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Geschwenkt, aber auch gelesen?

Buchautor_innen
Anke Jaspers, Claudia Michalski, Morten Paul (Hrsg.)
Buchtitel
Ein kleines rotes Buch
Buchuntertitel
Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre
Kompakt, rot, schmutzresistent: Wie die Mao-Bibel zum revolutionären Accessoire wurde.

Wer kennt sie nicht? Die in einen roten Vinylumschlag gehüllte Textsammlung „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“ hat ihren Kultstatus rund 50 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung zwar längst eingebüßt, doch ist sie vielen noch als das Symbol eines gedeihenden Maoismus im Gedächtnis. Die Mao-Bibel versorgte den_die Leser_in mit an chinesische Sinnsprüche angelehnten Zitaten aus den Schriften Maos: „Der Kommunismus ist nicht Liebe, sondern der Hammer, mit dem wir Feinde zerschlagen“ oder „Willst du den Geschmack einer Birne kennenlernen, musst du sie verändern, das heißt sie in deinem Mund zerkauen.“ Die Zitatsammlung wurde zuerst lediglich als Schulungsbuch für die Armee gedruckt, daher stammen auch das markante Westentaschenformat und der schmutzabweisende knallrote Umschlag. Auch in der Bevölkerung weckte die Mao-Bibel reges Interesse und eine Auflage von ein paar Hundert Millionen war – entgegen der Erwartung der Parteikader - schnell erreicht. Das Buch wurde zum zentralen Symbol der Kulturrevolution, wenn es auch keinen wirklichen Zugang zu den Gedanken Mao Tse-tungs zu bieten hatte.

Vom marxistischen Klassiker zur revolutionären Litanei

In dem kürzlich im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Band „Ein kleines rotes Buch – Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre“ nähern sich die Autor_innen mit neun Beiträgen den Lese- und Gebrauchspraktiken der Mao-Bibel. Einleitend zeigen die Herausgeber_innen über die Darstellung der Editionsgeschichte der deutschen Mao-Bibel unter anderem, wie sich die Form des roten Buchs auf seinen Inhalt auswirkte. Starke Textverknappung und Entkontextualisierung beförderten eine Verfremdung sowie ein selektives Lesen der Texte. So entstanden für die Leser_innen große Spielräume in der Lektüre, die zu teils widersprüchlichen Interpretationen (aber auch zu einer diffusen Einigkeit) führten. Der oft beschworene Satz „Alle Macht kommt aus den Gewehrläufen“ etwa wurde so nie von Mao niedergeschrieben.

Insgesamt spannen sich die „Gedanken Mao Tse-tungs“ von politischer Analyse hin zu Moralsprüchen und einer Litanei der Volksbefreiung. Die Politabteilung der Kommunistischen Partei China arbeitete am Aufbau eines Mao-Kults und der Indoktrination der Volksmassen. Auch bei Parteimitgliedern habe sich, schreiben die Herausgeber_innen, mit der Zeit ein instrumentelles Verhältnis zu den Worten Maos entwickelt, in diesem Fall jedoch, um eigene Machtansprüche zu legitimieren. Schon unmittelbar nach Veröffentlichung der Worte Maos sei das Buch von einem stark variierenden Gebrauch gekennzeichnet gewesen. Das alles geschah sicherlich auch zum Leidwesen des Theoriegebäude Maos. Während in den „gelben Bänden“, den „Ausgewählten Werken“, seine vollständigen Abhandlungen und Reden nachzulesen sind, diente das kleine rote Buch Mao vor allem dem Einfordern von Loyalität bei den Volksmassen. Allzu viel war in ihm nicht mehr über die über die Länder der dritten Welt als Keimzellen der kommunistischen Revolution zu lernen.

Von der Volksarmee lernen…

Ein herausstechender Beitrag des Bands stammt von Daniel Leese, der die Geschichte der Mao-Bibel im kommunistischen China nachzeichnet. Er stellt über die Editionsgeschichte des roten Buchs spannende Verknüpfungen zu politischen Entwicklungen im Kommunismus unter Mao her. Ein Beispiel ist die von vielen Parteimitgliedern beklagte Vulgarisierung der Worte Maos. Durch die Popularisierung und massenhafte Verbreitung der Mao-Bibel erfahre die kommunistische Theorie Maos samt ihrem beanspruchten Wahrheitsgehalt eine starke Herabsetzung, da ein inflationäres Zitieren der Leitsprüche Maos Ideen falsch wiederspiegele. Innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas war das für viele Anhänger_innen Maos Grund genug, eine Gefährdung des kommunistischen Projekts zu beklagen. Ein Streit um die beste Edition entbrannte im Parteiapparat. Wie viel an täglicher Mao-Lektüre konnte man der Bevölkerung auferlegen? Und wie weit diente der von Lin Biao, Urheber des Buchprojekts und Autor des Vorwortes, initiierte Mao-Kult noch den Zielen der Partei? Es wurde sich schließlich nur für die Überarbeitung der Ursprungs-Armeeausgabe entschieden: der „große Marxist-Leninist unserer Zeit“ war nun der „größte Marxist-Leninist unserer Zeit“.

Schmuck und Gebrauchsgegenstand

Dem Herausgeber_innentrio gelingt mit ihrem Band nicht nur eine lesenswerte Kulturgeschichte der „Worte des Vorsitzenden“, sondern auch eine vielfältige Darstellung unterschiedlicher Gebräuche und Bezüge zum roten Buch. Mit zwei Beiträgen zum Berliner Regisseur Harun Farocki und seinem Kurzfilm „Die Worte des Vorsitzenden“ erhält auch die filmische Annäherung an den Mao-Kult einen Raum im Band. In einem anderen gut informierten Beitrag beleuchtet Benedikt Sepp die kulturelle Bedeutung des Buchs in der westdeutschen Student_innenbewegung: Als Objekt wies, so der Autor, die Mao-Bibel eine politische Zugehörigkeit aus. Man vergewisserte sich durch Schwenken des Buches auf Demonstrationen seines rebellischen und zugleich intellektuellen Daseins. Wenn der Inhalt nicht geteilt wurde, so erklärt zweifelsohne auch der „radical chic“ der Mao-Bibel ihr Mitführen.

Eine weitere Stärke der Anthologie ist, dass nicht vor abweichenden Textformen und somit alternativen Zugängen zum Thema zurückgeschreckt wird. Das lockert das Buch auf und sorgt nicht zuletzt auch für etwas Komik in der Lektüre. Allein ein Beitrag zu konkreten Lesepraktiken und der Rezeption in der chinesischen Bevölkerung fehlt und hätte den Band gut ergänzt. Man kennt die Fotografien mit Jugendlichen oder Rotgardist_innen, die die „Worte des Vorsitzenden“ konzentriert studieren, doch erfahren wir nur wenig über die unterschiedlichen Lektüren der Gedanken Mao Tse-tungs.

Die unterschiedlichen Gebräuche für das damals omnipräsente Buch zeigen auf, wie das rote Bändchen zwischen Politik und kultureller Identität pendelte. Als umkämpftes Symbol der Theorie Maos wurde es verehrt, aufgezwungen, geworfen und schließlich eingestampft. Fünf Jahre nach dem Tod des Vorsitzenden war China entmaoisiert und das kleine rote Buch so gut wie verschwunden.

Anke Jaspers, Claudia Michalski, Morten Paul (Hrsg.) 2018:
Ein kleines rotes Buch. Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre.
Matthes & Seitz.
ISBN: 978-3-95757-470-1.
233 Seiten. 28,00 Euro.
Zitathinweis: Thore Freitag: Geschwenkt, aber auch gelesen? Erschienen in: China. 49/ 2018. URL: https://kritisch-lesen.de/c/1503. Abgerufen am: 19. 03. 2024 09:17.

Zum Buch
Anke Jaspers, Claudia Michalski, Morten Paul (Hrsg.) 2018:
Ein kleines rotes Buch. Über die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre.
Matthes & Seitz.
ISBN: 978-3-95757-470-1.
233 Seiten. 28,00 Euro.