont er dabei, wie sehr die bürokratische Art, Probleme zu behandeln, mit derjenigen der Informationstechnologien übereinstimme. Dabei geht er sogar so weit, das Internet als „eine Art ‚bürokratischen Extremismus‘“ zu bezeichnen (S. 184), womit er wohl über das Ziel hinausschießt.
Die Fallstricke der Herrschaftskritik
Nachdem Narr auf diese Weise den Großteil seines Buches mit der Identifikation verschiedenster Herrschaftsmechanismen verbringt, kommen im letzten Kapitel die titelgebenden „Probleme“ zur Sprache. Diese sind allerdings allein darin begründet, dass Narr postuliert, es könne gar keinen Begriff für Herrschaft geben. Dafür führt er im Wesentlichen zwei Gründe an. Erstens müsse eine solche Definition zwangsweise zur Komplizin der Herrschaft werden, da jede Definition „identifikatorisch“ sei und die Identifikation gleichzeitig das zentrale Prinzip der Herrschaft darstelle. Zweitens sei eine solche Definition gewissermaßen überheblich:
„als könnten wir das, was uns ausmacht, begrenzt, Leben und Tod bereitet, als vermöchten wir das, was unsere ‚Wirklichkeit‘ prägt, auf durchsichtige Begriffe [...] bringen. Diese erschlössen sich uns. Sie machten uns fähig, sie zu gestalten. Solche Begriffssuche, mehr noch ihr verräterischer Erfolg, verriete unsere eigene, mit einer ‚wissenschaftlichen‘ Tarnkappe versehene maßstabslose Anmaßung“ (S. 290).
Diese Argumente weisen aus herrschaftskritischer Sicht zwei schwerwiegende Probleme auf, die sich – wenig überraschend – dann auch in Narrs eigenem Text wiederfinden. Erstens stellt das Überheblichkeits-Argument eine fast schon religiöse Sakralisierung von Herrschaft dar. Herrschaft wird nun plötzlich zum obersten Prinzip erklärt, das „Leben und Tod bereitet“ und „unsere Wirklichkeit prägt“. Extremere Ausprägungen dessen, was Narr selbst zu Beginn des Buches als „Herrschaftsontologie“, also Festschreibung von Herrschaft als Naturprodukt, kritisiert, sind wohl kaum vorstellbar. Zweitens steht Narrs Kapitulation vor der Komplexität der Herrschaft in diametralem Gegensatz zu seinem aufklärerischen Selbstanspruch. Während Narr am Anfang des Buches noch argumentiert, dass Identifikation das zentrale Prinzip der Herrschaft sei und deshalb die eigenen Verstrickungen in Herrschaftsmechanismen stets mitgedacht werden müssten, dreht er diesen Anspruch am Ende geradezu um. Anstatt die Mechanismen der Herrschaft im Einzelnen offenzulegen – und so den Kaiser sprichwörtlich nackt dastehen zu lassen –, bleibt es bei einer unnötig weitläufigen Argumentation. Im Endeffekt wird an Narrs eigenen Worten am deutlichsten, dass Kritik bei aller Dekonstruktion nicht ohne begriffliches Denken auskommen kann. So erklärt er, dass „der Ausdruck ‚Niemandsherrschaft‘ uns und die Lesenden unsere Ohnmacht im Nichtwissen wahrnehmen lassen“ soll (S. 290). Was von der Begriffslosigkeit bleibt ist also vor allem die Ohnmacht der Kritik.
Nichtsdestotrotz lässt Narr es dabei nicht bewenden, sondern liefert am Ende noch einmal einen Ausblick, in dem wieder zur Emanzipation übergegangen wird. Zusammenfassend erklärt er, dass aufgrund seiner vorhergegangenen Überlegungen alle bestehenden Demokratien nur nominell demokratisch seien. „Sie sind keine selbstbestimmten Herrschaften der Bevölkerung eines Landes als politische Subjekte“ (S. 281). Strukturierende Grundlage dieser „Als-Ob-Demokratien“ (S. 281) sei vielmehr die kapitalistische Vergesellschaftung. Als positiver Bezugspunkt der Emanzipation könnten deshalb Parteien, die Produkt dieser „Als-Ob-Demokratie“ seien, nicht dienen. Einen solchen sieht Narr vielmehr in selbstorganisierten Bürgerinitiativen und „Neuen Sozialen Bewegungen“ sowie deren Praxen des zivilen Ungehorsams. Als langfristiges Mittel zur Reduktion von Herrschaft empfiehlt Narr dann, „gigantomane Größen dezentral aufzugliedern und konsequent […] mehr Demokratie in längst bürokratisierten Bereichen à la Gesundheit, Bildung, Energie u.ä.m. institutionell en detail zu wagen“ (S. 286). Nur so lasse sich die Gleichzeitigkeit von Freiheit und Gleichheit erreichen, die für Narr Voraussetzung der Emanzipation ist.
Insgesamt ist Narrs Buch, gerade als Einführung in die Thematik, äußerst lesenswert. Das ist insbesondere deshalb der Fall, weil es – wie Narr richtig feststellt – einen beklagenswerten Mangel an vergleichbaren Texten gibt, und weil das Buch, entgegen dem wissenschaftlichen Mainstream, von den lebenslangen Erfahrungen des Autors in praktisch-politischen Einmischungen profitiert. Nur bei seinen Ausflügen in metatheoretische Gefilde gerät Narr manchmal ins Schlingern. Insgesamt jedoch steht seine Kritik auf festen Beinen.
Niemands-Herrschaft. Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen.
VSA Verlag, Hamburg.
ISBN: 978-3-89965-600-8.
320 Seiten. 26,80 Euro.