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Jenseits von Leninismus und Wertkritik

Buchautor_innen
Karl Reitter
Buchtitel
Von der 68er-Bewegung zum Pyrrhussieg des Neoliberalismus
Buchuntertitel
Sozialphilosophische Aufsätze zu 1968, Fordismus, Postfordismus und zum bedingungslosen Grundeinkommen

Karl Reitters Beiträge zu einer revolutionär-marxistischen Theorie des postfordistischen Kapitalismus.

Gleich vorab: Eine objektive und distanzierte Besprechung des Bandes von Karl Reitter kann hier nicht geleistet werden. Zu viel verbindet mich mit dem Autor: zunächst, Ende der 1990er Jahre, als sein Student an der Universität Wien, dann als Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift grundrisse (die Urfassungen der meisten im Band versammelten Texte sind in den grundrissen erschienen), als Genosse und nicht zuletzt als Freund. Schlechte Vorzeichen also für eine ausgewogene Berichterstattung. Was ich dennoch versprechen kann, ist eine Annäherung an die Gedankengänge Reitters aus der Perspektive eines Weggenossen, der ihn als wichtigen marxistischen Denker schätzt, jedoch gleichzeitig einigen Aspekten seines Denkens durchaus kritisch gegenüber steht. Meine Kritik versteht sich jedoch nicht als Selbstzweck, sondern vor dem Hintergrund der Gewissheit, dass wir im Grunde für dieselbe Sache streiten: den Kommunismus.

Das Buch versammelt vier Aufsätze, deren Urversionen Reitter in den vergangenen 15 Jahren verfasst hat, die aber für die vorliegende Edition zum Teil grundlegende Überarbeitungen beziehungsweise Erweiterungen erfahren haben. Der Bogen, den der Autor dabei schlägt, wird im Titel des Sammelbandes deutlich: eben von der 1968er-Bewegung bis zur vermeintlichen Hegemonie eines neoliberalen „freien Marktes“, dessen Freiheitsbegriff im Wesentlichen auf die berühmten 1% der Herrschenden beschränkt ist. Aber auch die Überschreitung kapitalistischer wie auch staatlicher Vergesellschaftungsmodi ist eine, wenn nicht die bestimmende Thematik des Buches. Die versammelten Texte analysieren also die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft der letzten 40 Jahre und die damit verbundenen Kämpfe, politischen Konzepte, Aufbrüche, aber auch Sackgassen. Methodisch argumentiert Reitter dabei eindeutig auf marxistischem Boden. Marxistisch im Sinne der Zentralität von Klassenverhältnissen, die seinen analytischen Zugriff sowohl von der Wertkritik als auch von der sogenannten „Neuen Marx-Lektüre“ klar unterscheidet. Seine Texte sind als politisch-theoretische Interventionen zu verstehen und nicht als akademische „kritische Wissenschaft“. Andererseits trennen ihn aber auch Welten von der hermetischen Welt der marxistisch-leninistischen Dogmatik, was nicht zuletzt in der knappen, aber überaus pointierten Kritik des Leninismus im letzten Kapitel nachzulesen ist. Auch wenn Reitter die Althussersche Variante des Marxismus nicht als brauchbar einschätzt, das von Althusser geprägte geflügelte Wort vom „Klassenkampf in der Theorie“ trifft auf das Reittersche Oeuvre in jedem Fall zu.

Von der Revolte der 68er....

Der oben erwähnte thematische Bogen beginnt bei der titelgebenden 68er-Bewegung. Ursprünglich publiziert als zweiteiliger Artikel in den grundrissen, zeigt er sehr gut die Gleichzeitigkeit von Affirmation und kritischer Darstellung, die für Reitters Werk typisch ist (und die uns auch im letzten Text wieder begegnen wird, aber dazu später). Reitter ist mit Haut und Haar 68er. Die Quintessenz der sozialen Sprengkraft und langanhaltenden Wirkung dieser Bewegung beschreibt er als Gleichzeitig- und Gleichwertigkeit von politischem Aufbegehren und (sub-)kultureller Revolte. Erst wenn, in den Jahren danach, eines der beiden Elemente über das jeweils andere obsiegte, war das revolutionäre Potenzial der Bewegung verpufft. Kulturelle Avantgarde ohne revolutionär-politischen Anspruch taugte ebenso wenig für das Weitertreiben der sozialen Revolte wie die völlige Vernachlässigung der kulturellen Aspekte sowie jener der Revolutionierung des Alltags in Theorie und Praxis der K-Gruppen der 1970er Jahre.

Kritisch ist anzumerken, dass Reitter sich auf europäische Beispiele von 68 beschränkt (Frankreich, Deutschland, Italien), und so die „originär-antiimperialistische“ Seite der Aufstände dieser Zeit nur aus der westlichen Perspektive miteinbezieht. Außerdem kommt die zweite, autonome Frauenbewegung nur am Rande vor, was deren Bedeutung – und vor allem der vernachlässigten Bedeutung der Geschlechterfrage in der 68er-Bewegung selbst – nicht gerecht wird. Zu den Stärken aber gehört Reitters Einbeziehen von in vielen Analysen dieser Zeit sträflich vernachlässigten Aspekten wie Reisen oder Drogenkonsum. Die Verschmelzung von alltagskulturellen und weltpolitischen Elementen brachte jene Sprengkraft hervor, die einerseits dem „Establishment“ das Fürchten lehrte, und andererseits völlig neue Erfahrungshorizonte für die an der Bewegung Beteiligten eröffnete; dabei verschweigt Reitter keineswegs die Unterschiede der von ihm skizzierten Bewegungen, von der unterschiedlichen Beteiligung der LohnarbeiterInnen bis zur deutlich massiveren, medial gesteuerten staatlichen Repression in Deutschland im Gegensatz zu beispielsweise Frankreich. Dem Titel des Buches entsprechend, markiert die 68er-Bewegung für den Autor das Ende des fordistischen Vergesellschaftungsmodus, in dem qua Beteiligung der ArbeiterInnen am Massenkonsum standardisiert produzierter Waren (allen voran Küchengeräte, Autos, Fernseher) diese von potenziell rebellischen ArbeiterInnen zu brav konsumierenden BürgerInnen gemacht werden sollten. Nicht zuletzt deshalb richtete sich die Revolte auch gegen die „Konsumgesellschaft“ und setzte – zunächst nicht unerfolgreich – auf die Verweigerung von Konsum und Lohnarbeit.

Der zweite Beitrag ist theoretischer gelagert. Er setzt sich mit der Theorie des fast vergessenen Soziologen Alfred Sohn-Rethel auseinander, insbesondere mit dessen Denken der warenförmigen Vergesellschaftung. Reitter stellt die Kernelemente der Sohn-Rethelschen Theorie präzise dar, zeigt aber auch ihre problematische Seite, nämlich die Ableitung grundlegender Modi menschlicher Sozialität aus dem Warentausch. Mit dieser Priorisierung der Zirkulationssphäre vor jener der Produktion legt, so Reitter, Sohn-Rethel einen Grundstein jener Theorie, die als Wertkritik bekannt ist. Karl Reitter beschreibt diesen Ansatz in einem anderen, gemeinsam mit Gerhard Hanloser verfassten Buch als „Zirkulationsmarxismus“ und kritisiert ihn scharf, da er den zentralen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital zu einem Binnenproblem des Kapitalismus degradiert. Demgegenüber stellt Reitter die konstitutive Rolle des Klassenwiderspruchs für die kapitalistische Produktionsweise heraus, zeigt aber auch, wie entlang dieser Frage der Kapitalismus überwunden werden kann.

...zum Neoliberalismus

Der dritte Beitrag ist nicht zufällig der längste der Beiträge, und es ist auch kein Zufall, dass er sich in der Mitte des Bandes befindet. In „Vom Fordismus zum Postfordismus/Neoliberalismus“ theoretisiert Karl Reitter jene Transformation, in deren Zuge sich aus dem oben skizzierten fordistischen Kapitalismus jene Form der Vergesellschaftung entwickelte, der wir uns heute gegenüber sehen: Es geht um die Subjektivierung der Arbeit, um Prekarisierung und Flexibilisierung, um das Aufbrechen starrer sozialer Identitäten und die Aneignung seiner Freiheitsmomente durch den postmodernen Kapitalismus, also jenen Prozess, den Paolo Virno – ein Autor, dem auch Reitter seine Referenz erweist – als „Konterrevolution des Kapitals“ bezeichnet. Der Beitrag versammelt sowohl die Stärken als auch die Schwächen von Reitters Theorie.

Zum einen zeichnet er ein plastisches Bild vom Übergang vom Fordismus zum Postfordismus, von der normierten (Fabrik-)Gesellschaft, gegen die die 68erInnen rebellierten, hin zur neoliberalen Ich-AG als ideologischem Leitbild. Im Zentrum seiner Erklärung des Überganges steht die sinkende Profitrate. Sie zwang das Kapital zu einschneidenden Maßnahmen, da dieses Sinken nur bedingt durch Wirtschaftswachstum kompensiert werden konnte. Die Maßnahmen, zu denen das Kapital griff, sind bekannt: Dezentralisierung der Produktion, Outsourcing, Verlagerung der Produktion in sogenannte „Billiglohnländer“ bei gleichzeitiger Verlängerung der Arbeitszeiten et cetera.

Doch Reitter kann und will sich nicht entscheiden, welche Triebkräfte in diesem Prozess entscheidend sind: Die Kämpfe der ArbeiterInnen oder die Strategien des Kapitals:

„Diese Phasen können als Antwort auf Widerständigkeiten der Subjekte, aber auch als expansive und vorwärtsgewandte Strategien des Kapitals begriffen werden, sich Zugriff auf die Arbeitskraft zu sichern. Ich sehe keinen Grund, eine bestimmte Sichtweise zu favorisieren“ (S. 63).

Diesen Grund aber gibt es allemal, und implizit folgt Reitter ja auch dem epistemologischen Vorrang der Klassenkämpfe, denn genau jene waren es ja, die in den 1960er-Jahren enorme Lohnerhöhungen durchsetzten und somit die Profitabilität des Kapitals gefährdeten. Neben dem politischen Kampfinstrument der Inflation setzte das Kapital auf die von Reitter genannten Strategien. Diese waren nicht zuletzt auch deshalb erfolgreich, weil wichtige Forderungen der 68er-Bewegung aufgenommen und von den Herrschenden für ihre Zwecke in Stellung gebracht werden konnten: Autonomie, Flexibilisierung oder das Ende starrer und unveränderlicher Hierarchien in Betrieb und Gesellschaft wurden im Zuge der Konterrevolution des Kapitals von emanzipativen Forderungen in neoliberale Herrschaftsinstrumente verwandelt. Dennoch sind die Widerständigkeit und das befreiende Potenzial des ArbeiterInnenwiderstandes nicht verlustig gegangen, wie Reitters pessimistisches Fazit nahelegt. Es scheint, als ob seine Treue zur 68er-Bewegung es nachgerade verbietet, die Rekuperation (Die SituationistInnen verstanden unter Rekuperation die Aufnahme und Umwendung revolutionärer Konzepte und Ideen durch die Herrschenden, um ihre Herrschaft zu perfektionieren beziehungsweise an neue Gegebenheiten anzupassen) ihrer Forderungen und Artikulationsweisen zu denken. Dies ist insofern schade, als er sich tendenziell einen theoretischen Zugriff auf soziale Verhältnisse verbaut, die die Möglichkeit der Befreiung aus den gegenwärtig gegebenen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung herausentwickelt.

Deutlich wird dies im eher polemisch gehaltenen Exkurs zur Frage, ob das Wertgesetz gegenwärtig noch Gültigkeit beanspruchen dürfe. In einer orthodox-marxistischen Kehre verweist Reitter sämtliche Ansätze der Kritik an der Marxschen Wertlehre ins Reich der Legenden. Plötzlich werden schwere empiristische Geschütze aufgefahren; die theoretische Arbeit, die beispielsweise Toni Negri anhand des Marxschen Begriffs der Tendenz geleistet hat, um untergründige, eben nicht empirisch unmittelbar auffindbare Veränderungsprozesse aufzuspüren, wird – im Gegensatz zu einigen älteren Aufsätzen von Reitter – mit keinem Wort gewürdigt. Da ist es auch kein Wunder, dass die gegenwärtigen Debatten um Commons – und damit verbunden um Strategien gegen die Ökonomie der Enteignung – keinen wichtigen Stellenwert bei Reitter einnehmen. Zu wichtig ist ihm hier offensichtlich die Verteidigung der Marxschen Wert- und Ausbeutungstheorie. Politisch führt dies – leider – zu einer „defensistischen“ Haltung, die strategisch die gegenwärtigen Möglichkeiten der Befreiung unter- und die Notwendigkeit von Verteidigungskämpfen überbewertet. Angesichts der österreichischen Situation ist dies wiederum eine nicht restlos unbegründete Haltung … Doch die Wolken lösen sich rasch auf, wenn sich im abschließenden Text Karl Reitter seinem politischen Lieblingsthema widmet, dem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE).

Wolkenloses Grundeinkommen

Sein Beitrag dazu ist jedoch mehr als die Apologie einer Forderung: Reitter versucht, im Anschluss an Marxens „Kritik des Gothaer Programms“, dessen Eintreten für eine Ökonomie des „Stundenzettels“ zu verteidigen und mit der Idee des Grundeinkommens zu verbinden beziehungsweise zu analogisieren. Mit diesem Schachzug gelingt ihm beides: sowohl den marxistisch inspirierten KritikerInnen des BGE einen Spiegel vorzuhalten als auch jene Frage zu fokussieren, die in vielen Theoretisierungen des BGE außen vor bleibt, nämlich jene nach der Rolle der Arbeit und Arbeitsteilung in der Gesellschaft. Reitter versteht dabei das Grundeinkommen als Übergangsforderung, die im Rahmen der existierenden Rechtsnormen umgesetzt werden könnte, und dennoch grundlegend über die kapitalistische Form hinausweist, nicht zuletzt, da der Zwang zum Verkauf beziehungsweise der eigenen Arbeitskraft für die ArbeiterInnen substanziell in Frage gestellt wird.

Da dieser Zwang für Reitter im Zentrum des Kapitalverhältnisses steht, bietet seine Aufhebung auch einen brauchbaren Hebel für die Überwindung kapitalistischer Herrschaft. So erschwerend für den Lesefluss manch kritische Abschweifungen im vorigen Text waren, so wohltuend ergänzen sie hier den Argumentationsgang, wenn beispielsweise – wie oben bereits angedeutet – die Eckpunkte postkapitalistischer Ökonomie als absolut unvereinbar mit den (neo-)leninistischen Vorstellung von befreiter Arbeit dargestellt werden. Hier wie für den gesamten Band gilt: ein marxistischer Abgesang auf Leninismus und Sozialdemokratie, und dennoch – oder vielmehr gerade deshalb – ein grundlegend revolutionäres Buch.

Karl Reitter 2014:
Von der 68er-Bewegung zum Pyrrhussieg des Neoliberalismus. Sozialphilosophische Aufsätze zu 1968, Fordismus, Postfordismus und zum bedingungslosen Grundeinkommen.
Wiener Verlag für Sozialforschung, Bremen.
ISBN: 9783944690209.
124 Seiten. 19,90 Euro.
Zitathinweis: Martin Birkner: Jenseits von Leninismus und Wertkritik. Erschienen in: Marxistischer Feminismus. 34/ 2015. URL: https://kritisch-lesen.de/s/ghUNY. Abgerufen am: 03. 12. 2024 18:43.

Zum Buch
Karl Reitter 2014:
Von der 68er-Bewegung zum Pyrrhussieg des Neoliberalismus. Sozialphilosophische Aufsätze zu 1968, Fordismus, Postfordismus und zum bedingungslosen Grundeinkommen.
Wiener Verlag für Sozialforschung, Bremen.
ISBN: 9783944690209.
124 Seiten. 19,90 Euro.