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Jede Tat hat ihren Tatort

Buchautor_innen
Christoph Schulze / Ella Weber (Hg.)
Buchtitel
Kämpfe um Raumhoheit
Buchuntertitel
Rechte Gewalt, "No Go Areas" und "National befreite Zonen"

Ein kleines Büchlein, das zeigt, wie erfolgreich extrem Rechte Räume auch in den Köpfen besetzen und wie wichtig es ist, diese zurückzuerobern.

Die Begriffe „national befreite Zone“ (NBZ) oder „No Go Area“ sind fast jedem in unserem Sprach- und Bildungsraum bekannt. Beiden ist gemein, dass sie als „Angsträume“ behandelt werden. Der Begriff NBZ nimmt die Sicht der nazistischen Täter_innen, die „No Go Area“ die Außenstehender und der „Angstraum“ geht von der Betroffenenperspektive aus. Es ist eine Frage der Perspektive, wer welchen Begriff für eine Verortung von gefühlsbesetzten Räumen verwendet. Den Gemeinsamkeiten und Problematiken dieser Begriffe und ihrer Verwendung in den Medien widmet sich das in der Unrast transparent-Reihe "rechter Rand" erschienene Buch „Kämpfe um Raumhoheit. Rechte Gewalt, ‚No Go Areas‘ und ‚National befreite Zonen‘“.

Es erscheint wie der Versuch eines Brückenschlags, bei dem Christoph Schulze und Ella Weber die theoretische und die praktische Seite des Konzeptes der „national befreiten Zone“ innerhalb und außerhalb der Rechten greifen und beleuchten. Hierfür ziehen sie drei Ausarbeitungen von Thomas Bürk und Uta Döring heran. Bürk ist eher dem raumtheoretischen Ansatz zugewandt, wobei sich Döring mit den Aspekten in Praxis und Alltag beschäftigt.

Einführend sind kurze Schilderungen anonymer Personen aus der Betroffenenperspektive angeführt. Sie verdeutlichen die eindringliche und häufig nachhaltige Wirkung der zumeist „spontan ausgeführten Taten“ (S. 15). So beschreibt ein Insasse eines Flüchtlingsheims, wie die regelmäßigen Übergriffe seinen Bewegungsspielraum noch mehr einengten: „Wenn ich einkaufen will, warte ich bis sich jemand anders auf den Weg macht.“ (S. 8) Außerdem wird klar, dass nicht „nur“ der nonverbale Angriff ein Gefühl der Unsicherheit schafft, sondern die ständige Vermittlung der Ablehnung einen großen Anteil haben. „Die Angst vor körperlicher Gewalt wurde schnell überlagert von Alltagsrassismus, der überall herrscht. Das belastet mehr, als einmal auf die Fresse zu kriegen.“ (S. 9)

Die Begriffe NBZ, No Go Area und Angstraum

Der Begriff „National befreite Zone“ (NBZ) entstammt der nationalen Rhetorik und etablierte sich in den frühen 1990ern durch verschiedene Szenemagazine. Nach Uta Döring ist er, wie so vieles, aus einer „linken“ Terminologie entlehnt. Zum Beispiel „rief das trotzkistische Revolutionäre Volksheer (ERP) in Argentinien der 1970er (…) eine ‚befreite Zone‘ aus (S. 40). Die Konzeption seien schwerpunktmäßig Entlehnungen Mao Tse Tungs Revolutionstheorie und Ideen einer französischen Organisation namens „Nouvelle Résistance“ (S. 40). Eine konkrete Ausarbeitung aus deutscher Perspektive geschah um die Jahrtausendwende in der NPD-Zeitschrift Deutsche Stimme (S. 41). Letztendlich würde ein wirtschaftlich und politisch unabhängiges Territorium mit „einer stetigen und umfassenden Einflussnahme auf die Gesamtbevölkerung“ (S. 16) angestrebt. Es geht also nicht nur um ein einschüchterndes Element, extreme Rechte wollen in die „Mitte der Gesellschaft“ und gehen in die freiwillige Feuerwehr, veranstalten Kinderfeste, Konzerte, Modenschauen oder eröffnen Bibliotheken wie in Anklam. Überall dort, wo sie sich sicher genug fühlen können, nehmen sie (halb-)öffentlichen Raum ein und fangen an, das Territorium zu beanspruchen. Ihre verstärkte Präsenz im öffentlichen Raum hat natürlich Wirkung auf Menschen, die in das gängige Feindbild passen. 2000 wurde der Begriff NBZ zum „Unwort des Jahres“ und erreichte, auch außerhalb der braunen Köpfe, eine breite Öffentlichkeit.

Nachdem in den 1990ern medial aufgearbeitet wurde, dass es Gebiete in der BRD gibt, in denen Rechte eine gewisse Dominanz im öffentlichen Raum für sich beanspruchen, gelangte diese Information 1998 auch in die englische Presse (S. 46). Hier sprach man aber nicht von der NBZ sondern von „No Go Areas“. (Massen-) Medien haben einen enormen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und den politischen Diskurs selbst. Ein besonderes Beispiel hierfür sind die 2006 erklärten „No Go Areas“ in der BRD. Das bezeichnende hierbei ist, dass Medien den extrem Rechten diesmal zuvor kamen und die „Naziterritorien“ kartographisch für sie bestimmten, aufbereiteten und in die Wohnzimmer trugen.

Der Ursprung der Begriffswolke „Angstraum“ lässt sich in den feministischen Debatten der 1980er Jahre verorten (S. 27, 37). Er befasst sich dem Sicherheitsempfinden von Personen. Hierbei spielt die Beziehung zwischen Räumen und den individuellen Angsterlebnissen sowie den sozialen Interaktionen eine tragende Rolle. So sind Menschen, die Gewalterfahrungen durchleben mussten, häufig traumatisiert und können an den betreffenden Räumen eine Retraumatisierung erleben. Hier besteht die Gefahr, dass sich ein „mentaler Stadtplan“ (S. 61) in den Köpfen etabliert. Dieser wird durch Interaktion und Kommunikation über die einzelne(n) betroffene(n) Person(en) hinaus gefestigt und kann durch die mediale Aufbereitung überregionale Beachtung erlangen.

Die drei im Buch dargelegten Sichtweisen ermöglichen es den Herausgeber_innen ihr Anliegen, nämlich Räume „zurück“zugewinnen, deutlich aufzuzeigen. So schafft Bürk erst das Verständnis für die Konstitution des (sozialen) Raums, aber auch ein Bewusstsein für den Umgang mit bestimmten Begrifflichkeiten in der öffentlichen Debatte, zum Beispiel bezüglich der „Angstkartographien“ (S. 31). Oder den Umstand, dass „inflationär verwendete“ (S. 33) Begriffe nicht nur die Analyse erschweren, sondern auch die Räume der Rechten erweitern. Die Lesenden sollten deshalb einen Raum erst dekonstruieren, denn „aus sozialkonstruktivistischer Perspektive gäbe es den »Raum an sich« nicht“ (S. 23), um sich seiner Wirkung mit den verschiedenen Teilaspekten gewahr zu werden. Dies gelingt Bürk recht eingängig, wenn auch mit einem für Fachfremde gewöhnungsbedürftigen Vokabular und ohne direkte Quellennachweise.

Nachdem der Raum „an sich“ also als konstituierbar deklariert wird, erklärt Uta Döring seine Unbeständigkeit (S. 54). Es gibt keinen (halb-)öffentlichen Raum, den die extrem Rechten jemals effektiv längerfristig geduldet für sich beanspruchen konnten. Natürlich gibt es die, durch die Kommunikation bestimmter Vorfälle (oder durch die Vorfälle selbst), begünstigten Angsträume. Die Autorin schreibt sehr praxisnah und nimmt sich umfangreich der medialen Aufbereitung der Begrifflichkeiten an. Hinzu kommt, dass sie sich dem Alltag zuwendet und darlegt, wie die Betroffenen bestimmte Räume wahrnehmen, wie Dritte diese erleben und in welcher Form gewaltgeprägte Situationen auch im größeren Rahmen kommuniziert werden.

Raum (zurück-)gewinnen

Ella Weber rundet die Abhandlungen in „Kämpfe um Raumhoheit“ mit ein paar kleinen praktischen Ansätzen ab. Sie verweist darauf, dass es häufig schon hilft, das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, um sich und andere ein Stück weit von der vermeintlichen Bedrohung in bestimmten Gebieten zu befreien. Außerdem sei ein breit angelegter Widerstand gegen die Verbreitung von Naziräumen, ob es sich hierbei nun um „nationale Zentren“, bestimmte Regionen oder den öffentlichen Diskurs handelt, der beste Weg um „denen“ den „Raum zu nehmen“(S. 69). Hierbei erläutert sie, dass es wichtig sei „offen und bündnisfähig zu sein, (…) um politische Gegenkräfte zusammenzubringen“ (S. 67) und sich nicht zu isolieren und damit angreifbarer zu machen.

Fassen wir also zusammen: Räume sind nicht gleichzusetzen mit Territorien und ein aktiver Antifaschismus kann diese ebenso wieder von vermeintlichen Bedrohungsszenarien befreien. Ein bedachter Umgang mit bestimmten Termini, gerade im öffentlichen Diskurs, ist notwendig, um der extremen Rechten nicht in die Hände zu spielen. Es ist immer schwierig, bestimmte Wörter zu „verbrennen“ oder „denen“ zu überlassen. Jedoch sollte klar sein, dass der unbedachte Umgang mit einigen Worten Angsträume öffnet und dadurch eine Exklusion des Senders oder einer bestimmten Empfängergruppe impliziert. Das Buch zeigt uns ebenfalls, dass kein Raum so beständig ist, wie er scheinen mag. Wodurch sich immer die Möglichkeit eröffnet, diese Räume durch Wort und Tat aufzubrechen und ihn einer konstruktiveren Nutzungsmöglichkeit, als die von rechten Akteuren kolportierten, zur Verfügung zu stellen. Der „freie Raum“ ist der eigene Handlungshorizont und es liegt an den Menschen, die ihn bewohnen wollen, wie er wahrgenommen wird.

Christoph Schulze / Ella Weber (Hg.) 2011:
Kämpfe um Raumhoheit. Rechte Gewalt, "No Go Areas" und "National befreite Zonen".
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-109-9.
72 Seiten. 7,80 Euro.
Zitathinweis: Klaus Maria: Jede Tat hat ihren Tatort. Erschienen in: Rechte Lebenswelten. 9/ 2011. URL: https://kritisch-lesen.de/s/ngzYX. Abgerufen am: 21. 12. 2024 14:19.

Zum Buch
Christoph Schulze / Ella Weber (Hg.) 2011:
Kämpfe um Raumhoheit. Rechte Gewalt, "No Go Areas" und "National befreite Zonen".
Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-3-89771-109-9.
72 Seiten. 7,80 Euro.