Geschwindigkeit und Angst
- Buchautor_innen
- Paul Virilio
- Buchtitel
- Die Verwaltung der Angst
- Buchuntertitel
- Ein Gespräch mit Bertrand Richard
In diesem 2010 geführten Gespräch mit Bertrand Richard gibt der Urbanist, Philosoph und Kritiker der neuen Technologien Paul Virilio einen tiefen Einblick in sein Denken, das gelegentlich auch zu falschen Interpretationen geführt hat.
Fukushima taucht aufgrund des Zeitpunkts dieses Gesprächs noch nicht auf, auch wenn das Ereignis der Kernschmelze selbst ständig zwischen den Zeilen präsent scheint. Zunächst gibt Virilio, Hannah Arndt zitierend, einen Einblick in sein Verständnis des Bewegungsgesetzes, welches zusammen mit dem technischen Fortschritt das Phänomen einer Dromosphäre bildet. Dieses schneller, höher, weiter – eigentlich das Erkennungszeichen des zwanzigsten Jahrhunderts – wird heute von den Entwicklungen der Informations- und Datenverarbeitungstechnologien ständig und immer schneller vorangetrieben. Das Ergebnis seien übersteigerte Ängste - vor Pandemien, vor Börsenpanik, Essphobien, Klaustrophobie, usw. -, welche wiederum von den Regierungen orchestriert werden, um damit Politik zu machen. Hier kommt Bertrand Richard ziemlich unvermittelt auf Virilios verstorbenen Freund Jean Baudrillard und dessen Denken zum Simulacrum zu sprechen. Baudrillards modernes Simulacrum ist insbesondere eines der Simulation. Die Unterscheidung von Vorbild und Abbild, von Original und Kopie sei durch Massenmedien und einer Referenzlosigkeit von Zeichen und Bilder unmöglich geworden. Virilio gibt klar zu verstehen, dass er dessen Schlussfolgerungen nicht teilt, er jedoch weiterhin der Ansicht ist, dass der Bildschirm zu einer Form der Blindheit, ein televisuelles Glaukom (grüner Star) geworden ist. Bilder und Panik, Virilio, der Sohn eines italienischen Kommunisten und einer bretonischen Katholikin versucht dies mit dem Fernsehspiel „Bye Bye Belgium“ von 2006 zu erklären, das die Spaltung Belgiens verkündete, um Flamen und Wallonen gegeneinander aufzuwiegeln.
Sehr lobend äußert sich Virilio zu den Arbeiten der Soziologen Zygmunt Bauman und Loïc Wacquant, welche die Sicherheitsideologien aus unterschiedlichen Blickwinkeln analysieren. Nun kommt der Fragesteller direkt auf den sogenannten demografischen Faktor zu sprechen, jene malthusianischen Thesen der Überbevölkerung (Malthus war ein Mathematiker, der im 18. Jahrhundert nachzuweisen versuchte, dass die Menschheit nicht in der Lage sei die Lebensmittelproduktion an die Bevölkerungsentwicklung zu koppeln), was auch den späten Claude Lévi-Strauss beschäftigte. Tatsächlich schimmerten diese Vorstellungen auch gelegentlich in Virilios späten Arbeiten immer wieder durch, allerdings immer mit den notwendigen Vorbehalten. Hier argumentiert er mit der bisher unerfüllten Vision der Medizin, besser bestimmter Wissenschaftler, nach einer genetisch veränderten menschlichen Gattung. So ist es wohl kaum ein Zufall, dass der französische Nobelpreisträger und Arzt Alexis Carell, der für seine Versuche zu künstlichem Wachstum von Gewebe bekannt wurde, sich schnell als Rassist und Eugeniker zu erkennen gab. Malthus wiederum stand für Virilio am Beginn des statistischen Denkens, er dagegen lasse sich nicht in eine Zahl, in den numerologischen Kult einschließen. Er sei keineswegs fortschrittsfeindlich, wie ihm gelegentlich unterstellt werde, nur können wir heute den Fortschritt nicht mehr im wissenschaftlichen Experiment erproben, dies habe Oppenheimer gemeint, als er 1945 nach der Zündung der ersten Atombombe in New Mexico erklärte, man habe eine wissenschaftliche Sünde begangen. Skepsis sei also durchaus angebracht!
Bleibt im Zusammenhang mit dem Bankencrash die unvermeidliche Frage nach einer revolutionären Perspektive seiner Theorien. Er aber sei daran nicht interessiert, sondern an einer Enttarnung, wie er es nennt. Dass Banken nur verantwortungslos handeln können, wenn sie wissen, dass sie staatlich gedeckt würden, mache klar, dass es der Staat selbst ist, welcher dann eine Pleite riskiert, was an sich schon eine revolutionäre Perspektive eröffne. Bleibt dann nur die Frage, ob die Angst vor etwas neuem dann nicht doch überwiegt? Wie jene berühmte Bibliothek von Babel, die angeblich das gesamte verfügbare Wissen enthält, fügt der Autor der Philosophie die Naturwissenschaften und die neuen Technologien hinzu.
Das kleine Bändchen ist unbedingt zu empfehlen und bildet sowohl eine Einführung, als auch eine Präzisierung des Denkens von Paul Virilio.
Die Verwaltung der Angst. Ein Gespräch mit Bertrand Richard.
Passagen Verlag, Wien.
ISBN: 9783851659818.
96 Seiten. 12,90 Euro.